Wyss‘ Archiv: Die ewiggleiche Masche

Stricken, sagt man, beruhigt die Nerven. Manchmal gerät man sich dabei auch ganz schön in die Wolle.

Basler Kinder in der Ferienkolonie, eine typische «Saure-Gurke-Reportage». Doch ein Bild mit Symbolcharakter. Während bei uns im Sommer 1968 noch friedlich strickend heile Welt demonstriert wurde, lieferten sich die Jungen in Paris wilde Strassenschlachte (Bild: Kurt Wyss)

Stricken, sagt man, beruhigt die Nerven. Manchmal gerät man sich dabei auch ganz schön in die Wolle.

Hin und wieder mag es sich durchaus lohnen, sich mit etwas scheinbar Trivialem – wie zum Beispiel dem Stricken – zu beschäftigen. Denn da kann es schon mal vorkommen, dass sich das scheinbar Triviale als effektiv gar nicht so trivial entpuppt. Wie zum Beispiel das Stricken. Womit die Lehre aus diesem Text bereits gezogen wäre. Überraschend früh, wenn auch längst nicht abschliessend.

Stricken, da sind sich die Historiker mit den Handarbeitslehrerinnen einig, ist eine uralte, zwischenhinein zwar immer wieder etwas aus der Mode, niemals aber aus der Aktualität geratene Kunst. Schon um 1900 v. Chr. sollen in Kleinasien beheimatete Stämme bei ihren Wanderungen eine Art Stricksocken getragen haben. Nach erfolgreicher Weiterentwicklung in der Antike setzte sich das neue Handwerk im Hochmittelalter dann auch nördlich der Alpen unwiderstehlich durch. Es wurde den Zünften der Tuch- und Bettwarenmacher zugeteilt und bis ins 19. Jahrhundert fast ausschliesslich von Männern ausgeübt.

Dem Stricken wurde ein hoher erzieherischer Wert als Mittel gegen Müssiggang zugemessen.

Darüber hinaus ist das Stricken – das gilt wissenschaftlich als erwiesen – auch sehr gesund für Körper und Geist. Stricken senkt den Blutdruck, baut Stress ab, stärkt das Selbstvertrauen, erhöht die Kreativität und fördert logisches Denken. Und im Gegensatz zu vielen Medikamenten hat die vernünftige Beschäftigung mit den klappernden Nadeln keinerlei Nebenwirkungen. Stricken ist Training fürs Gehirn, da beide Hirnhälften beansprucht werden. Neben manueller Koordinationsfähigkeit sind gestalterische Ideen und schnelle Problemlösungen gefordert. Und zudem ist das Stricken zunehmend auch ein Ausdruck individueller Gestaltungskraft und eine persönliche Antwort auf die Flut der uns angebotenen Massenware.

Wer strickt, sündigt nicht

Vor allem im letzten Jahrhundert wurde dem Stricken wohl auch noch ein hoher erzieherischer Wert zugemessen, da es in seiner rastlosen Verknüpfung farbiger Fäden dem gemeinen Müs­siggang entgegenwirkte. Da dieser bekanntlich aller Laster Anfang ist, verhinderte die als beglückend beschriebene Produktion von Topflappen, Kissen- und Kleiderbügelbezügen sowie Wandersocken oder Ammedyysli das Aufkommen dummer Gedanken und eignete sich damit besonders für den gezielten Einsatz in Ferienlagern. Motto: Wer strickt, sündigt nicht.

Geschadet hat uns das Stricken als pädagogische Masche in aller Regel nicht. Dass wir trotzdem ab und zu auf dumme Gedanken kamen, war wohl in erster Linie unserer jugendlichen Phantasie und dem überschäumenden Betätigungsdrang zuzuschreiben. Am Stricken kann es sicher nicht gelegen haben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.07.13

Nächster Artikel