Mazedonien? Ah ja, da gibts einen Konflikt, aber worum gehts? Antworten

Mazedonien erlebt derzeit die grössten Proteste seit seiner Unabhängigkeit. Doch was passiert eigentlich in dem kleinen Balkanstaat, der lange Zeit ausserhalb des Fokus der EU lag? Unser Südosteuropakorrespondent mit den wichtigsten Antworten.

A protester waves a Macedonian flag over a man holding a sign which reads "Goodbye, Nikola" during an anti-government demonstration in Skopje, Macedonia, May 17, 2015. Tens of thousands of protesters took to the streets of Macedonia's capital on Sunday, waving Macedonian and Albanian flags in a dramatic display of ethnic unity against a government on the ropes after months of damaging wire-tap revelations. REUTERS/Marko Djurica (Bild: MARKO DJURICA)

Mazedonien erlebt derzeit die grössten Proteste seit seiner Unabhängigkeit. Doch was passiert eigentlich in dem kleinen Balkanstaat, der lange Zeit ausserhalb des Fokus der EU lag? Unser Südosteuropakorrespondent mit den wichtigsten Antworten.

Mazedonien erlebt derzeit die grössten Proteste seit seiner Unabhängigkeit. Mal gehen Zehntausende gegen die Regierung auf die Strasse, dann wieder Zehntausende für die Regierung. Doch was passiert eigentlich in dem kleinen Balkanstaat, der lange Zeit ausserhalb des Fokus der EU lag? Wird Mazedonien in den Konflikt zwischen dem «Westen» und Russland gezogen und droht gar ein neuer Bürgerkrieg auf dem Balkan?

Unser Südosteuropa-Korrespondent mit Antworten.

Wer lebt in Mazedonien?

Mazedonien hat etwa zweis Millionen Einwohner und ist einer der multikulturellsten Staaten Europas. Die Bevölkerungsmehrheit stellen die Mazedonier, deren nationale Identität prekär ist. Nationalistische Serben und Bulgaren vereinnahmen die Mazedonier gerne für sich und betrachten sie als ethnische Bulgaren oder ethnische Serben. Die Griechen wiederum werfen den Mazedoniern vor ihre kulturelle Identität zu stehlen, weil sie sich in ihrem nationalen Narrativ auf Alexander den Grossen und das antike Makedonien beziehen.

Historisch haltbar ist das nationale Narrativ der Mazedonier nicht. Die zweitgrösste Gruppe in Mazedonien stellen die Albaner mit rund 30 Prozent der Bevölkerung. Sie leben vor allem in den Gebieten, die an das Kosovo und Albanien angrenzen. In diesen Landesteilen gibt es albanische Parallelstrukturen von Schulen bis zu den Parteien.

Ein mazedonisches Nationalbewusstsein hat sich bei der albanischen Bevölkerung nicht durchgesetzt. In den Landesteilen, in denen Albaner und Mazedonier zusammenleben, beispielsweise in Kumanovo, ist die Situation nach 2001 relativ friedlich. Neben den beiden dominanten Gruppen stellen Serben, Türken und Roma die grössten Minderheiten.

Wer regiert Mazedonien?

Die amtierende Regierungspartei VMRO-DPMNE ist seit 2006 an der Macht. Seitdem ging es in Mazedonien mit den demokratischen Institutionen, bürgerlichen Freiheiten und der Pressefreiheit steil bergab. Die Übergänge zwischen Regierung und organisiertem Verbrechen sind fliessend.

In den vergangenen Jahren intensivierte sich die nationalistische Rhetorik der Regierung. 2008 verlor die VMRO-DPMNE die absolute Mehrheit und bildet seitdem mit der albanischen Partei DUI eine Koalition. Vorsitzender ist der ehemalige UCK-Kommandant Ali Ahmeti. Seine Partei betreibt Klientelpolitik für die albanische Bevölkerung in Mazedonien und gilt ansonsten als Erfüllungsgehilfe der VMRO-DPMNE. Beide Parteien haben das Land unter sich aufgeteilt und Zehntausende Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen, die nach Parteibuch vergeben werden.

Da es kaum eine funktionierende Privatwirtschaft in Mazedonien gibt, sind die Jobs beim Staat die existenzielle Grundlage vieler Menschen. Diese Klientelpolitik ist die Machtgrundlage der Regierung. Seit dem sogenannten Anti-Terror Einsatz in Kumanovo am 9. Mai fordern viele DUI-Mitglieder die Koalition aufzulösen. Ali Ahmeti zögert bislang und hält an der Koalition fest.

Wer ist die Opposition?

Die Opposition wird angeführt von Zoran Zaev. Es ist der Vorsitzende der sozialdemokratischen SDSM. Neben den Parteianhängern demonstrieren auch unabhängige Bürger und Studenten. Zwischen den beiden Gruppen gibt es Spannungen, weil die Sozialdemokraten zu ihrer Regierungszeit auch einige Korruptionsskandale zu verzeichnen hatten. Allerdings, so argumentieren viele Demonstranten, die sich nicht von der SDSM vereinnahmen lassen wollen, habe diese sich wenigstens an grundlegende demokratische Spielregeln gehalten und Mazedonien nicht in eine Diktatur geführt. Nüchtern betrachtet ist die SDSM die einzige Oppositionspartei, welche die Strukturen mitbringt, um eine neue Regierung zu stellen, falls die amtierende gestürzt wird.

Zudem gibt es viele Aktivisten, die aus dem NGO-Sektor kommen. Das liegt aber vor allem daran, dass es in den letzten Jahren in Mazedonien kaum möglich war, ohne ausländische Gelder Opposition zu machen.

Warum kam es zu Protesten?

Bereits vor einigen Monaten begannen Studenten auf die Strasse zu gehen, um gegen die Regierung zu demonstrieren, was jedoch langsam im Sande zu verlaufen drohte. Im Februar begann Zoran Zaev sogenannte Bomben zu zünden. Bei Medienkonferenzen spielt er regelmässig vertrauliche Gespräche zwischen hohen Regierungsmitgliedern vor. Auf den Tonbandaufnahmen ist auch die Stimme von Ministerpräsident Nikola Gruevski zu hören. Dabei handelt es sich um aufgezeichnete Gespräche zwischen hohen Regierungsmitgliedern, welche diese ernsthaft in Bedrängnis bringen. Bei den veröffentlichten Gesprächen geht es mitunter um Korruption, Amtsmissbrauch, Wahlbetrug und das illegale Abhören von rund 20’000 Bürgern.

Vor drei Wochen nahmen die Proteste wieder Fahrt auf, nachdem ein Tonband veröffentlicht wurde, in dem es um den Tod des damals 22-jährigen Martin Neskovski ging. Neskovski wurde im Juni 2011 von einem Polizisten zu Tode geprügelt. Aus den Tonbandaufnahmen geht hervor, dass ein Verfahren gegen den Polizisten von höchster Stelle verhindert wurde. Ministerpräsident Nikola Gruevski weisst alle Vorwürfe von sich und beschuldigt Zoran Zaev, mit nicht näher definierten «ausländischen Geheimdiensten» einen Staatsputsch zu organisieren.

Was passierte am 9. Mai in Kumanovo?

Am 9. Mai kam es in Kumanovo zu einer sogenannten Anti-Terror-Aktion gegen albanische Separatisten, bei der 18 Menschen starben. Die Regierung feierte den Polizeieinsatz als Erfolg. In der mazedonischen Opposition wird jedoch vermutet, dass es sich um eine Überreaktion der Regierung handelt, um ethnische Konflikte zu schüren und von der Krise abzulenken.

Albaner und Mazedonier leben in Kumanovo seit 2001 friedlich mit- und nebeneinander. Die mazedonische Zeitschrift «Fokus» berichtete von einem französischen PR-Berater, welcher der Regierung empfohlen haben soll «une petite guerre» anzuzetteln, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.

Kurz nach dem Einsatz in Kumanovo begann eine erste Rücktrittswelle innerhalb der mazedonischen Regierung: Innenministerin Gordana Jankulovska, Verkehrsminister Mile Janakieski und der Leiter des Geheimdienstes Sasho Mijalkov räumten ihre Posten. Letzterer ist der Cousin des amtierenden Premierministers Nikola Gruevski. Dass gerade die Innenministerin und der Chef des Geheimdienstes zurücktreten, erhärtet die Vermutung, dass der sogenannte Anti-Terror-Einsatz doch kein so grosser Erfolg war, wie von der Regierung propagiert.

Gibt es ethnische Konflikte oder droht gar ein neuer Bürgerkrieg?

2001 wäre es fast zu einem Bürgerkrieg in Mazedonien gekommen. Albanische UCK-Einheiten eroberten Teile des Landes und kämpften gegen mazedonische Einheiten. Ein Bürgerkrieg konnte durch das Rahmenabkommen von Ohrid verhindert werden. Damit entging Mazedonien einem Bürgerkrieg.

Nach dem sogenannten Anti-Terror-Einsatz in Kumanovo wurde viel über einen kommenden Bürgerkrieg in Mazedonien spekuliert. Es gibt durchaus Spannungen zwischen Mazedoniern und Albanern, doch die Situation vor Ort ist derzeit friedlich. Bei den Protesten gegen die Regierung sah man neben mazedonischen Flaggen auch viele albanische.

Bei den Protesten für die Regierung hingegen gab es keine albanische Flaggen, dafür aber viele russische, obwohl in Mazedonien kaum Russen leben. Als Beobachter kommt man nicht um die Schlussfolgerung herum, dass der amtierende Ministerpräsident Nikola Gruevski versucht ethnische Spannungen zu schüren, um sich an der Macht zu halten.

Letztlich ist trotz der Spannungen das Land von einem Bürgerkrieg weit entfernt.

Wie geht es weiter?

In anderen Ländern hätte die Regierung nach den Skandalen längst zurücktreten müssen. In Mazedonien sieht Nikola Gruevski weiterhin nicht ein, warum er seinen Posten räumen sollte. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Regierung teilweise auf Forderungen der Demonstranten eingeht. Vergangenen Dienstag kam es in Strassburg zu Gesprächen zwischen Nikola Gruevski und Zoran Zaev, deren Ergebnisse unbekannt sind.

So einfach wird die Regierung aber nicht aufgeben. Sollte die Rechtsstaatlichkeit nach Mazedonien zurückkehren und die Staatsanwaltschaft wieder mehr als der verlängerte Arm der Regierung sein, drohen dem Ministerpräsidenten, den Ministern und vielen anderen Funktionären Gefängnisstrafen. Auch deswegen werden sie ihre Macht nicht so einfach aufgeben.

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