Der kleine Nationalismus gegen den grossen

Der Zwist um die angestrebte Unabhängigkeit Kataloniens wird mit plakativen Bildern ausgetragen. Hintergründe und mögliche Folgen bleiben obskur. Dabei verlieren im hässlichen Konflikt der Nationalismen alle Parteien.

Da helfen auch keine Blumen: Zwischen dem spanischen Staat und den Separatisten herrschen Wut und Verachtung. (Bild: Reuters)

Über die jüngsten Auseinandersetzungen um die katalanischen Unabhängigkeitswirren sind wir in den letzten Tagen ausführlich «ins Bild» gesetzt worden, insbesondere mit zu Recht empörenden Bildern prügelnder Polizisten der Guardia Civil.

Haben wir dabei genug über die Hintergründe und die zu erwartenden Folgen des Konflikts erfahren? Warum will ein Teil der in Katalonien wohnhaften Bevölkerung die Unabhängigkeit? Es werden vor allem drei Beweggründe angegeben: 1. die als ungerecht empfundene Steuerbelastung, 2. die als ungenügend empfundene Anerkennung der katalanischen Kultur und 3. die Jahrhunderte dauernde Repression, zuletzt in der Zeit der Franco-Diktatur (1938–1975).

Vor allem die ersten beiden Argumente haben eine gewisse Berechtigung, doch es fehlt ihnen wie im Falle des dritten Arguments die grundsätzliche Qualität. Dass eine Region in der Franco-Zeit oder gar in den Jahrhunderten zuvor unterdrückt war, mag Misstrauen gegenüber dem Zentralstaat erklären, aber nicht per se rechtfertigen. Man geht zurück bis ins Jahr 1714, als am 11. September Barcelona von spanischen Truppen erobert wurde. Dieses Datum bildet seit 2012 den katalanischen Nationalfeiertag. Massgebend sind aber die Verhältnisse im demokratischen Spanien der heutigen Zeit.

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Dass eine wirtschaftlich starke Region als Nettozahlerin schwache Regionen mitfinanziert oder, wie es im abschätzigen Vokabular heisst, «durchfüttert», muss aus grundsätzlicher und schweizerischer Sicht nicht an sich skandalös sein. Hier geht es um die Frage des Ausmasses und um die Frage, wie sehr das Ausmass einfach diktiert wird oder allenfalls ausgehandelt werden kann. Hier wäre ein Einräumen von frei verfügbaren Eigenmitteln nötig.

Wirtschaftsstärke ist aber nicht einfach das Resultat von Eigenleistungen, die man nicht zu teilen braucht. Die katalanische Wirtschaftsstärke beruht zu einem grossen Teil auf dem Export in den spanischen Markt und auf spanischen Investitionen. Beides würde sich im Fall einer Sezession drastisch verändern. Schon jetzt haben Grossbanken (z. B. Caixa, Sabadell) und andere Unternehmen (z.B. Gas Natural Fenosa, Freixenet) auf die jüngsten Unruhen reagiert und sind ins spanische «Ausland» weggezogen.

Dass Katalonien eine eigene Kultur hat, muss aus gesamteuropäischer wie aus schweizerischer Perspektive ebenfalls kein Grund für die Bildung eines eigenen Staates sein. Wie in der Steuerfrage muss man von Pauschalbefunden zu Detailbefunden gelangen. Genügt es nicht, dass Katalanisch und Spanisch gleichberechtigte Sprachen sind? Muss Katalanisch eine Vorzugsstellung haben? Braucht die katalanische Kultur mehr Subventionen? Müssen Lehrpläne umgebaut werden?

Carles Puigdemont und seine Regierung agieren als populistische Kleinnationalisten.

Der Unabhängigkeitswille hat inzwischen Dimensionen angenommen, denen kaum mit konkreten Verbesserungen der regionalen Selbstbestimmung beizukommen ist. Der Gefühlsanteil ist so angewachsen, dass nur Gleichgesinnte einschätzen können, was Katalanen brauchen, was ihnen fehlt und wofür sie kämpfen müssen. Davon abweichende Urteile von Aussenstehenden werden darum schnell als anmassend eingestuft.

Der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont und seine Regierung agieren als populistische Kleinnationalisten. Dabei berufen sie sich nach bekannter Manier aufs «Volk»: 89,3 Prozent haben in der verbotenen Volksbefragung Ja gesagt, aber nur 42 Prozent der Stimmberechtigten an der Abstimmung teilgenommen.

Wenn man bei der Einschätzung der Stimmenverhältnisse davon ausgeht, dass es etwa 16 Prozent unentschiedene oder indifferente Bürger und Bürgerinnen gibt, dann haben sich ähnlich viele wie die Befürworter, also 42 Prozent oder 2,3 Millionen von 5,3 Millionen Wahlberechtigten, gegen die Abspaltung ausgesprochen und mit einer eigenen fernsehtauglichen Massendemonstration dies inzwischen auch bekundet.

Auch wenn etwas weniger wären, wie wollen die Separatisten damit umgehen? Von einer allfälligen Diskussion haben wir bisher nichts gehört: Wer war überhaupt stimmberechtigt? Wie viele zugewanderte Zentralspanier, also «unechte» Katalanen? Und wie lange muss man schon ansässig sein, um über das Schicksal eines Volkes mitbestimmen zu können?

Sind die hohen Unabhängigkeitsambitionen die Zunahme niedriger Feindseligkeiten wert?

Es gibt auch Alteingesessene, die gegen die Unabhängigkeit sind, und darum so etwas wie «Verräter» von Volksinteressen. Ein über Lena, die Leading European Newspaper Alliance, verbreiteter Bericht der katalanischen Filmemacherin Isabel Coixet zeigt, wie sehr in den jüngsten Tagen das Klima des Hasses wohl in beiden Lagern zugenommen hat («Weisse Fahnen im Niemandsland», «Tages-Anzeiger» vom 9. Okt. 2017).

Man darf sich fragen: Sind die angeblich hohen und hehren Unabhängigkeitsambitionen die Zunahme niedriger Feindseligkeiten wert, wie sie als unvermeidliche Begleiterscheinungen im katalonischen Alltag um sich gegriffen haben?

An der Gegendemo vom vergangenen Sonntag trat in Barcelona auch  Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa auf (gebürtiger Peruaner, aber seit 25 Jahren mit spanischem Pass) und warnte vor politischem Fanatismus: «Leidenschaft kann auch zerstörerisch und grausam sein, wenn sie von Fanatismus und Rassismus getrieben wird.»

Auch die Gegenseite, die Regierung des spanischen Zentralstaates, ist für die Zuspitzung des Konflikts mitverantwortlich. Nicht nur, aber auch mit dem unverhältnismässigen Polizeieinsatz. Zudem könnte sie den Gegensatz weiter verschärfen, indem sie mit Notrecht (Art. 155) Katalonien den Autonomiestatus entzieht.

Im hässlichen Konflikt zwischen zwei Nationalismen verlieren alle Parteien – Katalonien, Spanien, die EU.

Der wenig beliebte und auf schwachen Füssen stehende Ministerpräsident Mariano Rajoy könnte versucht sein, sich mit dem Ausspielen der nationalistischen Karte an der Macht zu halten. Allerdings könnte er gerade deswegen seine Verbündeten verlieren. Spanien hätte einen anderen Regierungschef nötig. Rajoy hat schon früher in der Regionalfrage eine ausgesprochen nationalistische Haltung eingenommen und mit der Anrufung des Verfassungsgerichts das vorher angenommene Autonomiestatut torpediert.

Gemäss Gerichtsentscheid von 2010 durfte in der Präambel des Autonomietstatuts von 2006 für Katalonien nicht «Nation» stehen. Die spanische Verfassung gestattet bloss den Begriff «Nationalität». Dies war rechtlich völlig bedeutungslos, auf der symbolischen Ebene aber ein Signal, das der kleinnationalen Unabhängigkeitsbewegung weiteren Auftrieb verschaffte und die Entwicklung in die aktuelle Krise begünstigte.

Der Vorwurf der unterschiedlichen Ellen

Nach der Überwindung der Franco-Zeit wurde 1978 eine Verfassung im Geiste der Versöhnung und der Kompromissbereitschaft verabschiedet. Manche Regelungen waren zwar noch approximativ, auch die regionalen Rechte, hätten aber im Lauf der Jahre weiterentwickelt werden können – und sollen. Von den damaligen Verhältnissen ist das Land leider weit entfernt.

Heute herrscht ein hässlicher Konflikt zwischen zwei Nationalismen, dem grossen und dem kleinen Nationalismus. Ein Konflikt, in dem alle Parteien verlieren – Katalonien, Spanien, die EU. In Spanien wird hüben wie drüben das gesellschaftliche Klima vergiftet und es wachsen auf beiden Seiten Wut und Verachtung.

In der EU fühlen sich andere regionale Nationalisten (z. B. die Lega Nord) bestärkt. Verächter der Rechtsstaatlichkeit (etwa in Polen) nehmen sich heraus, der EU vorzuwerfen, dass sie mit unterschiedlichen Ellen messe, wenn sie gegen Polen Sanktionen einleite, gegen Spanien hingegen nichts unternehme.

Die Aufnahme eines Neumitglieds in die EU würde Einstimmigkeit erfordern, also auch Spaniens Zustimmung.

Die EU hat denn auch, wie zu erwarten war, in ihrer Stellungnahme erklärt, dass Gewalt kein Instrument der Politik sei, dass «sämtliche Akteure» (also auch Rajoy) gesprächsbereit sein müssten, dass sie den Konflikt aber als interne Angelegenheit verstehe. Das war zu erwarten und richtig. Wie es auch richtig ist, den Separatisten mit der nötigen Deutlichkeit zu sagen, dass sie als separate Einheit nie Mitglied der EU werden können. Die Aufnahme eines Neumitglieds würde Einstimmigkeit erfordern, also auch Spaniens Zustimmung.

In der Schweiz erinnern wir uns gerne, wie gut «wir» mit einem scheinbar analogen Konflikt doch umgegangen seien: «Wir» hätten die Jurassier in den 1970er-Jahren demokratisch über ihre Zugehörigkeit entscheiden und einen eigenen Kanton bilden lassen.

Abgesehen davon, dass diese Bereitschaft auch nicht von Anfang gegeben war und von der Gegenseite erkämpft werden musste, galt sie einer innerstaatlichen Lösung. Wäre eine nationale Abspaltung angestrebt worden, wäre sicher keine schweizerische Mehrheit zustande gekommen.

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