Frau Bundesrätin, Sie haben über Heimat gesprochen. Und Sie haben betont, Offenheit und Freundlichkeit seien nicht selbstverständlich. Sind das besonders drängende Themen oder anders gefragt: Es ist wohl kein Zufall, dass Sie diese Themen im Jahr 2018 für Ihre 1.-August-Rede wählten?
Nein, das ist kein Zufall. Es hat immer wieder Zeiten gegeben, in denen Menschen mehr herausgefordert waren, eine Vorstellung davon zu haben, was es bedeutet, heimatlos zu werden. Dass man dieses Einfühlungsvermögen hat – und sich dazu noch überlegt: Was ist mein Beitrag, um die Situation von diesen Menschen zu verbessern – darum hat man immer ringen müssen. Das ist nie selbstverständlich.
Aber im Moment sind diese Werte besonders bedroht?
Es gibt einige Staaten, bei denen das Bemühen um den Frieden diesbezüglich nachgelassen hat. Das erschwert die Situation. Ich habe kürzlich in Innsbruck mit den Innenministern der EU gesprochen. Europa verändert sich, zum Glück nicht überall, aber es verändert sich. Deshalb müssen wir für unsere Werte einstehen.
Sie sprachen in Ihrer Rede von einem Wettbewerb, der rund um unser Land eingesetzt habe, bei dem es darum gehe, wer sich noch abweisender über Flüchtlinge äussern könne. Aber solche Töne gibt es doch auch in der Schweiz verstärkt?
Das gibt es in allen Staaten. Aber was ich feststelle ist, dass sich in Europa mehr Länder und Regierungen in diese Richtung bewegen. Da hat sich Europa – ich bin jetzt seit bald siebeneinhalb Jahren Migrationsministerin, eine der Amtsältesten auf dem Kontinent – sehr verändert. Statt dass man aus der Flüchtlingskrise Lehren ziehen würde, hat sich der Ton eher noch verschärft. Nicht in allen Staaten, aber mehrheitlich schon. Und das macht mir Sorgen.
«Solidarität ist nie gratis, Solidarität ist etwas, um das man sich immer bemühen muss.»
Kann die Schweiz dagegen etwas tun?
Die Schweiz hat sich erstens stets sehr bemüht, auch innerhalb unseres Landes eine glaubwürdige Asylpolitik zu haben. Das war immer mein Ziel. Auch dass die Menschen verstehen, dass all jene, die schutzbedürftig sind, bleiben können, aber diejenigen, die es nicht sind, unser Land wieder verlassen müssen. Die Schweiz hat sich auch innerhalb von Europa gerade in der Flüchtlingskrise solidarisch gezeigt. Wir haben einen Teil der Asylsuchenden aus Italien und Griechenland freiwillig aufgenommen. Doch Solidarität ist nie gratis, Solidarität ist etwas, um das man sich immer bemühen muss. Und das ist in Europa derzeit eine Herausforderung.
Sie haben ja auch im Bundesrat einige Entwicklungen miterleben dürfen in den vergangenen siebeneinhalb Jahren. Ist da nicht auch eine Verschärfung zu spüren? Immerhin wurde Bundesrat Ignazio Cassis vom «Corriere della Sera» als Salvini der Schweiz bezeichnet. Man hat das Gefühl, das Gremium war auch schon harmonischer…
Der Bundesrat hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder für Solidarität ausgesprochen. Indem er zum Beispiel syrische Flüchtlinge unterstützte, auch in den Nachbarstaaten von Syrien. Oder wenn wir besonders verletzliche Flüchtlinge aufgenommen haben. Aber es ist im Bundesrat auch immer wieder ein Ringen. Wir sind eine Regierung mit unterschiedlichen Meinungen. Wichtig ist, dass die Bevölkerung unsere Asylpolitik versteht und mitträgt. Wir hatten 2016, ein Jahr nach der Flüchtlingskrise, eine Abstimmung über das Asylgesetz, bei der fast 70 Prozent der Stimmenden Ja gesagt haben zu einer grossen Reform, um die Asylverfahren zu beschleunigen. Ich denke, wir haben eine grosse Stabilität in unserem Land. Eine Stabilität, die es erlaubt, auch in der Flüchtlingsfrage immer wieder zusammen Lösungen zu finden.
Das heisst, Sie sind optimistisch, dass der Diskurs in der Schweiz nicht dahin abdriftet, wo einige europäische Staaten sich hinbewegen?
Ich denke, wir haben in der Schweiz eine gute Basis. Auch, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben und weil wir auch viel tun für eine gute Integration und für den Zusammenhalt in unserem Land. In der Schweiz gelingt es uns immer wieder, gemeinsam Lösungen zu suchen, auch gemeinsam mit den Kantonen und Gemeinden – Muttenz ist ein gutes Beispiel. Man muss sich auch immer wieder die Fakten vor Augen halten. Das ist wichtig. Ich habe es in der Rede gesagt: 85 Prozent aller Flüchtlinge auf der Welt leben in den ärmsten Ländern, nicht in Europa.
Wenn Sie Muttenz erwähnen, sprechen Sie das Bundesasylzentrum an.
Ja. Mit dem Kanton, mit der Gemeinde hat man gemeinsam eine Lösung gefunden, die auch Rückhalt in der Bevölkerung hat. Für eine solch gute Zusammenarbeit werde ich mich weiterhin im Alltag einsetzen.
Vor ihrer 1.-August-Ansprache traf sich Simonetta Sommaruga mit einer Delegation der SP Baselland. Gemeinsam besuchten sie den Neubau der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz, der just an diesem Tag von der Bauherrin an den Kanton und an die FHNW übergeben worden war.
Zu reden gab nicht nur Bundesrätin Simonetta Sommarugas Rede selbst, sondern auch der umstrittene Einsatz der Baselbieter Polizei an der Bundesfeier in Muttenz.