Diese Frage versuchten die Schrifsteller Adolf Muschg und Dževad Karahasan an der BuchBasel zu beantworten. Und sie taten es in einem Sprach-Ping-Pong aus philosophischen Betrachtungen und witzigen Anekdoten.
Es bleibt nicht das einzige Mal an diesem Nachmittag, dass Adolf Muschg auffährt: «Die Schweiz ist ein verflucht geschichtsloses Land. Darum hat es diese dämlichen Mythen. Blocher stützt sich auf eine dänische Wandersage – Tell in Ehren.»
Man spürt, wie er sich mit 81 Jahren noch empören kann über gewisse Menschen in der Schweiz, die sich partout nicht als Teil Europas begreifen wollen. Doch als was begreift sich der Dichter selbst? «Ich sage das ohne jeden Stolz: Ich bin ein dichtender Mensch im europäischen Kontext», antwortet der Poet. Wie sieht das sein Gegenüber, der bosnische Schriftsteller und Eröffnungsredner der BuchBasel Dževad Karahasan?
Er antwortet mit einem bosnischen Witz: Muja fragt seinen Freund Suja, glaubst du das menschliche Wesen wächst von innen nach aussen oder von aussen nach innen? Suja denkt nach und antwortet nach einer Weile: «Ich glaube schon.» Der ganze Saal lacht.
«Ich bin ein dichtender Mensch im europäischen Kontext.»
Doch dann wird Karahasan philosophisch. Er begreift den Menschen als fliessende Form, durchlässig wie eine Membran. Daher könne man die Frage danach, was für ein Schriftsteller man sei, nicht beantworten. Es sei wie bei Heraklits Fluss: Man kann nicht zweimal in den gleichen steigen, denn schon ist anderes Wasser nachgeflossen. Wachse man nun in Europa auf, sauge man diese Kultur von Kindsbeinen an ein. Ob man wolle oder nicht.
Das mag auch der Grund sein, warum Adolf Muschg auf einer Japanreise so unaussprechlich «europäisch ums Herz» wurde als er einem Tschechen begegnete. Muschg erzählt gewitzt und hellwach, er hält mit seiner politischen Meinung wie bereits zu Beginn nicht hinterm Berg. Karahasan ist der nachdenklichere der beiden und reiht eine beeindruckende philosophische Betrachtung an die andere.
Die Antwort auf die Frage bleibt aus
Die beiden mögen zwar die etwas hochtrabende Frage «Kann die Literatur Europa retten?» nicht beantworten. Doch sie spielen sich wie im Ping Pong die Sprachbälle zu und umkreisen im Rundlauf die Frage, was Europa zu Europa macht. Karahasan hat darauf mit einer philosophischen Betrachtung der europäischen (Schrift-)Kultur in seiner Eröffnungsrede geantwortet. Muschg nimmt den Ball auf mit einer Betrachtung über die Liebe: «Der Spass in der Beziehung liegt in der Differenz.»
Wie in der Liebe sei es auch in der Kultur, das Fremde ist anziehend. Kaum jemand kennt das besser als Dževad Karahasan. Schliesslich ist er in Sarajevo aufgewachsen. Diesem «Herzen Europas», wie er sagt, wo die kulturellen Grenzen näher nicht sein könnten. Dieses «engmaschige Netz» der kulturellen Grenzen überspanne den ganzen Kontinent. «Wir haben Grenzen zwischen der Art des Fluchens, die Grenze von Wein-und Bierkultur.»
Erst durch die Begegnung mit anderen Kulturen, werde man sich seiner eigenen bewusst. Er nennt als griffiges Beispiel die Niere. Wenn sie funktioniere, nehme man sie nicht wahr. Mache sie Probleme, spüre man ihre Existenz. Darin liege eine Chance, meint Adolf Muschg. Er erzählt von seinen Reisen nach Japan. Im Gefühl der Fremdheit dort habe er mehr für den Umgang mit seinen Nachbarn in der Schweiz gelernt, als er es in Männedorf je hätte tun können.
Die Vorstellung von einem geeinten Europa
So kreist dieser Nachmittag um Europa wie die Sterne auf der Flagge der EU. Doch genau diese entspricht nicht der Vorstellung der Dichter von einem geeinten Europa. Sie begreifen es vielmehr als kulturelles Geflecht voller Widersprüchlichkeiten. Doch die zahlreichen Identitäten ergänzen sich. Das Kollektive und das Individuelle bereichern sich gegenseitig, so Kaharasan. «Wie wenn du eine Sprache sprichst, musst du diese mit jemandem teilen.» Eine Sprache könne man nie für sich alleine haben.
Es sind diese geistreichen Gedanken Karahasans und die lebhaften Anekdoten Muschgs, die die Begegnung mit zwei brillanten Köpfe so spannend machen. Das mochte auch der etwas aufdringliche Redeschwall der moderierenden Schriftstellerin Ilma Rakusa nicht stören.