Gregor Gysi: Ich würde mich gerne freuen, aber…

IS-, Ukraine-, Finanz- und Schuldenkrise – es gibt viele Gründe sich zu sorgen. Nicht zuletzt über die Gleichzeitigkeit der Krisen. Aber 2015 erwartet uns auch etwas Positives: die deutsche Mindestlohnregelung.

2015 tritt in Deutschland die Mindestlohnregelung in Kraft. Sie ermöglicht zwar viel zu viele Ausnahmen, und die Höhe des Mindestlohns ist zu gering – aber das Ganze wird zum Besseren reformierbar sein. (Bild: THOMAS HAENTZSCHEL)

IS-, Ukraine-, Finanz- und Schuldenkrise – es gibt viele Gründe sich zu sorgen. Nicht zuletzt über die Gleichzeitigkeit der Krisen. Aber 2015 erwartet uns auch etwas Positives: die deutsche Mindestlohnregelung.

Ich würde gern schreiben, worüber wir uns 2015 freuen können. Natürlich, da kommen Geburtstage und Feiertage wie immer. Und es wird auch politisch Gutes geben. Aber leider sehe ich auch Besorgniserregendes.

Zunächst möchte ich jedoch etwas Positives ansprechen, und zwar die deutsche Mindestlohnregelung, die 2015 in Kraft treten wird. Obwohl sie von der Grossen Koalition beschlossen wurde, ist sie auch ein Erfolg meiner Partei. Schon in den 1990er-Jahren haben wir dafür gekämpft.

Leider hat die Verwirklichung dieser Forderung durch die Grosse Koalition Schwächen. Sie ermöglicht viel zu viele Ausnahmen, und die Höhe des Mindestlohns ist zu gering. Aber er wird auch zum Besseren reformierbar sein. 

Beim Kampf gegen den IS herrscht vor allem eines: äusserst geschäftige Planlosigkeit.

Es gibt natürlich viele Dinge, die uns das ganze Jahr über beschäftigt haben und die auch im Jahr 2015 nicht für gute Stimmung sorgen werden. Das sind der Kampf gegen den IS, die Zerstörung von Staaten, der Ukraine-Konflikt, die immer noch nicht bewältigte Finanzkrise und das Aufleben einer populistischen Rechten.

Beim Kampf gegen den IS herrscht vor allem eines: äusserst geschäftige Planlosigkeit. Der IS entstand aus einer Abspaltung von Al Kaida. Letztere ist einige Zeit auch mit amerikanischen Finanzmitteln hochgezüchtet worden, um gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan zu kämpfen.

Obwohl die USA später in Afghanistan Krieg gegen die Taliban und Al Kaida führten, obwohl sie auch während der Besatzungszeit im Irak Zellen von Al Kaida bekämpften, förderten sie zugleich das Entstehen von Situationen, die den IS zu seiner heutigen Stärke führten.

In einem gewissen Sinn darf man den IS auch als made in USA betrachten.

Sie unterstützen oder tolerierten das Einsickern von Jihadisten nach Syrien, die gegen Assad kämpfen wollten, und installierten nach dem Irak-Krieg eine Machtarchitektur im Irak, die die Schiiten begünstigte und die Sunniten benachteiligte. Letztere verhalten sich neutral zum IS oder unterstützen ihn sogar, eine staatsbürgerliche Loyalität zum Irak war jedenfalls, sollte es sie je gegeben haben, nicht wirksam. In einem gewissen Sinn darf man daher den IS auch als made in USA betrachten.

Das erklärt auch die Planlosigkeit des Kampfes gegen ihn. Eilig schmiedet man eine «Koalition der Willigen», die völkerrechtswidrig operiert. Dieser Koalition gehören Staaten an, die eben noch als Unterstützerstaaten des IS galten. Schliesslich gibt es keinerlei Vorstellungen darüber, wie man den Ländern Syrien und Irak helfen möchte, sich wieder zu stabilisieren.

In Syrien besteht das offensichtliche Problem darin, dass man auf keinen Fall Assad in irgendetwas einbinden will; im Irak besteht es darin, dass die USA ihre bisherige Irak-Politik revidieren müssten. Selbst wenn sie das zuwege brächten: Wie wollen sie die Iraker davon überzeugen, dass sie die von den USA selbst entworfene Verfassung ändern sollten?

In der Ukraine-Krise verfolgt die EU die Interessen der USA, nicht die eigenen.

In der Ukraine-Krise agieren die USA nicht planlos, sondern strategisch. Es ist ihnen gelungen, die Staaten der EU wieder in Reih und Glied zu bringen. Die EU verfolgt Interessen der USA, nicht die eigenen. Dabei muss man Putin nicht schonen. Er hat das Völkerrecht verletzt. Aber weder die USA noch die EU scheinen sich die Frage zu stellen, was sie in der Vergangenheit dazu beigetragen haben, dass Russland so geworden ist. Stattdessen herrscht hierzulande Selbstgerechtigkeit. Damit löst man keine Probleme.

Schliesslich haben wir immer noch die nicht bewältigte Finanzkrise, einschliesslich der Schuldenkrise. Einige Kommentatoren sehen erste Anzeichen einer drohenden Deflation. Andere stellen fest, dass die Hoffnung der EU, durch Inflation und Wachstum aus den aufgehäuften Schulden herauszukommen, trügerisch war. Trotz fortgesetzter Geldemission der Europäischen Zentralbank gibt es weder eine nennenswerte Inflation noch ein nennenswertes Wachstum. Letzteres schrumpft sogar.

Meine Sorge ist die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Krisen. Dieses unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wird zurzeit von einer populistischen Rechten aufgefangen und propagandistisch gegen die gesellschaftlich ganz unten Stehenden, Flüchtlinge insbesondere, gewendet. Hier sind alle demokratischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte in der Verantwortung, Protest auf einer anderen Folie, der sozialen Gerechtigkeit, aufzufangen.

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