Ausgleichszahlungen – das Knarren im Gebälk der Eidgenossenschaft (Teil 1)

Transferzahlungen zwischen den Kantonen sind älter als die moderne Schweiz. Zu reden gaben sie allerdings einst wie jetzt. Ein historischer Abriss. 

Die Linth-Ebene heute: Die Korrektur des Flusslaufs wurde 1812 aus einer gesamtschweizerischen Kasse bezahlt. (Bild: Keystone)

Zurzeit wird diskutiert, wie interkantonale Ausgleichszahlungen gestaltet werden sollen: Der Bund hat einen Vorschlag für eine Anpassung des Neuen Finanzausgleichs (NFA) in die Vernehmlassung geschickt. Etwa gleichzeitig hat er bekannt gegeben, die Wasserzinsen der Bergkantone zugunsten der mehrheitlich in den Flachlandkantonen domizilierten Elektrizitätswerke zu senken.

Zudem ist die Frage aufgeworfen worden, ob «wesentliche» Kultureinrichtungen einzelner Kantone (Stichworte: Zürcher Opernhaus, KKL Luzern) eine landesweite Unterstützung erhalten sollten. Und schliesslich gibt es demnächst zu entscheiden, ob sich die Schweiz ausserhalb ihrer Grenzen weiterhin an der innereuropäischen Entwicklungshilfe der EU beteiligen soll (Stichwort: Ostmilliarde).

Grund genug, sich wieder einmal grundsätzlich zu überlegen, was Sinn und Unsinn solcher Transferzahlungen ist. Zugleich besteht Anlass, sich zu vergegenwärtigen, wie in der Schweiz die Kultur der interkantonalen Solidarität aufgekommen ist.

Dies darum, weil in unseren Zeiten fast überall Einsparungen gefordert und bislang praktizierte Solidaritätszahlungen auch aus ideologischen Gründen infrage gestellt werden. Man wird feststellen können, wie gleich die Problematik geblieben und wie gleich und zum Teil doch anders die Argumentation geworden ist.

«Wir» – freiwillig oder auferlegt

Voraussetzung für eine gemeinsame Unterstützung einzelner Mitglieder eines Staatsverbandes ist das Bestehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das nicht zwischen sich selber und dem anderen unterscheidet und von einem «Wir» ausgeht.

Die Statuierung des «Wir» hat jedoch eine andere Qualität, ob sie individuell, freiwillig und fallweise stattfindet oder ob ein ganzes Kollektiv uns eine verpflichtende Dauerregelung auferlegt. Dazu zwei konkrete Beispiele aus der Zeit vor der Gründung des Bundesstaats von 1848.

Als die Schwyzer Gemeinde Goldau 1806 durch einen Bergsturz völlig zerstört wurde, leisteten aus den Nachbarkantonen Zug und Luzern herbeieilende Detachements uneigennützige Soforthilfe, der Rest der Schweiz reagierte mit einer landesweit koordinierten Spendensammlung. Der Bergsturz von Goldau wird heute als Geburtsstunde der zivilen Solidarität verstanden. Vorausgegangen war dem eine Tradition militärischer Solidarität unter den Eidgenossen.

«Im wohlverstandenen Interesse der Gesamheit»

Eine grundsätzlich andere Hilfe war der 1812 – ohne entsprechende rechtliche Grundlage – von der Tagsatzung (Vorläuferin des heutigen Parlaments) gefasste Beschluss, die Linth-Korrektur aus einer gesamtschweizerischen Kasse zu finanzieren. Damit sollte den regelmässig wiederkehrenden Überschwemmungen zwischen dem Walen- und oberem Zürichsee ein Ende bereitet werden. Die Sanierung dieser Region wurde als Unternehmen von gesamtschweizerischem Interesse verstanden.

An dieses Engagement knüpfte die Bundesverfassung von 1848 an, als sie mit Art. 21 grundsätzlich die Möglichkeit der Finanzierung von «öffentlichen Werken» (z.B. auch von Lawinenverbauungen) einführte.

Es verging über ein Jahrhundert, bis mit der in Etappen vorgenommenen Einführung des interkantonalen Finanzausgleichs eine völlig neue Dimension der Solidarität zwischen Regionen und Kantonen aufkam und halbwegs geregelt wurde. In seiner ersten Botschaft von 1948 erklärte der Bundesrat  «… es entspricht guter schweizerischer Tradition und dem wohlverstandenen Interesse der Gesamtheit, jenen Gliedern der Eidgenossenschaft beizustehen, die in Bedrängnis geraten sind.»

Keine Extreme, aber wesentliche Unterschiede

In seiner zweiten Botschaft von 1953 unterstrich der Bundesrat, der Finanzausgleich sei nicht nur wirtschaftlicher, sozialer und siedlungspolitischer, sondern auch ganz besonders staatspolitischer Natur. Ein ständiges Nehmen und Geben werde zwischen Gliedstaaten und Gesamtstaat und unter den Gliedstaaten wirksam sein müssen, «wenn unser Land bei den unterschiedlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten in seiner Vielfalt souveräner Kantone soll bestehen können».

In einer dritten Erklärung wurde 1957 die allgemeine Feststellung nachgereicht, dass in der Schweiz «keine so ausgesprochenen Extreme» wie in anderen Ländern bestünden und dies eine wesentliche Ursache für die innere Stärke und Geschlossenheit des Bundesstaates sei. Trotzdem – oder gerade deswegen – sei eben der Finanzausgleich wichtig.

1959 war eine vierte Erläuterung nötig, als es (nach der Zustimmung in einer Volksabstimmung vom Mai 1958 mit 54,6 Prozent) um die Konkretisierung des Verfassungsartikels durch ein Bundesgesetz ging: Da wurde festgestellt, dass die Wirtschaftsverhältnisse unter den Kantonen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch einigermassen ausgeglichen gewesen seien, sich dann aber infolge der Industrialisierung und des Wachstums der Städte nach und nach wesentliche Unterschiede herausgebildet hätten.

Zwischen Gunst und Fleiss

Im öffentlichen Diskurs konnten die Unterschiede nur mit der ungleichen Standortgunst (Qualität der Böden und der Verkehrslage) erklärt werden. Dass zum Teil auch unterschiedliche soziokulturelle Eigenheiten dieser Teilgesellschaften (Konfession, Unternehmergeist und Arbeitsethos) massgebend waren, konnte man nicht aussprechen.

In der vertraulichen Kommissionsberatung gab es sehr wohl Kommentare zur Frage, ob jenseits von Gunst und Ungunst der Umstände auch Intelligenz und Fleiss für die Finanzkraft der Kantone verantwortlich seien.

Der Freiburger Ständerat Jean Bourgknecht (ein späterer Bundesrat) betonte 1959, in den armen Kantonen würde nicht weniger gearbeitet als in den reichen, ganz im Gegenteil. Heute würde er sagen, dass die wachsende Disparität die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer mache. Damals konnte er die Quelle der Wertschöpfung noch nicht im Dienstleistungsbereich sehen. Seine Worte lauteten: «Während die einen über Fabriken im Überfluss verfügen, haben die anderen kaum welche.»

Die Gegenleistung der Nehmerkantone

Wie wurde auf der Nehmerseite begründet, dass man den Schwächeren helfen müsse? Schon damals sprach Bourgknecht davon, dass die Vitalität und Kohäsion des Föderalstaats eine gewisse Gleichheit («égalité») voraussetze. Er argumentierte aber auch ökonomisch: Selbst der Wohlstand der Starken hänge auf die Dauer vom Wohlstand der Schwachen ab – «nos économies sont solidaires».

Worin das erwähnte Geben und Nehmen gesehen wurde, zeigen andere Kommentare. Aus der Sicht der Finanzschwachen stand dem Entgegennehmen von Geldern als Gegenleistung gegenüber: der grössere Kindersegen der unterentwickelten Gebiete. Daraus ergäben sich nämlich die «die Soldaten von morgen» und die Arbeitskräfte der grossen Industriezentren. Im Alter und im Krankheitsfall würden diese Menschen nach temporärer Abwanderung wieder in ihre Heimat zurückkehren und dort zur Last fallen.

Ein weiteres Argument bestand darin, wie der Urner Ludwig Danioth und der Bündner Gion Darms (ebenfalls 1959) erklärten, dass die Nehmerkantone die Last der Alpenstrassen zu tragen hätten; diese seien für die ganze Schweiz nützlich und hätten früher aus eigenen Mitteln finanziert werden können, bevor man den Kantonen die Wegzölle zugunsten des gemeinsamen Aussenzolls weggenommen hatte.

Streit um den Verteilschlüssel

Das Prinzip des Finanzausgleichs war, wie die damaligen Parlamentsdebatten zeigen, unbestritten. Der «Teufel» lag und liegt im Detail, konkret im Verteilschlüssel. Der Bundesrat sprach von einem Balanceakt auf hohem Seil. In der Sprache, die der Agrarkultur entsprang, kam die Mahnung der Nettozahler, «das Fuder» nicht zu überladen.

Der Obwaldner Ständerat Ludwig von Moos (ebenfalls ein späterer Bundesrat) antwortete, er wisse schon, dass bei den Bezügern Bescheidenheit nötig sei beziehungsweise von ihnen erwartet werde. Stolz wollte er die Hilfe aber auch nicht als Almosen verstanden wissen. Von einem anderen Obwaldner wurde das Argument gebracht, grosse Unternehmen wären in der ganzen Schweiz aktiv, würden aber nur an ihrem Hauptsitz Steuern bezahlen – «zum Beispiel am schönen Ufer des Zürichsees».

Der Walliser Roger Bonvin (abermals ein späterer Bundesrat) machte schon damals geltend, dass die Bergkantone die industrialisierten Flachlandkantone im Gegenzug mit günstigen Wasserkraftzinsen unterstützen würden.

Der Basler Nationalrat Alfred Schaller, selber aus Uri stammend, wollte in der Zuwanderung aus den Bergkantonen nicht nur eine Bereicherung sehen. Diese würde nämlich den aufnehmenden Kantone höhere Soziallasten bescheren. Andere Votanten machten geltend, dass die Einzelnen in den Geberkantonen höher besteuert würden als in den Nehmerkantonen.

Der reiche Onkel soll auch was springen lassen.

Beide Seiten griffen auf das Bild zurück, dass die Schweiz doch eine grosse Familie sei. Die Geberseite erklärte, dass sich ein Sohn nicht als unabhängig gebärden könne, solange er von den «Moneten» des Vaters abhänge.

Auf der Nehmerseite wurde gesagt, der reiche Onkel solle nicht nur gute Ratschläge geben, sondern auch was springen lassen. Zum Familienbild gehörte der Aufruf, keine kleinlichen Verrechnungen vorzunehmen und die Dinge gleichsam im Dunst der Verbundenheit schweben zu lassen.

Das Prinzip des Finanzausgleichs (FA) ist geblieben, die Verteilschlüssel ändern sich aber immer wieder. 2004 hat das Volk dazu sogar eine Abstimmung vorgelegt erhalten und bei einer miesen Stimmbeteiligung von 37 Prozent mit gut 64 Prozent zugestimmt – zum NFA, wobei N für national steht, aber auch für Neugestaltung stehen könnte. Jetzt soll wieder modifiziert werden. Davon mehr in Teil 2.

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