Kritik an der Musik, die nur noch ein Geschäft ist

Die Musikindustrie wird von Profitinteressen weniger Grosskonzerne bestimmt, und Hörer wie Musiker zeigen wenig Bereitschaft, dagegen eine Haltung zu entwickeln. Der langjährige Konzertveranstalter Berthold Seliger hat eine fesselnde, kritische Analyse zur Musikindustrie geschrieben.

Berthold Seliger: Vermisst die wahre Leidenschaft im Musikgeschäft. (Bild: zVg)

Die Musikindustrie wird von Profitinteressen weniger Grosskonzerne bestimmt, und Hörer wie Musiker zeigen wenig Bereitschaft, dagegen eine Haltung zu entwickeln. Der langjährige Konzertveranstalter Berthold Seliger hat eine fesselnde, kritische Analyse zur Musikindustrie geschrieben.

25 Jahre lang hat der deutsche Konzertveranstalter Berthold Seliger mit seiner Agentur gleichen Namens Tourneen organisiert, auch mit Abstecher in die Region Basel, darunter waren Acts wie Patti Smith, Lou Reed, Calexico und Lambchop. Ende 2013 schloss Seliger seine Konzertagentur. In der Abschiedserklärung begründete er: Nicht die Frage, wie viele Tickets eine Band absetzen oder – allgemeiner – wieviel Profit eine Kulturveranstaltung abwerfen kann, habe ihn all die Jahre beschäftigt. Sondern: «Die erste Frage aller Musik ist – taugt die Musik etwas? Kann diese Musik die Welt bewegen? Doch über Inhalte wird immer weniger gesprochen.»

Als Konsequenz machte Seliger den Laden dicht. Und brachte stattdessen ein Buch heraus, in dem er doch viel mehr über Umsätze und Geschäftsmodelle spricht als über kulturelle Essenzen. Allerdings nicht aus der Warte des konsultativen Analysten, sondern als erfahrener Kritiker. «Das Geschäft mit der Musik» ist keine blosse Abrechnung, dafür ist das Material zu detailreich, zu umfassend aufbereitet, aber es ist ein Buch, das keinen Zweifel daran lässt, was Menschen, die aus Liebe zur Musik in die Musikindustrie einsteigen, dort zu erwarten haben: Ernüchterung.

Konzentrationsprozesse in der Musikindustrie

Um diesen Befund zu teilen, muss man nicht zwingend Seligers Buch lesen. Dafür reicht schon ein Blick auf die stetig steigenden Konzertpreise oder die alltäglichen Radioprogramme. Doch indem Seliger die grossen Konzentrationsprozesse in der Musikindustrie, angefangen in den USA und später auch in Kontintentaleuropa, vertieft nachzeichnet, entwickelt er eine ganz grundsätzliche Kritik: am neoliberalen Wirtschaftssystem.

Besonders kundig zeigt sich der erfahrene Veranstalter in der Konzertindustrie. Entlang den Beispielen der grossen Entertainmentkonzerne der USA wie Live Nations, Clear Channel oder William Morris Endeavour beschreibt er die verschiedenen Übernahmeprozesse, die, begünstigt durch die Politik wie etwa den «Telecommunication Act» von 1996, den Medien- und Unterhaltungsmarkt komplett deregulierten – und anstatt einem freien Wettbewerb der Anbieter Oligopole schuf, wo wenige Grosskonzerne den kompletten Produktionsprozess beherrschen: die Veranstaltungsorte, die lokalen Agenturen, die wichtigen Medienkanäle, die Ticketverkaufsstellen – und natürlich die Musiker.

Die Krux mit den Tickethändlern

Seliger räumt auf mit der oft gehörten Begründung, dass der Einbruch der Plattenverkäufe für die hohen Konzertpreise verantwortlich seien. Nicht die Musiker kompensieren hiermit Defizite, wie Seliger aus eigener Erfahrung nachrechnet: Bei einem mit 1500 Besuchern ausverkauften Konzert und einem Ticketpreis von 28 Euro erhält die Band rund vier Euro pro verkaufter Karte. Dieselbe Summe geht an den Staat. Tournee- und örtliche Konzertveranstalter kommen für Logistik, Steuer, Gema und Gagen auf und tragen das Risiko, während zum Beispiel der grösste deutsche Ticket-Händler CTS Eventim bis zu zwölf Euro, also 44 Prozent auf so eine Karte im Internet-Vorverkauf draufschlägt. Ohne eigenen Aufwand, ohne Beiträge an die Produktion des Anlasses.

Beispiele solcher Oligopole, die letztlich einzig zu einer Verteuerung führen, führt Seliger in den verschiedensten Bereichen der Musikindustrie auf: in Debatten ums Urheberrecht, im Musikjournalismus («vier Medienkonzerne kontrollieren in Deutschland mehr als 60 Prozent des Zeitschriftenmarkts»), in den Verkaufsmodellen von Tonträgern.

Sklaverei statt Freiheit

Aber Seliger erweist sich, aller Empathie und Erzürnung zum Trotz, in seinem Buch auch als kühler Diagnostiker, der die genannten Entwicklungen in einem grösseren Rahmen begreifen kann. Das System triumphiert, weil seine Träger es so wollen: die Firmen, die Politik, die Konsumenten, die die Preise zahlen und die eben diese Vertreter wählen, die erst die politischen Rahmenbedingungen bilden. Und nicht zuletzt die von der «Kreativindustrie» angezogenen jungen Menschen, die sich für Hungerlöhne aufreiben. «Es geht darum, eine Arbeitswelt zu inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt (…) und die bestmöglichen Kandidaten für die bestmögliche (Selbst-)Ausbeutung zu gewinnen, und dafür Kandidaten zu finden, denen jegliches Klassenbewusstsein ausgetrieben wurde, die statt dessen die Kunst der Selbstinszenierung beherrschen.»

Adorno und Marx im Hinterkopf

Kurz: Seliger betreibt, mit Adorno und Horkheimer in der Hand, umfassende Systemkritik. Genau dagegen müsste sich die Musik, der Rock, die Subkultur auf die Hinterbeine stellen, schreibt Seliger: «Man kann Grunge als Reaktion auf die Gier des ungehemmten Kapitalismus verstehen, für den Michael Douglas in Wall Street stand.» Und erinnert daran, dass die grosse Gründerzeit des Rock als Protestform, die Sechziger Jahre, einmal Festivalveranstaltungen auch als politische Manifestation gegen herrschende Zustände begriffen hat: «In Monterey [einem kalifornischen Hippiefestival] ging es nicht um Konsum, sondern um Musik, um Kunst. Das waren Zeiten, als auch Filme eine Kunstform waren und keine Geldmaschine, als es in der Musik um etwas ging, um die Darstellung von Entfremdung, um das Erforschen und Herausbilden von Freirämen, um eine andere Gesellschaft mit einer anderen Kultur. Die meisten Festivals unserer Tage sind dagegen eine einzige Konsumveranstaltung, eine Animation zum Vergnügen. Es geht um Freizeitspass, um Fun.»

Dagegen ist an sich nicht viel zu sagen, allerdings ortet Seliger mit marxistischem Blick in der Kulturindustrie eine Zerstreuungsindustrie, die ihre «Herrschaft» ausübt, um noch mehr Profit herauszuschlagen. «Schon Adorno und Horkheimer haben sich an dem Begriff Fun gerieben. Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Diesem Stahlbad, das da Fun heisst, unterziehen sich die Konsumenten unserer Tage freiwillig.»

Die Spielstätten sollen gefördert werden

Folgerichtig wünscht sich Seliger als Alternative zum entfesselten Markt, der nur noch eine normierte, aufregungsbereinigte und nach reinem Verkaufswert zusammengezimmerte Kultur hervorzubringen vermag, den Staat. Allerdings nicht einen Verordnungssstaat, der via Fördermittel und Auszeichnungen selbst in die Kulturproduktion eingreift: «Kann sich jemand vorstellen, dass die Beatles einen Förderantrag beim britischen Kulturminister gestellt hatten, um im Hamburger Star-Club aufzutreten?» Anstatt «Nation-Branding», das Musik aufgrund der Herkunftskriterien auszeichnet (wozu auch ein Basler Pop-Preis gehört), macht sich Seliger für eine Förderung von Spielstätten, von Clubs stark – die wichtigsten Orte für die Herausbildung neuer Szenen und Genres, und gleichzeitig Orte, die am Ende der Mitbestimmungskette der Musikindustrie stehen: sie müssen nehmen, was ihnen angeboten wird, zu Bedingungen, die sie in der Regel nur abnicken können. 

Und noch eine zweite Aufgabe mutet Seliger dem Staat zu, nämlich diejenige, das Begriffspaar der Kunst und Kultur wieder zu stärken, damit in ihr – und somit auch in der Musik – wieder «Haltungen» sichtbar werden: nämlich durch Bildung. «Gegen all das hirnverkleisternde Gewäsch ist es wichtig, immer wieder beim Namen zu nennen, was wirkliche Kulturpolitik zu leisten hätte: Wenn wir uns wünschen, dass Menschen über eine möglichst grosse kulturelle Offenheit verfügen, wenn wir wollen, da. Menschen neugierig auf vielfältige kulturelle Angebote bleiben, statt den formatierten und hochmanipulativen Produkten von Formatradio und Musikindustrie auf den Leim zu gehen, dann müssen wir zu allererst in die musische Bildung der Kinder und Jugendlichen investieren.»

«Wir alle haben in der Hand, was aus unserer Kultur wird.»

Erst dann, so hofft Seliger, werde die von ihm vermisste «Haltung» wieder in die Musik zurückkehren – und ein politisches Bewusstsein zeigen, das in vorherrschende System einzugreifen vermag. Beispiele gebe es genug, sagt er mit Blick über Europa hinaus und auf Länder der südlichen Hemisphäre, in denen Musik noch ein gesellschaftspolitisches Medium ist und Musiker sich engagieren. Hiesige Kulturschaffende müssten dieses Engagement wieder erlernen, schliesst Seliger seine Empörungsschrift programmatisch: «In einer Zeit, in der das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe weltweit durch multinationale Konzerne massiv gefährdet ist, kommt es mehr denn je darauf an, Haltung zu zeigen. Die Massen, die 99 Prozent, haben nicht nur das Recht, sondern vielleicht sogar die Pflicht, sich einer Kultur der Konzerne zu widersetzen. Wir alle haben in der Hand, was aus unserer Kultur wird.»


Berthold Seliger: «Das Geschäft mit der Musik», Edition Tiamat.

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