Orwells «1984» feiert Comeback in Trumps 2017

Der dystopische Roman von George Orwell ist derzeit eines der meistgekauften Bücher auf Amazon. Der Klassiker bedient ein diffuses Gefühl der Ohnmacht und Sprachlosigkeit, das viele Amerikaner unter ihrem neuen Präsidenten empfinden.

Comeback eines Klassikers: «1984» stürmt 2017 die Buch-Charts.

Der dystopische Roman von George Orwell ist derzeit eines der meistgekauften Bücher auf Amazon. Der Klassiker bedient ein diffuses Gefühl der Ohnmacht und Sprachlosigkeit, das viele Amerikaner unter ihrem neuen Präsidenten empfinden.

Ist es nur Zufall? Oder gibt es ein Kausalzusammenhang? Seit Donald Trump im Weissen Haus per Dekret an Kongress und Ministerien vorbei regiert, ist George Orwells Roman «1984» bei Amazon an die Spitze der Bestsellerliste geschossen. Die Verkaufszahlen des Klassikers seien zu Jahresbeginn immer etwas höher, erklärte eine Sprecherin von Penguin, dem Verlag, der das Buch in den USA herausbringt, doch so einen Anstieg habe man noch nie registriert. Allein binnen einer Woche seien 75’000 Exemplare bestellt worden.

«1984» erzählt die Geschichte der totalitären Gesellschaft «Ozeanien», in der die Partei die Neueinführung einer Sprache («Neusprech») dekretiert. Die Hauptfigur Winston Smith arbeitet im «Ministerium für Wahrheit» an einer Überarbeitung des Wörterbuchs für Neusprech. Seine Aufgabe ist es, historische Wahrheiten durch staatlich zertifizierte «Fakten» zu ersetzen.

Orwells Klassiker haben wir bereits in unserer Rubrik «Kultwerk» behandelt

Viele erkennen in dieser Dystopie Analogien zur Gegenwart: Trump habe eine «Wirklichkeitskontrolle» ins Werk gesetzt und eine eigene Version von «Fakten» geschaffen. Hat Orwell mit seinem 1949 erschienenen Roman die Vorlage für Trump geschrieben?

Um zu verstehen, warum der Klassiker gerade jetzt neu entdeckt wird, lohnt ein Blick in die Kundenrezensionen auf Amazon. Der Leser L. Cameron schreibt: «Ich habe ‹1984› das erste Mal im Sommer 1973 gelesen, als stündlich neue Nachrichten über Watergate kamen. Es war einfach, die Verbindung zwischen dem Doppelsprech der Regierung und dem Doppeldenk Orwells zu sehen. Nachdem ich von ‹alternativen Fakten› und ‹Ich fühle, dass es wahr ist, also ist es wahr› hörte, griff ich erneut zu diesem Buch.»

Erstaunliche Parallelen

Orwell schrieb sein Buch unter dem Eindruck des Totalitarismus in der Sowjetunion unter Stalin. Die Rezeption eines Werks hängt freilich auch immer vom Zeitgeist ab. «1984» wurde in jeder Epoche anders gelesen: Mal als antitotalitäres Manifest, mal als Dystopie einer totalen Überwachung, nun als Warnung vor dem Trumpismus.

Es gibt in der Tat erstaunliche Parallelen zwischen «1984» und 2017. Orwell schreibt: «In Ozeanien hat heutigen Tags die Wissenschaft im althergebrachten Sinne fast aufgehört zu existieren. In der Neusprache gibt es kein Wort für ‹Wissenschaft›. Die empirische Denkweise, auf der alle wissenschaftlichen Errungenschaften der Vergangenheit fussten, widerspricht den fundamentalsten Prinzipien von Engsoz.» (Engsoz bezeichnet in «1984» die herrschende Weltanschauung in Ozeanien als Entsprechung zum Neo-Bolschewismus in Eurasien).

Das ist nah dran an Trumps alternativer Faktenmaschinerie. Trump verachtet die Wissenschaft. Der US-Präsident negiert den Klimawandel nicht, weil Umweltschutz seinen Interessen entgegen läuft, sondern weil es Wissenschaft ist. Auf der Webseite des Weissen Hauses taucht der Begriff «Klimawandel» nicht mehr auf. Der neue Hausherr führt nicht nur einen Krieg gegen die Medien, sondern auch einen gegen die Realität.

Wie Winston Smith in «1984» Korrekturen an die Zeitung «Times» heftet, erinnert an den Umgang von Trumps Beraterstab mit der Wirklichkeit.

Trumps Ignoranz gegenüber anderen Meinungen erinnert fatal an das Konzept des «Zwiesprechs». In «1984» heisst es: «Winston liess die Arme sinken und füllte seine Lungen langsam mit Luft. Seine Gedanken schweiften in die labyrinthische Welt des Zwiedenkens ab. Zu wissen und nicht zu wissen, sich des vollständigen Vertrauens seiner Hörer bewusst zu sein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte, gleichzeitig zwei einander ausschliessende Meinungen aufrechtzuerhalten, zu wissen, dass sie einander widersprachen, und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu führen; die Moral zu verwerfen, während man sie für sich in Anspruch nahm.»

Man kann daraus eine Vorhersage des «postfaktischen» Zeitalters lesen, bei dem es nicht mehr darum geht, Fakten zu widerlegen, sondern den politischen Gegner zu diskreditieren. Wie Winston Smith im Wahrheitsministerium seine sehsprechgeschriebenen Korrekturen an die Zeitung «Times» heftet und in Neusprache Leitartikel verfasst, erinnert tatsächlich an den Umgang von Trumps Beraterstab mit der Wirklichkeit, die die Besucherzahlen bei der Vereidigung dreist übertreiben und ihre Sicht der Dinge als «alternative Fakten» verklären.

Auch in Ozeanien «strömen die Lügen aus dem Televisor». Orwell schreibt weiter: «Alle für unsere Zeit charakteristischen Überzeugungen, Gewohnheiten, Geschmacksrichtungen, Meinungen, geistigen Einstellungen sind in Wirklichkeit dazu bestimmt, das Mystische der Partei aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass die wahre Natur der heutigen Gesellschaftsordnung erkannt wird.»

Wenn Emojis eine Sprache darstellen, dann wird die nicht von den Sprechern geprägt, sondern von den Programmierern.

Neue Aktualität verleiht «1984» nicht nur Trumps Präsidentschaft, sondern auch die Veränderung unserer Sprache im Zeitalter des Internets. Am Anfang bestand das Internet nur aus Text und Protokollen. Irgendwann kamen Videos. Dann kam das 140-Zeichen-Limit auf Twitter. Und dann folgten die Emojis, die gänzlich ohne Text auskommen. Die britischen Oxford Dictionaries haben 2015 erstmals ein Emoji zum Wort des Jahres gewählt.

Wenn Emojis eine Sprache darstellen, dann wird die nicht von den Sprechern geprägt, sondern von den Programmierern. Über die Aufnahme von neuen Emojis entscheidet das Unicode-Konsortium, eine «gemeinnützige» Organisation nach kalifornischem Recht mit Sitz in Mountain View, der alle grossen Tech-Konzerne von Google über Microsoft bis Apple angehören.

Apple lobbyierte erfolgreich bei dem für die Standardisierung zuständigen Gremium und verhinderte so die Aufnahme eines Pistolen-Emojis in den Unicode-Katalog. Wenn man von einem Samsung-Handy ein Pistolen-Emoji per SMS auf ein iPhone schickt, erscheint auf dem Apple-Gerät kein Colt, sondern eine grüne Wasserpistole. Waffenkontrolle funktioniert heute mit ein paar Codes.

Das Unicode-Konsortium wirkt wie eine Neuauflage des orwellschen Wahrheitsministeriums.

Die Tech-Konzerne bestimmen nicht nur die Regeln des Sagbaren und Schicklichen, sondern erlangen auch die (Deutungs-) Hoheit über Zeichen und Symbole. In der chinesischen Version von Skype können Nutzer Begriffe wie «Wahrhaftigkeit», «Campus-Aufstand» oder «Amnesty International» schon gar nicht mehr eingeben.

Vielleicht ist es ein diffuses Gefühl der Ohnmacht und Sprachlosigkeit, das Menschen heute wieder zu Orwells «1984» greifen lässt. Das Unicode-Konsortium wirkt wie eine Neuauflage des orwellschen Wahrheitsministeriums, das die englische Sprache durch eine um «schädliche» Begriffe gereinigte neue Sprache ersetzt und die übrig gebliebenen Worte von «unorthodoxen» Nebenbedeutungen reinigt.

Das Wort «frei» existiert nur noch als Konjunktion in Sätzen wie: «Dieses Feld ist frei von Unkraut». So wie in «1984» systematisch die Bedeutung von Wörtern demontiert wird, werden heute Fakten zerlegt. Syme vom «Ministerium für Wahrheit» sagt am Mittagstisch in der Kantine: «Es ist eine herrliche Sache, dieses Ausmerzen von Worten.»

Der Leser mag in diesen Wahrheitsmonteuren Gestalten wie Stephen Bannon oder Kellyanne Conway erkennen. Die merzen nicht Worte aus, sondern Fakten und arbeiten mit der Negierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen auch an der Abschaffung der Demokratie.

Nächster Artikel