Emanzipation von der Elterngeneration

Ob Tanz, Graffiti oder Girlie-Pop – die junge Kulturszene Myanmars sucht ihre Identität zwischen globalem Mainstream und einengender Tradition. Dabei hilft auch der Austausch mit Ausländern.

Zwischen Mainstream und Tradition: Myanmars Jugend will sich ihren eigenen Weg bahnen.

(Bild: Ruben Hollinger)

Ob Tanz, Graffiti oder Girlie-Pop – die junge Kulturszene Myanmars sucht ihre Identität zwischen globalem Mainstream und einengender Tradition. Dabei hilft auch der Austausch mit Ausländern.

Familienbande in Asien sind eng bis beengend, der Vater ist die unbestreitbare Autorität. Die ausgeprägten Hierarchien zu durchbrechen, ist für die jungen Kulturschaffenden ein noch grösserer Schritt als der Sprung vom Leben in der Tradition zur Moderne. Emanzipation ist hier keine Geschlechterfrage.

Street Dancer Jimmy Ko Ko etwa hat nach seinem Studium in traditionellem burmesischem Tanz als erster Burmese ein ausländisches Tanzstipendium in Singapur erhalten. Dort perfektionierte er seine Breakdance Skills, die er davor nur autodidaktisch via YouTube üben konnte. «Länger als das Lernen der Moves dauerte oft das Laden der Movies.»



«Länger als das Lernen der Moves dauerte oft das Laden der Movies»: Street Dancer Jimmy Ko Ko übte Breakdance mit YouTube. 

«Länger als das Lernen der Moves dauerte oft das Laden der Movies»: Street Dancer Jimmy Ko Ko übte Breakdance mit YouTube.  (Bild: Ruben Hollinger)

Zurück in seiner Heimat trainiert der B-Boy täglich auf ein paar Quadratmetern polierten Betons unter der Trasse einer Hochstrasse beim Dagon Center. Authentischer kann Street Dance nicht sein. Die Beats aus der Boom Box mischen sich mit dem Gehupe der Autos im stetig zunehmenden Dauerstau Yangons. Die Luft ist abgasgeschwängert. Doch Ko Ko ist nicht darum ausser Puste. Er ist erkältet, sollte sich eigentlich schonen. Nur steht bald der erste Auslandtrip seiner Truppe an – beim Radikal Forze Jam in Singapur: «Endlich trete ich nicht mehr allein in den Battle Ring, sondern habe eine Crew dabei. Wie haben zwar keine Chance, aber diese internationale Erfahrung ist für die Szene hier ein riesiger Gewinn.»



Beats im Abgas-Moloch von Yangon.

Beats im Abgas-Moloch von Yangon. (Bild: Ruben Hollinger)

Seine Crew besteht hauptsächlich aus Jungs. «Girls kommen leider meist nur, um Fotos zu machen.» Oder sie stehen wie die gaffenden Passanten am Zaun, der die Betonfläche von der Strasse abgrenzt. Das wilde Drehen auf den Köpfen und die akrobatischen Verrenkungen der Tänzer sind neu im Land. Und nicht überall erwünscht. Jimmy Ko Ko musste mit seinen Jungs schon vor Securitys flüchten, obwohl die Tänzer mit ihren Bodendrehungen die Plätze eher wischen, denn verdrecken.

Um Street Dance bei den Mädchen und anderen Jungs bekannt zu machen, organisiert Ko Ko Workshops in Schulen und landesweite Tanz-Battles. «Ich will eine Myanmar Crew aller Ethnien und Religionen.» Damit seine Crew die Tickets für Singapur zahlen konnte, tanzte Ko Ko ein paar verhasste Promo-Shows an Werbeveranstaltungen.



Ko Ko organisiert Workshops in Schulen und landesweite Tanz-Battles.

Ko Ko organisiert Workshops in Schulen und landesweite Tanz-Battles. (Bild: Ruben Hollinger)

Daneben arbeitet er wie alle anderen Familienmitglieder im Papeteriegeschäft seines Vaters. Das Familienoberhaupt spricht aber seit sechs Jahren kein Wort mehr mit dem Jüngsten seiner vier Kinder – aus Missfallen über die Tanzleidenschaft.

Die Eltern von Mai Kimmy weinten, als ihre Tochter nach Jahren in Yangon als Star in die zweieinhalb Flugstunden entlegene Chin-Provinz zurückkehrte. Nicht aus Stolz über ihre Erfolge als Sängerin und Songwriterin der ersten Girlgroup Myanmars, die mit seichten Pop-Songs wie «Girl Strong» das selbstbewusste Auftreten junger Frauen fördern wollte. Die Eltern weinten inmitten all der Fans aus Scham über Kimmys rotes Kleid. «Ich wollte den Menschen meiner Heimat zeigen, dass auch eine Chin-Frau aus einer marginalisierten Minorität Erfolg haben kann. Als Reminiszenz wählte ich eine traditionelle Seidentracht, hochgeschlossen, langärmlig, aber als moderne Variante geschlitzt bis zu den Knien.» Das war den Eltern viel zu sexy.



Will das Selbstbewusstsein junger Frauen fördern: Mai Kimmy, Sängerin und Songwriterin der ersten Girlgroup Myanmars.

Will das Selbstbewusstsein junger Frauen fördern: Mai Kimmy, Sängerin und Songwriterin der ersten Girlgroup Myanmars. (Bild: Ruben Hollinger)

Mai Kimmy wuchs als jüngstes von vier Kindern in den Bergwäldern des nördlichen Chin-Staates auf. Der Vater war stolzer Jäger – da wurde auch mal ein Tiger verspeist – bis seine Religiosität ihn in den Dienst der Baptistenkirche der nächsten grösseren Ortschaft trieb. Dort wurde er Dirigent des Kirchenchors. Mai Kimmy mochte vor allem die Gospelgesänge: «Ich war aber zu scheu, öffentlich zu singen, sogar für die hintere Chorreihe.» Erst als sie zu ihrer ältesten Schwester zum Studium nach Yangon zog, traute sie sich.

Ermuntert von der Schwester, meldete sie sich 2010 zum Casting der Tiger Girls – der ersten Girl Group Myanmars. Der australische Produzent wählte sie für die Tanzparts. Ein ungeschriebenes Gesetz hier besagt: Frauen sollen entweder Tanzen oder Singen. Wer bei Auftritten beides kombiniert, gilt als sehr unsittlich. Die Tiger Girls sollten dieses Tabu brechen, weshalb Kimmy auch in Piano, Gitarre und Gesang geschult wurde.



«Mittlerweile akzeptiert Vater, was ich als Künstlerin mache, aber er mag es nicht»: Mai Kimmy.

«Mittlerweile akzeptiert Vater, was ich als Künstlerin mache, aber er mag es nicht»: Mai Kimmy. (Bild: Ruben Hollinger)

Der Revoluzzer-Geist beseelte die fünf Girls. Anders als die meisten kommerziell erfolgreichen Sänger wollten sie nicht nur bekannte Hits mit burmesischen Texten neu einsingen, sondern eigene Songs schreiben. Sie trennten sich vom Produzenten und nannten sich neu Me N Ma Girls. In dieser Formation spielten sie auch in Europa und Amerika, holten dort sogar einen Plattenvertrag.

Heute sind sie nur noch zu viert unterwegs, haben sich von allen Verträgen gelöst und machen alles selbst. Kimmy ist für das Songwriting zuständig. Daneben forciert sie ihre Solo-Karriere. Entgegen den Fotos, wo sie sich in die üblich lasziven Popstar-Posen wirft, frönt sie christlicher Worship-Musik mit Texten in Chin. «Mittlerweile akzeptiert Vater, was ich als Künstlerin mache, aber er mag es nicht.»

Dass Kimmy einen italienischen Freund hat, dürfen die Eltern allerdings nicht wissen. Das hat weniger mit dem über die Jahre geschürten Nationalismus der Burmesen zu tun. Dieser richtet sich mehr gegen andere Asiaten. Obwohl Landesmutter Aung San Suu Kyi einen englischen Mann hatte, spürt man das machoide Klima. «Frauen mit westlichen Partnern gelten als Bitch, umgekehrt bist du ein Held. Wenn ich mit meiner französischen Freundin am Flughafen bin, klopfen mir die Zollbeamten anerkennend auf die Schultern», erklärt Eaiddhi (der Musiker, Produzent und Kulturaktivist wurde in Teil 2 eingeführt).



«Frauen mit westlichen Partnern gelten als Bitch, umgekehrt bist du ein Held»: Eaiddhi über internationale Liebesbeziehungen.

«Frauen mit westlichen Partnern gelten als Bitch, umgekehrt bist du ein Held»: Eaiddhi über internationale Liebesbeziehungen. (Bild: Ruben Hollinger)

Gut ein Jahr hat er mittlerweile eine europäische Freundin. Er lernte Elodie Sobczak am Französischen Institut kennen, als sie gemeinsam das erste Street Art Festival Myanmars organisierten. Der Botschaftsableger ist der wichtigste, weil praktische einzige Veranstaltungsort für Subkultur in Yangon. Ob Jam It, Generation Wave oder das Yangon Woman Festival – alles findet Platz im gepflegten Garten mit kleinem Eiffelturm als Boule-Bahn-Dekor und Bühnen-Pavillon. «Hier ist französischer Boden, weshalb Veranstaltungen möglich sind, die früher der Zensur zum Opfer fielen und heute keine Sponsoren finden», so Sobczak. Doch die Freiheit kennt selbst hier Grenzen: «Wenn eine Veranstaltung religiöse Themen behandelt, muss man sehr sensibel sein.»

Wie heikel der Umgang mit Religion ist, zeigt das Beispiel des Buddha-Bar-Besitzers aus Neuseeland, der zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil er als Werbemassnahme online das Bild eines Buddhas mit Kopfhörern publizierte. Solch einen Fehler will Ben nicht machen. Der Engländer lebt seit acht Jahren in Yangon, spricht fliessend Burmesisch und hat kürzlich die Rough Cut Bar eröffnet. Das schmucke Lokal, dessen Interieur die Hipster aller internationalen Metropolen locken würde, soll Begegnungsort und Kulturplattform für alle in Yangon Lebenden sein.



Soll Begegnungsplattform der jungen Kreativen sein: Die Rough Cut Bar.

Soll Begegnungsplattform der jungen Kreativen sein: die Rough Cut Bar. (Bild: Ruben Hollinger)

Tatsächlich kennt man nach einigen Tagen in der Stadt viele Gäste. Natürlich sind Eaiddhi und Elodie hier, Mai Kimmy mit Freund und etliche andere Szenies. Heute ist der erste Diskussionstreff der Street Art Szene. Und es geht nach verhaltenem Start heftig zu und her. Wortführerin ist oft eine Frau. Es ist die erste Sprayerin Yangons, Ku Kue.

«Es geht um Realness, Street Credibility», erklärt die 28-Jährige beim Bier. Konkret ging es um Arkar Kyaw mit Pseudonym «Night». Sein Graffiti-Porträt von US-Präsident Obama, gesprayt als Willkommensgruss für dessen Besuch in Yangon, schaffte es sogar in die New York Times. Es war eines seiner ersten Werke. Stolz inszenierte sich der Sprayer auf Facebook neben seinem Werk. Ein absolutes No-Go in der Szene. Dass ihn die Regierung danach beauftragte, den damaligen Präsidenten U Thein Sein zu sprayen und ihm noch weitere offizielle Aufträge zuschanzte, steigerte seine Popularität nicht besonders. Er gilt als Fake Artist.




«Es geht um Realness, Street Credibility»: Ku Kue, die erste Sprayerin Yangons. (Bild: ruben hollinger)

Ku Kue sprayt seit zehn Jahren, gehört damit zu Yangons Grafitti-Pionieren und ist definitiv die erste Frau in der Szene. Viele sagen bis heute, sie sei die Einzige, die etwas kann. Der Respekt ihr gegenüber ist in der Diskussionsrunde allenthalben spürbar, auch wenn sie ihre alte Crew verliess, als die Beziehung mit einem der Sprayer in die Brüche ging.

Heute sprayt sie allein und nur noch selten auf der Strasse. Nicht aus Angst vor der Polizei: «Vor der fürchten sich nur meine Eltern. Sie sagten immer: Du bist das Mädchen in der Familie. Wegen dir sollten wir nicht auf die Polizeiwache müssen. Genau deshalb würden mich Polizisten auch nie verdächtigen. Ich habe nur Angst vor den vielen Strassenhunden.» Ku Kue kommt heute kaum mehr zum Sprayen, da ihr zeichnerisches Talent von einer internationalen Werbeagentur erkannt wurde. Seit einem Jahr zeichnet sie Story Boards und Cartoons.



Die Subkultur ist noch klein, der Enthusiasmus der Einzelnen gross.

Die Subkultur ist noch klein, der Enthusiasmus der Einzelnen gross. (Bild: Ruben Hollinger)

Auch Mai Kimmy hat Ku Kue für ihren neusten Videoclip engagiert. Genreübergreifende Kollaborationen sind typisch in Yangon. Die Subkultur ist noch klein, der Enthusiasmus der Einzelnen gross. Man kreuzt sich ständig bei kulturellen Anlässen und kennt sich. Grösser als das Klagen über den Mangel an Geld und Infrastruktur ist die Freude und Lust auf das, was noch alles werden kann.

Diese Aufbruchstimmung lockt abenteuerlustige Kreative aus aller Welt. Aber auch immer mehr Einheimische kehren aus dem Exil zurück. So will Elektro DJ Ju Ki aus London nun das Clubleben Yangons in Schwung bringen. Auch Regisseur und Creative Director Nagyi hat sein Studio lieber hier aufgebaut als in England. «Der Umbruch schafft eine kreative Freiheit. Die Energie und Inspiration will ich nutzen, um jedes Jahr mindestens einen Film, ein Musikalbum oder sonst etwas Kreatives zu produzieren.» Drei Filme sind es bislang schon. Sein riesiges Filmstudio, das er am Rand von Yangon aufgebaut hat, vermietet er an kommerzielle Produktionen, nutzt es aber auch für Veranstaltungen, etwa für die Jam-It-Festivals von Eaiddhi.



Die Aufbruchstimmung lockt abenteuerlustige Kreative aus aller Welt nach Yangon.

Die Aufbruchstimmung lockt abenteuerlustige Kreative aus aller Welt nach Yangon. (Bild: Ruben Hollinger)

Die jungen Kulturschaffenden wollen die Öffnung des Landes nicht nutzen, um ihr Glück in der Ferne zu suchen. Sie wollen im eigenen Land etwas aufbauen und der neuen Regierung kritisch zur Seite stehen. Denn die Kulturschaffenden hier sind freier im Anprangern alter Missstände als die Politiker und übernehmen teils gar die aufdeckende, aufklärerische Rolle der Medien. Doch ihr wichtigster Einfluss ist, der neuen Nation Form und Farbe zu verleihen.



«Wir müssen eine eigenständige moderne Kultur entwickeln, um in einer globalisierten Zukunft anzukommen, ohne unsere Identität zu verlieren.»

«Wir müssen eine eigenständige moderne Kultur entwickeln, um in einer globalisierten Zukunft anzukommen, ohne unsere Identität zu verlieren.» (Bild: Ruben Hollinger)

Thaiddhi: «Wir müssen eine eigenständige moderne Kultur entwickeln, um in einer globalisierten Zukunft anzukommen, ohne unsere Identität zu verlieren. Sonst werden rückständige Nationalisten zunehmend Gehör finden.» Die Gefahr sieht der kritische Filmer mit Weitblick jedoch nicht nur im alten Regime, das im Hintergrund noch immer die Fäden zieht, die Wirtschaft in der Hand hat und Gruppen, wie die nationalistischen Mönche in Mandalay, unterstützt, um Unruhe zu stiften: «Trotz all dem Leiden unter dem Militär haben die Menschen das Lachen nicht verloren. Ich hoffe, sie behalten es auch unter dem Kapitalismus.»

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Hier gehts zu Teil 1 und Teil 2 der Myanmar-Reportage von Olivier Joliat.

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