Die Zukunft kommt bald: 15’000 Kilometer Auto fahren mit Bioethanol aus vier bis fünf Tonnen Stroh, daran tüftelt die Firma Clariant aus Muttenz. Schon einen Schritt weiter sind Forscher aus Lausanne mit einem synthetischen Treibstoff.
«Es sieht fantastisch aus», freut sich Jeremy Luterbacher. Er meint eine Flüssigkeit mit der Farbe von Blutorangen, die in einem Reagenzglas in seinem Labor rotiert. Der Stoff, der den Chemieingenieur der Ecole polytechnique fédérale in Lausanne so begeistert, heisst Lignin. Er ist ein zentraler Bestandteil vieler pflanzlicher Zellen und unverzichtbar für deren Stabilität und Festigkeit.
Anders als andere Biomasse wie etwa Pflanzenöle oder Zucker, die als Basis von chemischen Produkten wie Biokraftstoffen dienen, wird Lignin trotz seiner hohen Energiedichte in der Industrie bisher nur als billiges Brennmaterial genutzt. Der Grund: Der Stoff ist äussert komplex.
Luterbacher will das ändern. «Wir haben einen Prozess entwickelt, der es uns erlaubt, Lignin im Industriemassstab herzustellen», sagt der Leiter des Labors für katalytische und nachhaltige Prozesse. Die rötliche Flüssigkeit ist der Beweis. Normalerweise ist Lignin mit anderen Partikeln verwoben, dunkelbraun und von klebriger Konsistenz. Nun suchen die Forscher aus der Romandie nach Investoren, um daraus beispielsweise Biokraftstoffe herzustellen.
Gegenüber den in Europa dafür bisher dominierenden Rohstoffen wie Rapsöl, Zuckerrüben und Mais hätte das für den Menschen ungeniessbare Pflanzensubstrat viele Vorteile: «Lignin ist die grösste Quelle nicht-essbarer Biomasse auf der Erde. Die potenzielle Ressourcenbasis ist damit enorm und deutlich höher als bei Ölen und Zuckern.»
Dazu kommt, dass es keine Konkurrenz zu Lebens- und Futtermitteln darstellt. Es muss auch nicht importiert werden wie die Biodieselrohstoffe Soja- oder Palmöl, von denen Letzteres zudem für die Zerstörung von Regenwald in Südostasien mitverantwortlich ist. Mit Lignin gebe es «keine Teller-Tank-Diskussion», so Luterbacher, und kein Regenwald würde durch den Auspuff in die Luft geblasen.
Ein Zeitalter der neuer Biotreibstoffe
Die Innovation aus Lausanne könnte zur rechten Zeit kommen. Denn Europa läutet das Zeitalter neuer Biotreibstoffe ein. So hat die Europäische Kommission nach jahrelangen Diskussionen vor wenigen Wochen ihre neue Direktive für Erneuerbare Energien vorgestellt, mit der die Gemeinschaft von ihrer bisherigen Biospritpolitik abrückt. Demnach soll die Beimischung von Kraftstoffen, die auf Futter- und Lebensmitteln wie Raps und Rüben basieren, bis 2030 auslaufen. Stattdessen sollen Biokraftstoffe der nächsten Generation übernehmen. Dabei geht es vor allem um Sprit aus Stroh und Holzresten.
Brüssel will, dass 2020 solche Biokraftstoffe an allen für Transporte auf Strasse und Schiene verbrauchten flüssigen und gasförmigen Energieträgern mindestens einen Beitrag von 0,5 Prozent leisten. Gemessen an dem, was die EU 2014 allein an Benzin und Diesel verbrauchte, wären das rund zwei Millionen Tonnen. Bis 2030 soll der Anteil solcher Qualitäten laut EU-Fahrplan auf 3,6 Prozent ansteigen – ein Volumen von mehr als zwölf Millionen Tonnen. Heute liegt die Produktion noch nahe null.
Anders als in der EU werden in der Schweiz schon lange keine Lebens- und Futtermittel mehr verfahren. Der Hauptgrund: Solche Produkte sind nur in Ausnahmefällen von der Mineralölsteuer befreit – dem zentralen wirtschaftlichen Anreiz für die Mineralölindustrie zur Beimischung von Bioqualitäten. Dagegen entfällt auf Reststoffe wie etwa Altfette aus der Gastronomie keine Mineralölsteuer.
80 Prozent weniger Treibhausgase
Die Mineralölindustrie greift zudem zu Biokraftstoffen, um ihren Verpflichtungen gemäss dem nationalen CO2-Gesetz nachzukommen. Das verlangt von der Branche, dass die von ihr in der Schweiz in Verkehr gebrachten Kraftstoffe in den nächsten Jahren immer weniger Treibhausgase freisetzen. Das könnte die Branche zwar grundsätzlich auch anderweitig zu erreichen versuchen. Doch die Biokraftstoffe sind dazu offenbar die beste und billigste Methode. Biodiesel etwa aus Pommes-frites-Fett ist relativ günstig und spart im Vergleich zur fossilen Konkurrenz bei der Verbrennung im Motor mehr als 80 Prozent an Treibhausgasen ein.
2015 lag der Anteil von Biodiesel am gesamten Dieselabsatz der Schweiz nach Auskunft der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) bei 1,4 Prozent, der von Bioethanol am Benzin bei 0,8 Prozent. «2016 werden die abgesetzten Mengen an biogenen Treibstoffen stark ansteigen», sagt EZV-Sprecher Walter Pavel.
Der Verband der Schweizer Biotreibstoffindustrie rechnet mit 2,5 Prozent beim Diesel und 1,2 Prozent beim Benzin. Offizielle Zahlen sollen im Februar vorliegen. 2017 könnten sich die Mengen vor dem Hintergrund steigender Verpflichtungen noch einmal verdoppeln, schätzt der Verband aus Rünenberg BL. Der Grund: Auch die Verpflichtungen laut CO2-Gesetz werden strenger. 2017 muss der Ausstoss um fünf Prozent reduziert werden, 2020 um zehn Prozent.
Wertvolle Zucker im Stroh
Mit Altfetten alleine wird das kaum zu schaffen sein. «Die aktuelle Situation zeigt, dass aufgrund von wirtschaftlichen Überlegungen – auch im Zusammenhang mit der Verpflichtung der Reduktion von CO2-Emissionen – das Interesse an alternativen biogenen Treibstoffen zugenommen hat», so EZV-Sprecher Pavel, der auf ein Projekt des Berner Energieversorgers BKW und der Swiss Liquid Future AG aus Meggen LU verweist. Die Partner wollen in der Schweiz sogenannte Power-to-Liquid-Anlagen installieren, die mithilfe von regenerativem Strom und Kohlendioxid den Kraftstoff Methanol herstellen, der Benzin beigemischt werden kann.
Die Clariant AG aus Muttenz im Kanton Basel-Landschaft setzt auf synthetische Kraftstoffe. Das Spezialchemie-Unternehmen tüftelt seit einigen Jahren an einem Verfahren, um Sprit aus Stroh zu erzeugen. Seit 2012 läuft eine Pilotanlage dafür im bayrischen Straubing. Dort setzt die Firma Weizenstroh ein, ein in Deutschland wie in der Schweiz – speziell im Spätsommer weithin sichtbar – üppig verfügbarer Reststoff. Es wird in Ballen angeliefert und zerkleinert, bevor es in die Reaktoren kommt.
In dieser Testanlage in Bayern produziert Clariant Treibstoff aus Stroh. (Bild: Clariant)
Das Stroh enthält Zellulose, die sich wiederum aus verschiedenen Zuckern aufbaut. Die sind entscheidend, um Ethanol zu gewinnen, ein Alkohol, der Benzin in vielen Staaten der Welt seit Jahren aus ökologischen Gründen beigegeben wird. Doch anders als der dafür bisher verwendete Zucker aus Nahrungs- und Futtermitteln wie der Zuckerrübe oder dem Mais sind die Bausteine im Stroh nicht einfach zu erschliessen. Firmen und Hochschulen mussten deshalb in den letzten Jahren Millionen in die Forschung investieren.
Clariant hat es nach eigenen Angaben geschafft, die Zucker mit speziell entwickelten Enzymen aufzuspalten, um daraus wirtschaftlich Ethanol zu gewinnen. «Der nächste Schritt ist der Einstieg in die industrielle Fertigung – unter stabilen Rahmenbedingungen sollten die nötigen Investitionen nicht lange auf sich warten lassen», gibt sich Markus Rarbach zuversichtlich, Leiter Biokraftstoffe und Derivate bei Clariant.
Zwei Milliarden Franken Marktvolumen
Das Potenzial ist weltweit enorm. Nicht nur, dass quasi auf allen Kontinenten adäquate Agrarreststoffe anfallen. In Asien ist das etwa Reisstroh, in Lateinamerika sind es die Ernteabfälle von Zuckerrohr und in den USA die von Mais. Auch die Volumina sind erheblich. So bleiben auf den Äckern Europas Jahr für Jahr Millionen von Tonnen an Stroh übrig, die nicht weiter verwertet werden. Daraus liesse sich jede Menge Sprit machen, wie Clariant vorrechnet.
Je Tonne Bioethanol würden vier bis fünf Tonnen Stroh benötigt. Mit diesem Volumen im Tank könne ein Fahrzeug rund 15’000 Kilometer zurücklegen, so die Muttenzer. Und das bei einer erheblich besseren Treibhausgasbilanz. Laut EU-Kommission emittiert Bioethanol auf Strohbasis im Vergleich zu fossilem Benzin 90 Prozent weniger Treibhausgase. Das ist auch deutlich besser als Rapsöl-Diesel, dessen Einsparpotenzial nur bei 40 bis 50 Prozent liege.
Noch sind die neuen synthetischen Kraftstoffe Zukunftsmusik. Doch das dürfte sich sowohl in der Schweiz als auch in der EU auf absehbare Zeit ändern. Clariant prognostiziert bis zum Jahr 2020 ein Marktvolumen für die neuen Qualitäten von rund zwei Milliarden Franken.
Dass durch solche Perspektiven Interesse gerade auch in der Schweiz geweckt werden könnte, hofft Wissenschaftler Jeremy Luterbacher aus Lausanne. «Grundsätzlich ist es nicht einfach, Investoren für solche neuen Technologien zu finden», sagt er. «Aber gerade die Schweizer waren immer standhafte Unterstützer, wenn es um saubere Energien ging.»