Der Fall der Berliner Mauer war und bleibt ein grosser Gewinn. Im Nachhinein zeigt sich aber, dass man einige Schritte anders hätte gehen sollen. So manche Errungenschaft, die in Deutschland heute eingeführt wird, hätte man damals von der DDR übernehmen können.
Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Anschliessend wurde auch die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland geöffnet. Vor 24 Jahren vollzog sich die Deutsche Einheit. Diejenigen, die glaubten, dass man die DDR noch reformieren könne, mussten letztlich akzeptieren, dass es dafür viel zu spät war. Diejenigen, die so schnell wie möglich Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland werden wollten, müssen inzwischen akzeptieren, dass man einige Schritte anders hätte gehen sollen.
Zunächst gilt es festzustellen, dass die früheren Bürgerinnen und Bürger der DDR durch den Fall der Mauer und die Herstellung der Deutschen Einheit an Freiheit und Demokratie, an Reisemöglichkeiten, an Rechtsstaatlichkeit gewonnen haben. Seitdem kennen sie ein Angebot an Waren und Dienstleistungen, das ihnen vorher verschlossen war.
Auf der anderen Seite gibt es in einem Umfang Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Sorgen hinsichtlich der Bezahlbarkeit der Wohnungen, wie sie sie früher nicht kannten. Die Übersichtlichkeit und eine bestimmte Art der Solidarität sind verloren gegangen. Die Kriminalität hat derart zugenommen, dass eine neue Form von Angst entstanden ist.
Grössere Freiheit kann anstrengend sein
Zudem kann eine grössere Freiheit durchaus anstrengend sein. Entscheidungen werden einem nicht mehr abgenommen. Man muss versuchen, sie selbst verantwortungsbewusst zu treffen.
Bemerkenswert ist, dass das Interesse an der Demokratie insofern abnimmt, als die Wahlbeteiligung immer geringer wird. Bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer der DDR im März 1990 lag sie bei über 90 Prozent. Heute liegt sie bei Landtagswahlen im Osten schon unter der Hälfte der möglichen Stimmen.
Zunächst war der Fall der Mauer ein Irrtum. Das ist aber häufig so bei welthistorischen Ereignissen.
An den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls, habe ich eine gute Erinnerung. Zunächst war der Fall der Mauer ein Irrtum, ein Versehen. Das ist aber häufig so bei welthistorischen Ereignissen.
Eigentlich sollte Günter Schabowski auf seiner Pressekonferenz nur mitteilen, dass diejenigen, die die DDR für immer verlassen wollten, nicht mehr in westdeutsche Botschaften anderer Länder zu reisen brauchten, sie könnten direkt die Grenzübergangsstellen der DDR benutzen. Da er aber zwischen den unterschiedlichen Begriffen von «ständiger Ausreise» und «Ausreise» nicht unterscheiden konnte, erklärte er dies für alle Menschen mit Reisewünschen. Aber selbst wenn er es anders erklärt hätte, wäre es eben zwei Wochen später passiert.
Als ich die Gesichter im Fernsehen sah, wusste ich, wie man sich befreit fühlt. Ich selbst ging nicht nach Westberlin, weil ich seit Januar 1988 dienstlich die Möglichkeit hatte, in den Westen zu reisen. Ausserdem hatte ich am nächsten Morgen eine Gerichtsverhandlung. Ich hatte die Strafverteidigung für einen Mann übernommen, der des Mordes angeklagt war. Und ich kenne die deutsche Justiz. Die lässt doch eine Verhandlung nicht deshalb ausfallen, weil am Vortag ein welthistorisches Ereignis stattgefunden hat. Und so war es auch, die Verhandlung fand statt.
Der Anfang vom Ende
Ausserdem sagte ich meiner Lebenspartnerin, dass dies der Anfang vom Ende der DDR sei, was sie bestritt – wie man heute weiss, sollte ich recht behalten. Später, als ich Reformen für die DDR vorschlug, erinnerte sie mich an meinen Satz – und da hatte sie recht.
Für die Vereinigung gab es zwei Wege. Entweder man hätte eine neue Verfassung erarbeitet, die durch einen Volksentscheid in der DDR und in der BRD angenommen worden wäre – so sah es das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vor. Das hätte bedeutet, dass ein neuer deutscher Staat entstanden wäre, der die Rechtsnachfolge der DDR und der BRD angetreten hätte.
Diesen Weg wollte Helmut Kohl nicht. Er schlug stattdessen vor, dass die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitrat, und zwar gemäss Art. 23 des Grundgesetzes. Deshalb musste der Artikel hinsichtlich der Verfassung geändert werden. Alles ist dann auch so geschehen.
Da die Bundesrepublik Deutschland eindeutig gesiegt hatte, konnte sie nicht aufhören zu siegen. Das aber bedeutete, dass sie sich nichts im Osten angeschaut hat.
Über 90 Prozent musste man überwinden, aber es gab auch Dinge, die man in ganz Deutschland hätte einführen können. Das gilt z.B. für das flächendeckende Netz an Kindertagesstätten, für die Nachmittagsangebote zur Beschäftigung von Kindern an Schulen, für Polikliniken mit einem Hausarzt und allen Fachärztinnen und Fachärzten, für die Berufsausbildung mit Abitur, für die einfache Rechtssprache, für fortschrittlichere Bestimmungen für schwule Männer.
Wenn man Sieger ist, muss man lernen, mit dem Siegen aufzuhören. Sonst beginnt man zu zerstören.
Man hat sich nichts angesehen und hat nichts übernommen. Dadurch wurde das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gedrückt und die Westdeutschen hatten kein Vereinigungserlebnis. Mit anderen Worten, sie erlebten nicht, dass sich ihre Lebensqualität durch die Vereinigung mit dem Osten an irgendwelchen Punkten erhöhte.
Wenn jetzt im Nachhinein solche Dinge eingeführt werden, verbinden die Menschen das nicht mehr mit dem Osten. Das ist sehr schade, weil es anders hätte laufen können. Ich habe daraus die Schlussfolgerung gezogen: Wenn man Sieger ist, muss man lernen, mit dem Siegen aufzuhören. Sonst beginnt man zu zerstören.
Der Mauerfall war und bleibt ein grosser Gewinn.