Punks kümmern sich um Obdachlose, Künstler organisieren sich politisch – Myanmars Jugend will nicht warten, bis die Regierung die Dinge zum Besseren wendet, sondern baut selber an der Zukunft des Landes.
Wer heute als Kulturinteressierter nach Myanmar reist, will sein Auge an den unzähligen Pagoden weiden. Man freut sich über die ursprüngliche Gesellschaft, wo Männer die Longhi genannten Wickelröcke tragen und Frauen ihre Gesichter mit der Rinden-Paste Thanaka schminken.
Die junge Generation will aber nicht in einem Museum leben. Sie hofft, dass Myanmar vom rückständigen Armenhaus Asiens wieder wie einst zur wirtschaftlich führenden und kulturell fortschrittlichsten Nation der Region wird.
Der moderne Wechsel begann schon vor der neuen Regierungsbildung von Friedensnobelpreisträgerin Aung Sang Su Kyi Anfang 2016. Und der Wandel läuft rasant. Nach 50 Jahren Abschottung und Unterdrückung durch die Militärjunta brachen mit der demokratischen Öffnung gärende Konflikte zwischen den 135 Ethnien aus, nationalistische Buddhisten hetzen gegen Muslime – und der Kapitalismus kapert das religiös geprägte Land der Tempel und Pagoden.
Gab es vor drei Jahren keinen einzigen Geldautomaten in Myanmar, leuchtet heute sogar einer im Glanz der 105 Meter hohen Goldstupa der Shwedagon Pagode, dem spirituellen Zentrum des Landes in Yangon. Auch die grösste Stadt Myanmars selbst erlebte einen Zeitsprung. Bis vor Kurzem waren ein paar Tische mit öffentlichen Telefonen die einzige Kommunikations-Möglichkeit. Heute wuseln die Menschen mit Smartphones durch Yangons Strassen.
Geld übertrumpft Glaube: Bisher war die Shwedagon Pagode das religiöse Zentrum des Landes und zudem auch das höchste Gebäude Yangons. Heute wuchern neue Geschäftshäuser höher in den Himmel. (Bild: Ruben Hollinger)
Das Zentrum der Sechsmillionen-Metropole mutiert seit der Öffnung zur Grossbaustelle. Die alten Kolonialhäuser mit Flechten- und Schimmel-Patina machen geschichts- und gesichtslosen Geschäftsbauten mit Glasfassaden Platz. Die Gentrifizierung grassiert. Die Mieten haben sich bereits versechsfacht und die alte Politgarde verscherbelte vor den Wahlen dieses Frühjahr noch das letzte Staatseigentum. Sogar die historische Polizeiwache nahe der Sule Pagoda im Herzen Yangons wurde an chinesische Investoren verkauft.
Punks auf sozialer Mission
Ganz in der Nähe, wo die Sula Pagoda Road die Anawratha Strasse kreuzt, füllt sich die Gegend abends mit unzähligen Garküchen und Pop-up-Ständen, die auf Gehsteig und Strasse ihre Ware feilbieten. Das Nachtmarktgewimmel lockt auch viele Touristen an. Jeden Montag um sechs Uhr treffen sich hier auch die Strassenpunks.
Min Zaw Win (Bildmitte) kocht nicht nur jeden Montag, sondern kauft mit Spendengeldern auch Bananen für die sozial Schwächsten im Geschäftsviertel von Yangon. (Bild: ruben hollinger)
Das bunte Dutzend Punks ist aber nicht zum Schnorren hier. Bepackt mit Wasser, Bananen und Lunchpaketen kümmern sie sich um die Obdachlosen im Zentrum Yangons. «Wir sorgen uns um jene Menschen, die von der Regierung vergessen werden», so Min Zaw Win. Seit zwei Jahren lässt er kaum eine Runde aus, kocht jeden Montag Lunchpakete mit Reis. Er weiss, wo hier im Wirtschaftszentrum des Landes die Ärmsten sitzen. «Die Regierung interessiert sich nur für die Geldmaschinen in den Gebäuden. Wir kümmern uns um die Armen in den Gassen dazwischen.»
Min Zaw Win verteilt nicht nur Essen. Er rückt die Bedürfnisse der Randständigen in den Mittelpunkt. Er bittet um Tipps, um das Rezept nächste Woche verbessern zu können oder fragt, was die Menschen sonst noch brauchen. Einem jungen Paar vor dem Hauptbahnhof konnte das Kollektiv so die Geburt des ersten Kindes im Spital finanzieren. Ein Jahr später lebt die Familie auf demselben Stück Karton. Trotzdem ist die Freude über das Treffen gegenseitig. Die Punks herzen das Baby und Min Zaw Win sagt beim Weitergehen ohne Resignation: «Wir haben nicht die Möglichkeit, alle Leben zu verändern. Immerhin können wir punktuell helfen. Das Kind ist jedenfalls gesund.»
Gut zwei Stunden dauert die Essensverteilung. Bei allem Ernst der Mission: Die Lust am Albern ist den Punks nicht zu nehmen. (Bild: Ruben Hollinger)
Eine Ecke weiter amüsiert sich eine Gruppe Strassenkinder hysterisch über die Stachelfrisuren der Punks. Min Zaw Win mag nicht in das Gelächter einstimmen. Erstmals wirkt er angesichts des Elends niedergeschlagen. «Die schnüffeln Leim. Das billigste Mittel, um Kummer und Hunger zu vergessen. Leider ist ihr Hirn kaputt, bevor sie gelernt haben, es zu benutzen.»
Das Schicksal der Kinder nimmt nicht nur den Vater einer einjährigen Tochter mit. Viele der Punks haben Kinder. Sie sparen parallel zu den Montagsaktionen Geld, um einmal im Monat ausserhalb Yangons in Waisenhäusern zu kochen und mit den Kindern zu musizieren.
Dann ist auch Kyaw Kyaw am Start, der mit seiner Band The Rebel Riots vor drei Jahren die Essensrunde initiierte: «Früher hab ich fünf Bier getrunken, heute nur noch drei – das restliche Geld investiere ich in Essen für Andere.» Auslöser für sein soziales Engagement war eine kleine Tour in der indonesischen Punkszene. «Dort haben wir gesehen, dass zur Punkkultur auch Kreativität und Engagement gehören.» Schlagzeuger Zarni betreibt nun ein Tattoo-Studio, Bassist Oaker produziert Nietenjacken und Kyaw Kyaw druckt T-Shirts. Seinen Stand in der Innenstadt musste er schliessen, da nun auch dort eine Grossbaustelle steht. Doch kommen über Telefon und Internet zeitweise so viele Bestellungen, dass er andere Punks als Ausläufer beschäftigen kann.
Zum Punk gehört nicht nur Parolen brüllen: The-Rebel-Riots-Frontmann Kyaw Kyaw initiierte die Essensverteilung und verdient seinen Lebensunterhalt mit Siebdruck. Der traditionelle Longhi ist nur Arbeitskleidung, sonst trägt er lieber Jeans und Nieten. (Bild: Ruben Hollinger)
Beim Homeoffice-Siebdruck dient das Badezimmer auch zum Reinigen der Siebe. (Bild: Ruben Hollinger)
Die Punks schreien dem grassierenden Kapitalismus nicht nur Parolen entgegen. Kyaw Kyaw drückt das so aus: «Früher wollte ich nur das System ficken. Heute frag ich mich, was wir entgegen dem System für die Gesellschaft tun können.»
Musik bewegt die Gesellschaft
Um die Gesellschaft zu verändern, setzen die Politaktivisten der Organisation Generation Wave schon länger auf Musik. Gegründet wurde die Organisation von einem Hip Hopper, einem Rocksänger und zwei Poeten während der Safran-Revolution im Herbst 2007, als erst die Studenten, dann die Mönche und schliesslich Zehntausende von Zivilisten gegen das Militärregime auf die Strasse gingen. An die 100 Mitglieder zählte Generation Wave damals. Ihr heutiger Vize-Präsident Bobo erinnert sich: «Wir verteilten Gedichte und Musik mit kritischem Inhalt. So bleiben die Aussagen besser hängen, als wenn man nur ein Flugblatt liest.»
«Wir wünschen der neuen Regierung alles Gute, trauen ihr aber noch nicht.» Politaktivist Bobo muss nicht mehr aus dem Exil agieren. Mitglieder von Generation Wave werden aber auch heute immer wieder inhaftiert. (Bild: ruben hollinger)
Das Militär schlug den Aufstand blutig nieder, tötete Tausende der Protestierenden und steckte noch mehr in Gefängnisse, darunter auch 37 Mitglieder von Generation Wave. Bobo flüchtete mit weiteren Aktivisten in die Grenzregion von Thailand. Nach der Begnadigung der Inhaftierten kehrten sie 2012 aus dem Exil zurück.
Heute empfängt er den ausländischen Besuch im offiziellen Büro von Generation Wave in Yangon. Zwei Aktivisten tippen an alten Computern, die Wände sind geschmückt mit politischen Parolen, Karten der aktuellen Konfliktgebiete sowie einer Friedenstaube. «Wir haben uns schon unter der Diktatur für einen gewaltfreien Umsturz eingesetzt», so Bobo. Im weissen Hemd und dem traditionellen Longhi Wickelrock wirkt er älter als seine 27 Jahre. «Wir müssen uns heute nicht mehr illegal in Teestuben treffen, können aber auch nicht frei agieren. Allein in den letzten zwei Jahren wurden gegen 400 offizielle Anklagen gegen unsere Organisation erhoben. Sie finden auch heute Gründe, Leute zu verhaften.»
Drei Aktivisten sitzen seit einem Jahr im Gefängnis, weil sie sich für bessere Ausbildungsbedingungen engagierten. Einer von ihnen liegt nun im Spital. «Die Haftbedingungen sind prekär und die Gefängnisse weit weg von Yangon. Das Spital ist immerhin näher. So können wir uns besser um ihn kümmern.» Nach dem Treffen holt Bobo eine weitere Aktivistin von Generation Wave ab, dann fahren sie zum Gefangenenbesuch. Gestresst wirkt er deshalb nicht. Er nimmt sich alle Zeit für die Gäste. Gefängnis gehört für die Aktivisten noch immer zum leidigen Alltag. Da hilft nur Geduld. Bobo hofft, dass alle drei bald freikommen, wenn sich das neue Parlament endlich gefunden hat.
Schon unter der Militärdiktatur setzte Generation Wave auf Musik statt Gewalt. Auch mit Aung San Su Kyi ist ihr ausserparlamentarisches Engagement nötig. Die Friedentaube trägt noch immer Ketten. Der Umbruch brachte nur teilweise Frieden. Immer wieder brechen ethnische Konflikte aus, geschürt von nationalistischen Mönchen und alten Machthabern. (Bild: ruben hollinger)
Im Parlament politisiert mit Zayar Thaw auch ein Gründungsmitglied der Generation Wave. Der Rapper sass nach der Safran-Revolution selbst drei Jahre im Gefängnis. Nun engagiert er sich für die NLD-Partei von Aung San Suu Kyi. Bei Generation Wave darf er nur noch Passivmitglied sein, da die Aktivisten eine Obergrenze von 35 Jahren setzen. Im Parlament gehört er altersmässig jedoch zur Minderheit.
Für die euphorischen internationalen Berichte über den demokratischen Wandel hat Bobo nur ein müdes Lächeln übrig. «Wir wünschen der neuen Regierung alles Gute, trauen ihr aber noch nicht. Die Verfassung ist vom Militär diktiert und die Generäle ziehen weiter die Strippen, auch wenn sie die Uniform abgelegt haben.»
Von oben herab: Die alten Militärs haben die Uniformen abgelegt, sitzen aber weiterhin in den Spitzenpositionen der Macht. Das Fussvolk auf der Strasse interessiert sie nicht. (Bild: ruben hollinger)
Das Militär behält im Parlament per Verfassung die Kontrolle über die Armee, die Polizei und den Grenzschutz. Mit dem fixen Anteil von 25 Prozent der Sitze kann das alte Regime Verfassungsänderungen blockieren. So bleibt etwa die Klausel, dass Bürger mit ausländischen Wurzeln oder Ehepartnern nicht Präsident werden können. Sie zielt nur darauf ab, dass Suu Kyi trotz dem Erdrutschsieg ihrer Partei mit über 80 Prozent der Stimmen nicht Staatsoberhaupt werden kann, da ihr verstorbener Ehemann Engländer war.
Die letzten Regierungswochen nutzte das alte Regime unter dem ehemaligen General U Thein Sein zudem, um sich vor künftiger Verfolgung ihrer Verbrechen zu schützen.
Bobo: «Es müssen noch viel mehr Junge in die Regierung. Dort wird unsere Zukunft entschieden. Bis dahin ist unser Druck von aussen wirkungsvoller.»
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Sie wollen mehr erfahren? Hier gehts zu Teil 2 und Teil 3 der Myanmar-Reportage von Olivier Joliat.