Die Schweiz orientiert sich immer noch an einem konservativen Familienbild. Und lebt ein ganz anderes.
Wenn sie von ihrem grossen Coup spricht, dann spürt man die Hibbeligkeit von Babette Sigg selbst durchs Telefon. Ha! Das war was, in dieser funktionalen Halle in Tenero. Die Tische symbolträchtig mit Stiefmütterchen geschmückt (wie die NZZ in ihrer Berichterstattung etwas maliziös anmerkte), die Fronten klar. Das Parteipräsidium und zwei Drittel der Fraktion hatten sich vor der Delegiertenversammlung der CVP im Tessin für die Unterstützung der Familieninitiative ausgesprochen. Schon der der Kampagnenstart der SVP wurde tatkräftig von CVP-Politikerinnen und Politikern unterstützt – vornehmlich aus jenen Kantonen, die bereits heute einen Steuerabzug für Familie kennen, die ihre Kinder selber betreuen (Luzern, Zug, Wallis).
Die Sache schien klar: Die Familienpartei CVP wird die Familieninitiative der SVP unterstützen und damit ein Zeichen für jenes Klientel der Partei setzen, das sich in den vergangenen Jahren zunehmend einsam in der CVP gefühlt hatte: jene Wählerinnen und Wähler aus den konservativen Stammlanden, denen ein traditionelles Verständnis von Familie eigen ist. Der Mann arbeitet auswärts, die Frau kümmert sich um die Kinder.
Für alle Familien?
Doch es kam anders in der funktionalen Halle von Tenero. Angeführt von den CVP-Frauen, deren Präsidentin Babette Sigg ist, setzten sich die urbanen gegen die ländlichen Kantone durch und erzwangen eine deutliche Nein-Parole der Partei. «Wir wollen eine Familienpolitik für alle Familien. Die Initiative der SVP begünstigt ausschliesslich reiche Einverdiener-Familien», sagt Sigg ein paar Tage später. Und tönt plötzlich nicht mehr hibbelig, sondern leicht genervt. Die CVP sei eine Volkspartei, eine Partei, die viele verschiedenen Meinungen aushalte. «Aber wenn eine Parole gefasst ist, dann ist eine Parole gefasst. Es ärgert mich, dass die Parteispitze nun fröhlich durch die Lande zieht und weiterhin für ein Ja wirbt. Hätten wir das im umgekehrten Fall gemacht, es wäre ein Skandal gewesen.»
Babette Sigg mag sich über ihre Parteispitze und die Vertreter der Bundeshausfraktion ärgern, nachvollziehbar ist deren Handeln aber schon. Nicht nur wird damit die konservative Parteibasis besänftigt, die Parteispitze setzt auch auf einen Gewinner. Die Initiative der SVP hat einen grossen Rückhalt in der gesamten Bevölkerung. Beinahe zwei Drittel aller Befragten wollen laut der aktuellsten gfs-Umfrage am 24. November ein Ja einlegen. Ein Begriff ist dabei zentral: Wertschätzung.
Es geht um Wertschätzung
«Ich würde es als Zeichen der Wertschätzung empfinden, wenn auch jene Familien steuerlich begünstigt würden, die selber zu den Kindern schauen. Im Moment werden jene bevorzugt, die mehr arbeiten.» Das sagt Manuel Pocas aus Rickenbach (BL), Vater von Jason (7 Jahre) und Lia (5 Jahre). Der 30-Jährige lebt ein traditionelles Familienbild, hat immer hundert Prozent gearbeitet, während seine Frau zu den Kindern geschaut hat. «Das war für uns immer klar. Wir machen keine Kinder, damit sie dann viermal in der Woche in die Kita gehen und am Wochenende von den Grosseltern betreut werden», sagt Pocas. Und räumt ein, dass man sich dieses Modell auch leisten können müsse. Sie als Paar hätten ihre Entscheidung jedenfalls nie bereut. Jetzt, da Jason bald die Schule besuchen wird, beginnt Pocas Frau wieder Teilzeit zu arbeiten.
Unterstützung von links
Die Unterstützung für die SVP-Initiative geht weit über jene Kreise hinaus, bei denen ein Ja offensichtlich scheint. So unterstützen etwa knapp die Hälfte aller SP-Wähler laut gfs-Umfrage die neuen Steuerabzüge. Das Argument auch hier: die Wertschätzung. In einer aktuellen Umfrage der TagesWoche zum Thema schreibt ein Teilnehmer, der seine Kinder extern betreuen lässt: «Familien müssen unbedingt besser unterstützt werden. Im Moment sieht es so aus: Bessere Kinderzulagen sind die Taube auf dem Dach, die SVP-Initiative ist der Spatz in der Hand!» Eine andere Teilnehmerin meint: «Meiner Meinung nach ist es nur fair, wenn Familien, die sich entschliessen ihre Kinder selber zu betreuen, auch einen Steuerabzug geltend machen können.» Seit 2009 können Familien die Fremdbetreuungskosten von den Steuern abziehen, warum also sollen jene das nicht tun können, die auf eine Fremdbetreuung verzichten?
Der zentrale Begriff im Abstimmungskampf um die Familieninitiative ist: Wertschätzung.
Es ist schwierig gegen eine Initiative zu argumentieren, die auf den ersten Blick soviel Wärme und Wertschätzung ausstrahlt. Die Gegner versuchen – sofern sie im Trubel um die (letztlich chancenlose) 1:12-Initiative überhaupt gehört werden – der wohligen Sympathie für den SVP-Vorschlag kühle Zahlen entgegen zu stellen. Denn ein Ja zur Initiative wäre nicht nur ein Zeichen der Wertschätzung «für alle Familien», es wäre auch ziemlich teurer. Im SVP-Vorschlag sind keine fixen Abzüge vorgesehen, dennoch gehen Schätzungen von einem Steuerverlust in der Höhe von rund 1,4 Milliarden Franken aus. Auf diese Zahl kommen die Gewerkschaft «Travail Suisse» und der Bund bei der Annahme, die Abzüge für die Eigenbetreuung würden gleich hoch ausfallen wie die heute schon gültigen Abzüge für die Fremdbetreuung. Die Gewerkschaft warnt bei einer Annahme darum vor neuen Sparpaketen in den Kantonen. «Wir werden alle die Zeche bezahlen müssen», sagte Martin Flügel, Präsident von «Travail Suisse», bei der Präsentation der Gegenkampagne in Bern. Gleichzeitig würden nur wenige profitieren; es wären vorab gutverdienende Haushalte, die einen Abzug bei der Bundessteuer machen könnten – denn nur diese Familien aus der «oberen Hälfte des Lohnsegments» («NZZ am Sonntag») bezahlen auch Bundessteuern.
Weniger Geld für alle
Anzunehmen ist auch, dass bei einem Ja die Abzüge für die Fremdbetreuungskosten schrumpfen würden. «20 Minuten» hat das am Beispiel des Kantons Bern durchgerechnet, wo heute ein Steuerabzug von maximal 3100 Franken pro Kind in der Kindertagesstätte möglich ist. Würde Bern die SVP-Initiative kostenneutral umsetzen, blieben noch 500 Franken pro Kind und Abzug zur Verfügung. Auch in Basel ist diese Rechnung bereits gemacht worden. Finanzdirektorin Eva Herzog sagte dieser Woche der «Basellandschaftlichen Zeitung», dass bei einem Ja die Abzüge von heute 10’000 Franken für die extern betreuten Kinder auf 900 Franken für alle Kinder zusammenschrumpfen würden.
Ist es eine Herdprämie?
Zu den Zahlen der Gegnern kommen auch grundsätzliche, systemrelevante Überlegungen. Warum soll man für etwas Abzüge bei den Steuern machen können, für das man keine Steuern bezahlt? Aber das ist eher schwierig zu vermitteln. Darum versuchen auch die Gegner der Initiative die Debatte auf eine emotionale Ebene zu rücken. In der WOZ zielte die Aargauer SP-Nationalrätin Yvonne Feri vor einer Woche auf das fragwürdige Familien- und Gesellschaftsbild, dass die Initiative vermittle. Nicht nur löse der Vorschlag kein einziges Problem in der Familienpolitik, es sei auch ein Steilpass für die Forderung «Frauen zurück an den Herd».
Es ist eine Argumentationslinie, die man von allen Gegnern hört, gerne ergänzt mit dem etwas bösen Begriff der «Herdprämie», die der Bund künftig bezahlen solle. Die SVP wehrt sich vehement gegen diesen Vorwurf. Allen voran die Berner Nationalrätin Nadja Pieren, Leiterin der Kindertagesstätte Wombat in Bremgarten bei Bern. Die Kampagnenleiterin ist das eigentliche Gesicht der Familieninitiative. Sie ist es, die durch die Lande tingelt und in jedes Mikrofon die Geschichte von der Wertschätzung für alle Familien und von der Freiheit bei der Wahl des passenden Familienmodells erzählt. Wer könnte das besser und glaubhafter als sie, die Leiterin einer Kita?
Dabei wissen Pieren und die SVP ganz genau, dass mit der (offenen oder versteckten) Berufung auf das traditionelle Familienbild in der Schweiz Abstimmungen zu gewinnen sind. Letztes Beispiel war die Abstimmung über den Familienartikel, mit dem der Staat etwas vage dazu aufgefordert wurde, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern. Die SVP beschwor im Abstimmungskampf im Frühling die traditionelle Familie und beharrte auf der gesunden Distanz dieser Familie zum allmächtigen Staat. Man wolle keine Staatskinder, keine Einmischung aus Bern.
Wunsch und Realität
Der Sieg im März war knapp. Eine Mehrheit der Bevölkerung war damals für die Einführung eines Familienartikels, versenkt wurde der Artikel vom Ständemehr der kleinen, konservativen Kantone. Das interessante am Sieg der Verfechter eines traditionellen Familienbildes war, dass diese Mehrheit nicht mehr deckungsgleich ist mit den tatsächlichen Verhältnissen in der Schweiz. Laut aktuellen Angaben des Bundesamts für Statistik waren 2011 beinahe 1,1 Millionen Mütter und Väter mit Kindern unter 15 Jahren erwerbstätig. Das klassische Modell, Vater arbeitet, Mutter schaut vollzeitlich zu den Kindern, wird dabei nur noch von einem Viertel aller Familien gelebt. In 75 Prozent der Fälle ist die Mutter erwerbstätig (zwei Drittel davon in einem Teilzeit-Pensum). Je älter die Kinder werden, desto besser wird die Integration der Mütter in den Arbeitsmarkt: Der Anteil der nicht erwerbstätigen Mütter nimmt ab, die Erwerbspensen der Teilzeit beschäftigten Mütter erhöhen sich und der Anteil der voll erwerbstätigen Mütter nimmt zu. Klassisch bleibt dabei die Rolle des Vaters. Nicht nur verändert sich dessen Erwerbspensum mit dem Alter der Kinder kaum, es bleibt auch unverändert hoch: Nur 8 Prozent aller Väter arbeiten Teilzeit.
Diese Zahlen entsprechen den Resultaten der Umfrage der TagesWoche von dieser Woche. Bei 70 Prozent der aktuell rund 300 teilnehmenden Familien (die Umfrage läuft weiterhin auf unserer Website) werden die Kinder nicht ausschliesslich selbst betreut. Die meisten Eltern setzen bei der Betreuung ausser Haus auf einen Mix zwischen Tagesstätte und erweiterter Familienbetreuung (Grosseltern, etc.). Die Arbeitsteilung geht dabei deutlich zulasten der Mütter: In 77 Prozent der Fälle arbeitet die Mutter nicht so viel wie sie möchte. In der Mehrheit der Fälle (63 Prozent) arbeitet der Vater mehr. Von allen Umfrageteilnehmer arbeiten 72 Prozent weniger, um mehr Zeit für die Betreuung der Kinder zu haben.
Wer verliert?
Die Realität in den Schweizer Familien hat wenig mit dem von der SVP propagierten Wunschbild zu tun. Und dennoch fühlt sich die Verwaltung in Bern – wohl auch angesichts der guten Umfragewerte für die Initiative – dazu veranlasst, ihre eigene Vorstellung einer guten Familie und einer guten Familienpolitik zu präsentieren. «Es ist verständlich, dass die Menschen endlich einen Fortschritt in der Familienpolitik wollen. Das ist die Initiative der SVP allerdings nicht. Ein Ja zur Initiative hätte viele Verlierer als Konsequenz», sagt Sylvie Durrer, die Direktorin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung für Frau und Mann.
Eine vor einer Woche erschienene Nationalfonds-Studie hat eben erst den Zusammenhang zwischen dem Grad an Gleichberechtigung und dem Angebot an familienergänzender Betreuung nachgewiesen. Das etwas banale Resultat: Gibt es mehr Plätze in Kindertagesstätten geht der Beschäftigungsgrad der Väter leicht nach unten, der Beschäftigungsgrad der Mutter etwas stärker nach oben. Und das habe einen direkten Einfluss auf den Grad an Gleichberechtigung.
Die Mehrheit in der Schweiz stimmt anders ab als sie lebt.
Es geht für Sylvie Durrer um finanzielle Unabhängigkeit, um das Verwirklichen eigener Wünsche (viele Mütter möchten gerne mehr arbeiten als sie das momentan tun), um die Absicherung im Fall einer Arbeitslosigkeit, einer Krankheit des Partners, einer Scheidung. «Jede und jeder darf das Familienmodell wählen, das ihm passt», sagt Durrer. «Aber es ist unsere Aufgabe, auf die Risiken der verschiedenen Modelle hinzuweisen.» Das traditionelle Modell sei für die Mutter finanziell besonders riskant. Die Initiative der SVP setze in dieser Hinsicht die falschen Anreize. Es lohne sich heute immer noch zu wenig, als Mutter zu arbeiten – der Lohn wird aufgefressen von den Kinderbetreuungskosten, von den Steuern. Laut «Avenir Suisse» erreichen Teilzeit arbeitende Mütter einen Grenzsteuersatz von bis zu 90 Prozent. «Von einem verdienten Franken bleiben der erwerbstätigen Mutter in ungünstigen Fällen noch 10 Rappen», rechnete SP-Ständerätin Anita Fetz in ihrer Kolumne in der «Zeit» und nannte die SVP-Initiative ein «falsches Geschenk». Das ist auch die Stossrichtung von Sylvie Durrer. Mit einem Ja zur Initiative könnte es sich für viele Frauen eher lohnen, zuhause zu bleiben – obwohl sie das gar nicht möchten. Viele Familien hätten sowieso keine Wahl: Sie sind auf zwei Löhne angewiesen.
In der Berner Verwaltung ist die Haltung von Sylvie Durrer mehrheitsfähig, im Bundesrat noch nicht. Das lässt sich auch schön am Bericht zur Elternzeit ablesen, der diese Woche als Antwort auf einen Vorstoss von Anita Fetz erschienen ist. Im Bericht werden des Langen und Breiten die Vorzüge von Elternzeit und Vaterschaftsurlauben, wie sie viele Länder in Europa kennen, beschrieben. Dennoch sei die Einführung eines solchen Urlaubs in der Schweiz nicht prioritär – wohl auch weil sich die Wirtschaft vehement dagegen ausspricht. Stattdessen prüft der Bundesrat nun, ob er das Recht auf Teilzeit-Arbeit nach einer Vaterschaft (wie es die Bundesverwaltung bereits kennt) im Obligationenrecht verankern will. Der Bundesrat agiert vorsichtig, zurückhaltend, will die Bevölkerung nicht vor den Kopf stossen. Denn auch die Regierung weiss: Die Schweiz stimmt nicht so progressiv ab, wie sie lebt.
Quellen
Artikel zur CVP-Delegiertenversammlung in Tenero in der NZZ.
Die Basler Finanzdirektorin Eva Herzog über mögliche Steuerausfälle wegen der Familieninitiative.
«Hütet euch vor einem Ja!», Text in der WOZ.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 01.11.13