Weil die Balkanroute abgeriegelt ist, bereitet sich Italien auf eine neue Flüchtlingswelle vor. Das weckt Erinnerungen an die 1990er-Jahre, als Zehntausende Albaner über die Adria kamen.
Vielleicht sollte man sich die Worte des ukrainischen Schleusers noch einmal vergegenwärtigen. Als ihn der Kriminologe Andrea Di Nicola aus Trient vor einiger Zeit in einem italienischen Gefängnis befragte, bekam er Folgendes zu hören: «Wenn ihr Fluchtwege abschneidet, werden wir neue finden. Ihr zieht die Mauern um die Festung Europa höher? Wir erhöhen die Preise.»
Jetzt wirkt es so, als habe auch die italienische Regierung die zynischen Worte des Schleusers mit etwas Verspätung vernommen. Nach den aktuellen Entwicklungen auf dem Balkan fürchtet Italien eine neue Flüchtlingswelle. Auslöser sind die Grenzschliessungen von Österreich bis Mazedonien und die sich in Nordgriechenland stauenden Flüchtlingstrecks.
«Wir bereiten einen vorläufigen Plan vor und hoffen, dass er vorläufig bleibt.»
Ein Blick auf die Landkarte genügt, um das drohende Szenario zu verstehen: Weil sie auf dem Weg von Griechenland nach Norden blockiert werden, suchen die Flüchtlinge neue Routen, von denen die meisten über Italien führen. Das Land, das im vergangenen Jahr etwa 100’000 Flüchtlinge in Hilfseinrichtungen aufnahm, ist vom Meer umgeben und kann keine Zäune an den Tausende Kilometer langen Küsten errichten.
«Wir bereiten einen vorläufigen Plan vor und hoffen, dass er vorläufig bleibt», sagte der italienische Innenminister Angelino Alfano vor Tagen bei einem Besuch in der südlichen Region Apulien. Wie es heisst, gibt es rege informelle Kontakte zwischen Italien, Albanien und Montenegro. Dutzende Soldaten sollen nach Apulien verlegt werden, der fünfte italienische Hotspot im apulischen Taranto steht angeblich kurz vor der Öffnung. Alfano wies schon vor Wochen die Sicherheitschefs in den italienischen Städten an, 50’000 zusätzliche Aufnahmeplätze einzurichten.
Überfahrt ist in einer Nacht zu schaffen
Ein Grund für den Alarm: Gerade einmal 45 Seemeilen trennen den Absatz des italienischen Stiefels vom albanischen Festland, die Überfahrt ist in einer Nacht zu schaffen. Laut italienischen Zeitungsberichten haben italienische Geheimdienste Erkenntnisse, dass Schlepper die in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge über Albanien und dann mit Booten über den Kanal von Otranto nach Italien befördern könnten.
«Wir haben noch keine konkreten Hinweise darauf, dass diese Reisen wiederaufgenommen wurden, aber einigen Verdacht, dass sie in diesen Tagen organisiert werden», sagte Cataldo Motta, der Chef der italienischen Staatsanwaltschaft in Lecce. In Italien werden Erinnerungen an die 1990er-Jahre wach, als Zehntausende Albaner auf überladenen Frachtschiffen die Adria überquerten.
Flüchtlinge transportieren statt Drogen schmuggeln
Diesmal rechnen die Sicherheitsbehörden mit anderen Methoden. An der Küste zwischen Durres und Dhermi beschlagnahmte die albanische Polizei in den vergangenen Tagen mindestens zwölf Schlauchboote, die bislang für Drogenschmuggel genutzt worden seien. In Zukunft könnten Flüchtlinge auf den nicht einmal zehn Meter langen und kaum kontrollierbaren Booten transportiert werden.
Wie auf diese Weise Zehntausende das italienische Festland erreichen sollen, ist nicht klar. Doch die Möglichkeiten der Schlepper sind zahlreich. Italiens Sicherheitsbehörden weisen auf mehrere Alternativrouten hin. Man erinnert sich: Der im türkischen Mersin mit 800 Migranten gestartete Frachter Blue Sky erreichte im Dezember 2014 führungslos die Küste Apuliens. Denkbar seien auch Fahrten von Nordwestgriechenland über das Ionische Meer nach Kalabrien.
Mit grosser Wahrscheinlichkeit nehmen 2016 wie jeden Frühling auch die Überfahrten von Libyen wieder zu. Immerhin war der Rückgang auf dieser Route im vergangenen Jahr der zunehmenden Attraktivität der Balkanroute zuzuschreiben. Jetzt ist der Balkan blockiert. Entscheiden sich die syrischen Flüchtlinge für die Mittelmeerroute, wäre auch der gegenwärtige Hoffnungsträger der EU, die Türkei, machtlos.
Das Horrorszenario für Italien wäre komplett, wenn Österreich im Frühling auch den teilweise kontrollierten Grenzübergang am Brenner endgültig dicht macht. Italien, so fürchtet man in Rom, könnte dann in eine ähnlich verzweifelte Lage wie heute Griechenland geraten.