Zivilschutz und Armee sind in der Krise. Gefordert wird ein ganz neues System: ein Pflichtdienst für alle, auch für Frauen.
Dienstag, 8. Mai 2012: In der Region Basel bebt die Erde so stark wie seit über 650 Jahren nicht mehr; seit dem grossen Beben von 1356. Und auch diesmal werden unzählige Häuser zerstört, gewaltige Spalten in die Erde gerissen und ganze Strassenzüge unter den Trümmern begraben. 2200 Menschen verlieren ihr Leben, 17 000 werden verletzt, und die Retter müssen sich, nur schon um in ihre Nähe zu kommen, erst einmal mühsam einen Weg bahnen.
Es ist ein schreckliches Szenario, das der dreitägigen Stabsübung «Seismo 12» zugrunde liegt. Das federführende Baselbieter Amt für Militär und Bevölkerungsschutz wird darum auch alles aufbieten, was sich in der kurzen Zeit an Katastrophenmanagern, Krisen- und Führungsstäben aufbieten lässt, aus Baselland und Basel-Stadt, aus der restlichen Schweiz, aus dem Elsass und dem Badischen, überall werden sie herkommen.
Eine derart aufwendige Übung hat es in der Region noch nie gegeben. Aller Voraussicht nach wird es auch einige Schwierigkeiten geben, nur schon bei der Verständigung. Und dennoch steht die offizielle Bilanz schon jetzt so gut wie fest: Die Verantwortlichen werden zufrieden sein, die Truppen loben und von einem Erfolg sprechen. Das tun sie immer, selbst nach einer Pannenübung wie jener vom August 2008 im Muttenzer Auhafen. Der Einsatz sei «ein Gesamterfolg» gewesen, behauptete die Baselbieter Regierung danach. Dabei hatten die verschiedenen Rettungseinheiten im Muttenzer Auhafen gleich zwei kapitale Fehler gemacht. Zuerst versperrten sie sich gegenseitig die Zufahrt. Und als der Weg dann endlich frei war, vergassen viele, einen Schutzanzug anzuziehen. Anstatt helfen zu können, wären die Retter auf dem gemäss Szenario Sarin-verseuchten Schadenplatz wohl selber gestorben. Nicht unbedingt eine vertrauenserweckende Erkenntnis, die die Baselbieter Regierung der Bevölkerung offenbar ersparen wollte.
«Riesige Sicherheitslücken»
Deutlich angesprochen werden die Probleme nur in den internen Berichten. Und in den umfangreichen Strategiepapieren, die vom Schweizer Bevölkerungsschutz ganz allgemein handeln, was ausserhalb der Expertenkreise aber kaum jemand lesen mag. So wie die Stellungnahmen der Kantone zur Strategie des Bundesrates für den Bevölkerungsschutz. Dabei hätte es der Inhalt des Enwurfes eigentlich ziemlich in sich, wie die Reaktionen aus der Nordwestschweiz zeigen. Die Baselbieter Regierung zum Beispiel wies darauf hin, dass wichtige Ausrüstungsgegenstände «nicht mehr den heutigen Bedürfnissen entsprechen». Und die Kollegen in der Stadt sprachen sogar von einer «riesigen Sicherheitslücke», weil die Stäbe von Bund und Kantonen auf Telefon und Internet angewiesen sind, um miteinander kommunizieren zu können. Ein Kontakt, der im Falle einer Katastrophe sehr bald tot ist, wenn die Behörden nicht extrem viel Glück im Unglück haben und die Stromleitungen unversehrt bleiben.
Diese Probleme will der Bundesrat nun lösen – mit der neuen Strategie Bevölkerungsschutz und Zivilschutz 2015+, wie das Papier offiziell heisst. Das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) verspricht sich davon viel. Material, Koordination zwischen Bund und Kantonen, Kommunikation im Krisenfall – alles soll besser werden, wie VBS-Sprecherin Silvia Steidle ankündigt. Der Bundesrat wird den Bericht in den nächsten Wochen verabschieden, im Herbst oder Winter wird die neue Strategie dem Bundesparlament zur Kenntnisnahme vorgelegt.
Danach werden die Diskussionen wahrscheinlich aber erst richtig losgehen. Auch das zeigen die Stellungnahmen der Nordwestschweizer Kantone sehr deutlich. Baselland, Basel-Stadt (online nicht verfügbar), Aargau, Solothurn – sie alle bemängeln, dass die wahrscheinlich heikelste Frage rund um den Bevölkerungsschutz auch mit der neuen Strategie nicht beantwortet wird: jene nach der künftigen Ausgestaltung der Dienstpflicht. Damit werde das Feld nun weitgehend dem Feind überlassen, etwa der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), die vor Kurzem die Initiative zur Abschaffung der Wehrpflicht eingereicht hat. Im Hinblick auf die Abstimmung müsste sich der Bundesrat längst schon im Klaren sein, was er selber will, monieren die Kantonsregierungen. Mit anderen Worten heisst das: Der Bundesrat zieht konzept- und planlos in die entscheidende Schlacht um das Schweizer Heiligtum «Wehrpflicht». Ein harter Vorwurf, allen voran an die Adresse von Verteidigungsminister Ueli Maurer.
Neue Dienstmodelle sollen geprüft werden
Wegen der zögerlichen Haltung des Bundesrates wird die grosse Frage nach der Dienstpflicht frühestens im nächsten Jahr verhandelt, in einer Arbeitsgruppe mit Bundesbehörden und Kantonsvertretern. Wobei mit längeren Diskussionen zu rechnen ist. Denn eine Reihe von Kantonen wie die beiden Basel oder der Aargau werden ziemlich provokative Ideen einbringen: die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht – auch für Frauen, wie die Baselbieter Regierung in der Vernehmlassung ausdrücklich festhielt. «Es lohnt sich, mit der Zeit zu gehen und neue Modelle zu prüfen. Davon könnten nicht nur die einzelnen Dienstleistenden profitieren, sondern auch die ganze Gemeinschaft», sagt der grüne Baselbieter Sicherheitsdirektor Isaac Reber.
Gut vorstellen könnte er sich einen «Gesellschaftsdienst», der nicht nur in der Armee und im Zivilschutz, sondern auch bei anderen Institutionen wie der Feuerwehr oder im Pflegebereich absolviert werden könnte. Solange es für die Armee genügend Interessierte gebe, könnten die Dienstpflichtigen ihr Einsatzgebiet frei wählen. Dauer und Entschädigung würden in allen Dienstbereichen möglichst gleich gehandhabt. «Mit diesem System könnten wir das Problem lösen, dass es in immer mehr Bereichen schwierig wird, das nötige Personal zu finden. Das gilt vermehrt auch für sehr wichtige Aufgaben wie eben jene in der Feuerwehr», sagt Reber.
Neu ist das Konzept nicht, das der Sicherheitsdirektor vorschlägt. In den vergangenen Jahrzehnten ist immer wieder ein allgemeiner Dienst gefordert worden, mal als Zwang, mal als freiwilliges Angebot, mal von rechts, mal von links. Immer sehr ähnlich war dagegen die Begründung: Jeder kümmert sich nur noch um sich selber, den Menschen muss wieder dringend mehr Gemeinsinn beigebracht werden, sonst fällt die Gesellschaft auseinander. Erstmals prominent auf den Punkt gebracht hat das Traugott Waldvogel (Bauern- und Gewerbepartei, heute SVP). Der Schaffhauser Nationalrat beklagte sich wortreich über den «Materialismus», der die «Weltlage beherrsche» und «den Einzelnen zum Sklaven seiner Erwerbsgier macht und den Machthunger einzelner Stände und Staaten grosszieht». Sein Gegenmittel: ein freiwilliger Arbeitsdienst, in dem möglichst die gesamte Schweizer Jugend lernt, wieder «ein einig Volk von Brüdern zu werden». Das war 1920 und die Welt offenbar schon damals eine schlechte.
Bund muss Dienstpflicht für Frauen prüfen
Mit dem Materialismus ist es seither nicht unbedingt besser geworden. Dennoch ist ein allgemeiner Dienst bis heute nur eine Idee geblieben. Eine Vision. Doch das könnte sich nun ändern. Davon geht jedenfalls auch das VBS aus. Die Arbeitsgruppe werde nur schon wegen der gesetzlich verlangten Gleichberechtigung «nicht umhinkommen», auch eine Dienstpflicht für Frauen zu prüfen, wie VBS-Sprecherin Silvia Steidle sagt. Es ist ein äusserst kontroverses Thema, das hat die Vernehmlassung einmal mehr gezeigt. «Es gibt auch Kantone, die eine allgemeine Dienstpflicht rundweg ablehnen», sagt Steidle.
In der Bevölkerung scheint die Idee dagegen grosse Sympathien zu haben. Gemäss einer Umfrage des Lausanner Magazins «L’Hebdo» könnten sich 58 Prozent der Schweizer eine allgemeine Dienstpflicht gut vorstellen. Keine Ausnahme macht da der Verteidigungsminister Ueli Maurer. In einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» deutete er an, dass er sich «eine Art allgemeine Dienstpflicht» auch für Frauen vorstellen könnte – zum Beispiel in der Pflege.
Die Idee eines solchen Zivildienstes für alle scheint vernünftig, nur schon, weil die Menschen immer älter werden und der Personalmangel im Pflegebereich schon heute akut ist. Allerdings gibt es auch einen Haken: Mehr Dienstleistende bedeuten nicht unbedingt eine Entlastung, wie der Zivildienst bereits jetzt feststellen muss. Die Zahl der Zivis hat sich nach der Abschaffung der Gewissensprüfung verdreifacht, an der Effizienz des Dienstes hat sich dagegen noch immer nicht sehr viel geändert. Die Einarbeitung der Zivis braucht zu viel Zeit und manchmal auch gute Nerven. Und sobald sie die wichtigsten Handgriffe beherrschen, sind sie meistens auch schon wieder weg. Darum versucht die Vollzugsstelle für Zivildienst bereits heute, die jungen Männer zu möglichst langen Einsätzen vor allem im Gesundheits- und Sozialwesen zu ermutigen. Doch etliche lehnen ab, aus Angst, in der Ausbildung oder am Arbeitsplatz den Anschluss zu verpassen.
«Wir Frauen machen ohnehin schon mehr!»
Hinzu kommt, dass es nicht allen gegeben ist, alte Menschen zu pflegen. Wer sich heute im Zivildienst dafür entscheidet, will diese Erfahrung machen; er bringt die Motivation mit, die es für einen solch schwierigen Job auch braucht. Für Zwangseinsätze sei ein Alters- oder Pflegeheim darum der falsche Platz, warnen Organisationen wie die Heilsarmee. Weitere Kritik kommt von den Frauen. «Mit Kinderbetreuung und ehrenamtlicher Arbeit leisten wir der Gesellschaft schon heute einen sehr viel grösseren Dienst als die Männer», sagt zum Beispiel die ehemalige Basler Nationalrätin Anita Lachenmeier (Grüne): «Darum wäre es absurd, unter dem Vorwand der Gleichberechtigung auf eine allgemeine Dienstpflicht zu drängen.» Grundsätzlich hält aber auch sie einen Sozialeinsatz für eine gute Erfahrung. Darum setzte sie sich in ihrer Zeit in Bern für einen freiwilligen Zivildienst ein, den auch alle Frauen absolvieren dürfen (vgl. dazu auch die Debatte). Ein Vorschlag, der wiederum der SP-Gemeindepolitikerin und Offizierin Priska Grütter nicht passt. Sie kämpft für eine allgemeine Dienstpflicht. Und dagegen, dass Frauen hauptsächlich für Sozialeinsätze vorgesehen werden. «Auf diese Weise werden veraltete Rollenbilder gefestigt. Meines Erachtens sollten Männer und Frauen die gleiche Wahlmöglichkeit zwischen Zivildienst, Zivilschutz und Armee erhalten.»
Dieses Modell könnte den sozialen Institutionen allerdings noch erhebliche Probleme bescheren. Schon heute beklagt sich der Zivildienst in den Sommermonaten über Engpässe in gewissen Einsatzbereichen. Für die Vollzugsstelle würde eine allgemeine Dienstpflicht darum eine «sehr grosse Herausforderung» bedeuten. Gemeistert werden könne sie «höchstwahrscheinlich» nur, wenn «neue Tätigkeitsbereiche erschlossen werden», schreibt die Vollzugsstelle für Zivildienstleistende. Zurzeit prüft die Bundesstelle eine «Erschliessung» von drei neuen Tätigkeitsbereichen: Schule, Spitex und Alpwirtschaft.
Mit diesem Vorhaben dürfte auch das Konfliktpotenzial noch weiter zunehmen. Gemäss Gesetz muss der Zivildienst «arbeitsmarktneutral» sein. Das heisst: Ein Zivi darf niemandem die Stelle wegnehmen. Und er muss in einem anderen Bereich als gewöhnlich arbeiten. Das tönt einfach, ist in der Praxis aber schwierig einzulösen, wie sich immer wieder zeigt.
Zum Beispiel beim Zivildienstler, der die Reception einer Jugendherberge betreut. Ein arbeitsmarktneutraler Dienst an der Allgemeinheit? Wohl kaum. Auch nicht viel besser: Der Einsatz jenes Journalisten, der für ein halbes Jahr bei einem sozialen Projekt anheuert – und dort weiterhin journalistisch arbeitet (im gleichen Einzugsgebiet wie seine ursprüngliche Zeitung). Daneben kann es auch Probleme von ganz profaner Natur geben. So ist es den Kochhilfen aus Sri Lanka in einem Altersheim nur schwierig zu vermitteln, warum sie halb so viel verdienen wie der angestellte Zivildienstler, obwohl sie doppelt so schnell und doppelt so gut Gemüse schnippeln.
Wohin also mit den Dienstleistenden?
Wohin also mit den vielen zusätzlichen Dienstleistenden nach der Einführung einer Dienstpflicht, wenn die Zuteilungen heute schon schwierig sind und die Probleme gross? Eine drängende Frage und eine offene auch. Klar ist nur, dass es für sie auch im Zivilschutz keinen Platz hat, daran lässt der neue Präsident des Zivilschutzverbandes, FDP-Nationalrat Walter Müller, keinen Zweifel: «Wir brauchen nicht mehr Leute, sondern bessere Ausrüstung, bessere Ausbildung und mehr Führungskompetenz.»
Vielleicht wird es aber dennoch eine ganz einfache Antwort auf die Forderung nach einem allgemeinen Dienst geben: Eine Umsetzung wäre zu schwierig. Zu dieser Erkenntnis führte bis jetzt jedenfalls noch jede Dienstdebatte in der Schweiz. Seit 1920 und Traugott Waldvogels erfolglosem Kampf wider den Materialismus.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.04.12