Zehntausende ägyptische Gastarbeiter verlassen Libyen in diesen Tagen fluchtartig. Wie für Millionen ihrer Landsleute war ein Job im Ausland der einzige Weg, ihr Auskommen zu sichern. Ihre Überweisungen bringen Ägypten jährlich 20 Milliarden Dollar oder drei Mal mehr als der Suezkanal.
Seit die Dschihadisten des Islamischen Staates in Libyen Mitte Februar 21 koptische Christen bestialisch ermordet haben, reisst der Strom der Rückkehrer nicht ab. Sie kommen auf dem Landweg über die Grenze in Salloum oder mit dem Flugzeug über das tunesische Jerba oder sogar über Algerien. Rund 35’000 Ägypter, nicht nur Christen, haben aus Angst vor weiterer Gewalt im libyschen Chaos den Heimweg angetreten.
Wie viele im Nachbarland ausharren, ist ungewiss. Die Schätzungen reichen von 250’000 bis 750’000. Genaue Statistiken gibt es keine, weil viele ihr Glück ohne gültige Papiere versuchen und die Grenze illegal passieren.
Der nordafrikanische Ölstaat ist für Ägypter seit vielen Jahrzehnten eine beliebte Destination, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Drei Viertel arbeiten auf dem Bau und in der Landwirtschaft, andere in Restaurants und Hotels, aber auch als selbständige Unternehmer wie Bäcker und Schneider oder Besitzer kleiner Supermärkte. Vor allem für Letztere ist Libyen oft zu einer neuen Heimat geworden.
60 Prozent der Bevölkerung leben in Armut
Als im Februar 2011 die Revolte gegen Diktator Gaddhafi ausbrach, waren weit mehr als eine Million Ägypter im Land. Damals setzte die erste grosse Rückkehrerwelle ein. Immer wenn die Gewalt seither wieder aufflammte, kamen Tausende zurück. Andere liessen sich trotz Reisewarnungen nicht abschrecken. Der Strom in die Gegenrichtung ist nie ganz versiegt.
Die meisten Opfer der jüngsten IS-Brutalität stammten aus einem Dorf in der Nähe der oberägyptischen Stadt Minya. Diese Gegend gehört zu den rückständigsten Ägyptens, mit einer Armutsquote von bis zu 60 Prozent. In Oberägypten ist der Anteil jener, die im Ausland arbeiten, besonders hoch. Deshalb gibt es zum Beispiel auch direkte Flugverbindungen nach Saudi-Arabien.
Krieg und Krisen sind immer ein Risiko für die Emigranten. Noch heute kämpfen Tausende Ägypter um ihr Geld, das sie im Irak zurückgelassen hatten, als sie in den Wochen vor der amerikanischen Invasion von Bagdad im Jahr 2003 in ihre Heimat zurückkehren mussten.
Die Geldrücksendungen sind ein wichtiger stabilisierender Faktor
Ein längerer Auslandaufenthalt findet sich in der Biografie von Millionen von ägyptischen Männer, vor allem in den jüngeren Jahren. Eine Familie zu finden, in der nicht mindestens ein Mitglied irgendwo auf der Welt sein Geld verdient, ist fast unmöglich. Auf 3,55 Millionen bezifferte das Arbeitsministerium im letzten Herbst die Zahl der Arbeitsmigranten, davon 780’000 in Libyen.
Die Überweisungen der Gastarbeiter sind in den letzten Jahren immer wichtiger geworden und haben vor allem in den Krisenjahren seit der Revolution von 2011 einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung der ägyptischen Wirtschaft geleistet. Der Wunsch, den Familien zu Hause zu helfen, sei in Krisenzeiten besonders ausgeprägt, stellt Dilip Ratha, Spezialist der Weltbank für Arbeitsmigration, fest. Im Jahr 2014 betrugen die Überweisungen der Auslandägypter 20 Milliarden Dollar.
Sie stammen zu 80 Prozent aus arabischen Ländern, neben Libyen vor allem aus den Golfstaaten. Zehn Jahre zuvor waren es erst gut 3 Milliarden – eindrücklich nachvollziehen lässt sich das mit der interaktiven Grafik der TagesWoche am Artikelanfang. Damit machen diese Überweisungen heute ein Mehrfaches der Suez-Kanal-Einnahmen von jährlich 5,5 Milliarden oder der Einkünfte aus dem Tourismus von 7,5 Milliarden aus.
Trend zur Emigration hält an
Die Ersparnisse der Arbeitsmigranten fliessen zu einem guten Teil in den Kauf von Wohnungen und Land oder in kleine Betriebe, viele davon in der Schattenwirtschaft, bemerkt Sherif al-Diwany vom Ägyptischen Zentrum für ökonomische Studien in Kairo (mehr zum System der Geldrücksendungen in unserem Schwerpunkt zum Thema von 2013 – Milliarden aus der Fremde).
Die Libyenrückkehrer werden die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt mit einer Arbeitslosenrate von 12,9 Prozent weiter verschärfen. Arbeitsministerin Nahed al-Ashry versucht dennoch mit einem Sofortprogramm, den Heimkehrern Stellen zu vermitteln. Mehrere private Geschäftsleute, darunter Naguib Sawiris, haben einige Hundert Jobs angeboten.
Bisher sollen sich laut Ashry 4400 Betroffene gemeldet haben. Auswandern bleibt aber für viele junge Ägypter die einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Bevölkerungsrat hat kürzlich vermeldet, dass 2014 rund 1,6 Millionen unter 35 Jahren legal emigriert seien, der gross Teil mit dem Ziel, einen Job zu finden.