Im Baselbiet tobt ein Streit um ein Buch. Er wird geführt von einem wütenden Mathematiklehrer und einer ehemaligen Treuhänderin – Jürg Wiedemann und Monica Gschwind. Diejenigen, die das Buch betrifft, die Französischlehrer, kommen in dem Streit fast gar nicht zu Wort.
Vordergründig geht es um die Frage, ob das Französisch-Lehrbuch «Mille feuilles» für den Unterricht geeignet ist oder nicht. Im Hintergrund schwelt aber ein politischer Machtkonflikt: Wiedemann, der Bildungspolitiker, gegen Gschwind, die Bildungsdirektorin, der Wiedemann einst zur Wahl verhalf.
Der Aufruhr um «Mille feuilles» beginnt nur wenige Wochen nach der ersten Unterrichtsstunde mit dem neuen Lehrmittel. 2011 führten sechs Kantone das neue Fremdsprachenkonzept «Passepartout» ein: Baselland, Basel-Stadt, Bern, Solothurn, Fribourg und Wallis.
Viel Aufwand, wenig Erfolg
Gemäss Passepartout soll Französisch neu bereits ab der dritten Klasse unterrichtet werden. Dafür wurde «Mille feuilles» entwickelt – um die Sprache spielerisch in den Unterricht einzuführen.
Das passte den Lehrpersonen offenbar gar nicht. Die «Berner Zeitung» gibt 2011 einen Lehrer wider, der dem Lehrmittel «schlechte Noten» ausstellt. Die Kritikpunkte waren damals vor sieben Jahren die gleichen wie heute: Zu viel Aufwand und die Kinder lernen kein korrektes Französisch.
Es ist die Art von Kritik, wie sie auch nach anderen Schulreformen zu hören ist. Bei «Mille feuilles» ist aber besonders, dass die Kritik durchgehend von den Medien aufgegriffen wird und sich die Empörung nicht legt.
Landrat will Ausstieg aus «Passepartout»
In keinem anderen Kanton ist die Empörung so gross wie im Baselbiet. Wiedemann und sein bildungspolitisch konservatives Komitee «Starke Schule» weibeln seit Jahren gegen das neue Fremdsprachenkonzept – mit Erfolg.
Der Landrat stimmte Wiedemanns Vorstoss Anfang dieses Jahres zu, aus Passepartout auszusteigen. Die nicht formulierte Initiative besagt unter anderem, dass «Mille feuilles», das Folgelehrmittel «Clin d’Oeil» sowie das Englischbuch «New World» nicht mehr eingesetzt werden dürfen. Ausgerechnet Wiedemann, der seinen Gegnern schon DDR-Ideologie vorwarf, forderte ein Lehrmittelverbot.
Bildungsdirektorin Gschwind war nach dem Landratsentscheid gefordert. Sie setzte eine Arbeitsgruppe ein, um den Passepartout-Ausstieg zu organisieren. In der Arbeitsgruppe sitzen auch Landrat Wiedemann sowie eine Vertreterin von «Starke Schule».
Wiedemann publiziert vertrauliches Papier
Nun läuft die Arbeitsgruppe nicht in die Richtung, wie es sich Wiedemann vorgestellt hat. Gschwind will nämlich eine Lehrmittelfreiheit, nach welcher der Kanton nur noch einige Lehrmittel empfiehlt – darunter wohl auch «Mille feuilles». Den Schulen und Lehrpersonen soll aber offen gelassen werden, welches sie verwenden. Ein Kompromiss, mit dem wohl die Mehrheit der Arbeitsgruppe leben könnte. Wiedemann nicht.
Wie erzürnt dieser war, zeigt sich wohl daran, dass er ein vertrautliches Dokument publik machte. Das interne Papier aus der Bildungsdirektion wurde in der Passepartout-Arbeitsgruppe herumgereicht, wenig später landete es auf der Website der «Starken Schule» und in Tausenden E-Mail-Postfächern, die die «Starke Schule» in ihrem Verteiler gespeichert hat. Das Papier ist laut Wiedemann der endgültige Beweis, dass «Mille feuilles» und «Clin d’Oeil» «völlig untaugliche Lehrmittel» sind.
Die Bildungsdirektion machte Wiedemann nach der Veröffentlichung darauf aufmerksam, dass das Papier vertraulich sei, worauf es Wiedemann wieder von der Website nahm. Wenige Tage später landete es jedoch in der «Basler Zeitung» mit der Überschrift «Vernichtende Kritik an ‹Mille feuilles›».
Falsch verstandenes Resultat
Das Lehrmittel falle in fast allen Belangen bei den Lehrpersonen durch, schrieb die BaZ. Was die Zeitung aber nur am Rand erwähnte: Das interne Papier war keine Umfrage, sondern das Ergebnis aus Hearings, bei denen sich die Lehrpersonen zum umstrittenen Lehrmittels äussern konnten.
Der Französischlehrer Renato Angst, der die Hearings als Moderator begleitete, sagt: «Wenn man eine Plattform erhält, sich zu äussern, liegt es in der Natur der Sache, dass eher Schwächen genannt werden.» Die Französisch-Lehrpersonen der Primarschule Reinach hätten sich zum Beispiel zusammen gesetzt und gezielt Kritikpunkte gesammelt, wie man das Lehrmittel verbessern könnte. Von einer Umfrage unter den Lehrpersonen sei nie die Rede gewesen.
Was die Lehrpersonen wirklich vom umstrittenen Lehrmittel halten, darauf gibt es hingegen klare Hinweise. Die Primarlehrerkonferenz befragte knapp 1000 Primarlehrpersonen aus dem ganzen Kanton zu einem Verbot von «Mille feuilles»: Nur 16 Prozent der Befragten waren für ein Verbot und 59 Prozent dagegen. Der Rest beantwortete die Frage nicht.
In einer Petition fordert die Konferenz deshalb, dass «Mille feuilles» weiterhin verwendet wird. Sämtliche 40 Delegierten entschieden am Treffen der Konferenz einstimmig, die Petition zu unterschreiben.
Grosse Zustimmung in der Stadt
Die «vernichtende Kritik» an «Mille feuilles» – war es ein Skandal, der nur in den Augen von Wiedemann einer war? Vieles deutet darauf hin.
Die Hysterie blieb aber nicht ohne Folgen: Wiedemann droht mittlerweile mit einer neuen Initiative zur Umsetzung des Lehrmittelverbots – einer Durchsetzungsinitiative gegen «Mille feuilles». Und in Basel-Stadt reichte die GLP-Grossrätin Katja Christ einen Vorstoss ein, der auf die «vernichtende Kritik» in der BaZ Bezug nimmt.
Dabei ist die Zustimmung zu «Mille feuilles» unter den Lehrpersonen im Stadtkanton noch grösser als auf dem Land. Die Kantonale Schulkonferenz, die staatliche Vertretung der Lehrpersonen, befragte die Lehrerinnen und Lehrer 2017 nach ihrer Zufriedenheit mit Passepartout und «Mille feuilles». Dabei kam heraus: Der allergrösste Teil der Lehrpersonen – rund 80 Prozent – «unterrichtet gerne mit den obligatorischen Lehrmitteln», also auch mit «Mille feuilles».
Intern diskutieren, statt politisieren
Jean-Michel Héritier von der freiwilligen Schulsynode, der zweiten Lehrervertretung in Basel-Stadt, räumt ein, dass es berechtigte Kritikpunkte an «Mille feuilles» gebe. Diese würden sehr ernst genommen und hätten dazu geführt, dass das Lehrmittel laufend angepasst werde.
Warum ist das Lehrmittel in der Öffentlichkeit überhaupt umstritten, wenn die Mehrheit der Lehrpersonen dahinter steht? «Die Reformgegner werden als Meinungsmacher in Baselland sehr stark wahrgenommen», vermutet Héritier.
«Den ‹Mille feuilles›-Gegnern geht es häufig nur darum, zu polarisieren, was das Klima grundlegend vergiftet.»
Christine Koch, ehemalige SP-Landrätin und Primarlehrerin, findet es ebenfalls erstaunlich, «dass die Kritik an ‹Mille feuilles› in der öffentlichen Diskussion so wahnsinnig viel Platz einnimmt». Ausserdem meint sie: «Die Primarlehrpersonen wollen konstruktive Lösungen suchen, von der anderen Seite, namentlich vom Komitee ‹Starke Schule›, sehe ich diese Intention nicht.» Den «Mille feuilles»-Gegnern gehe es häufig nur darum, zu polarisieren, was das Klima grundlegend vergifte.
Eigentlich müsste die Frage, welches Lehrmittel geeignet sei und welches nicht, eher intern diskutiert werden – in der Bildungsdirektion, im Bildungsrat, an den Schulen. Dort müsse man Lösungen suchen und nicht über politische Diskussionen, sagt Koch.
Wiedemann und Gschwinds Verhältnis ist zerrüttet
Der Landrat – das ergab ein kürzlich beantworteter Vorstoss – debattiert rund 20 Prozent seiner Zeit über Bildung. Häufig im Zentrum der Schulpolitik steht: Jürg Wiedemann.
Sein Komitee gibt in der Bildungspolitik den Ton an. Dadurch beeinflusste er die Wahl von Monica Gschwind vor dreieinhalb Jahren entscheidend mit. Ob er sie bei den Wahlen im kommenden Frühjahr wieder unterstützt, ist fraglich. Denn das Verhältnis zu Gschwind ist offenbar zerrüttet.
«Ich habe mit der ‹Starken Schule› keinen Vertrag», sagte Gschwind kürzlich in einem Interview mit der «bz Basel» auf die Frage, ob ihr Verhältnis zu Wiedemann abgekühlt sei. De facto ist die Auseinandersetzung der erste grössere Streit zwischen den beiden.
Gerne hätte die TagesWoche auch von Landrat Jürg Wiedemann und dem Komitee «Starke Schule» gewusst, wie sie den Streit und das Verhältnis zu Gschwind bewerten. Zwei E-Mail-Anfragen sowie zahlreiche Anrufe blieben jedoch unbeantwortet.