In den kurdischen Provinzen der Türkei wächst die Angst der Bevölkerung vor einer massiven Militäroffensive gegen die verbotene PKK. Tausende Menschen fliehen aus den Dörfern in die Städte.
Männer, Frauen, Kinder wandern in langen Trecks über Landstrassen und Feldwege. Manche ziehen ihre Habseligkeiten in Rollkoffern hinter sich her, andere schleppen prall gefüllte Reisetaschen. Väter tragen ihre Kinder auf den Schultern. Diese Bilder kommen einem bekannt vor, sie stammen aber nicht vom Balkan.
Während Tag für Tag Tausende Flüchtlinge aus der Türkei über Griechenland nach Europa strömen, bahnt sich in Südostanatolien ein neues Flüchtlingsdrama an: Zehntausende Kurden fliehen aus Dörfern und kleineren Ortschaften in die Städte, aus Angst vor einer bevorstehenden Grossoffensive des türkischen Militärs gegen die Rebellen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Seit die PKK im vergangenen Sommer nach einer mehr als zweijährigen Waffenruhe den bewaffneten Kampf wieder aufnahm und die Regierung den Friedensprozess für gescheitert erklärte, gibt es fast täglich Tote bei Anschlägen der Kurdenguerilla und Feuergefechten der Rebellen mit der Armee.
Anfang Woche landeten auf dem Flughafen von Sirnak mehrere Militärmaschinen, die Soldaten und Gerät brachten.
In vielen Bezirken der Südosttürkei haben die örtlichen Gouverneure Ausgangssperren verhängt, die teils schon seit Wochen in Kraft sind, so in den Ortschaften Cizre, Silopi, Sirnak, in Stadtteilen von Mardin und Nusaybin sowie in Sur, einem Innenstadtbezirk der kurdischen Metropole Diyarbakir. Hier wurde am 28. November der Vorsitzende der örtlichen Anwaltskammer und prominente Menschenrechtsanwalt Tahir Elci von unbekannten Attentätern auf einer Friedenskundgebung erschossen.
Immer mehr Menschen versuchen kurze Pausen in den Ausgangssperren zu nutzen, um in die grösseren Städte oder in den Westen des Landes zu flüchten. In den kurdischen Provinzen kursieren Gerüchte über eine bevorstehende Grossoffensive des Militärs gegen die PKK. Anfang dieser Woche landeten auf dem Flughafen von Sirnak mehrere Militärmaschinen, die Soldaten und Gerät brachten.
Für Angst in der Bevölkerung sorgt auch, dass Tausende Lehrer die Region verlassen haben. Sie sollen mit Textnachrichten von den Behörden aufgefordert worden sein, sich zur «Weiterbildung» in ihre Heimatorte im Westen zu begeben. Viele Schulen in der Region sind bereits geschlossen. Sakine Esen Yilmaz, Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, interpretiert die Rückrufe als Anzeichen einer bevorstehenden Militäroperation.
Erinnerung an die Vertreibung von einer Million Menschen in den 1990er-Jahren
Die Situation erinnert an die 1990er-Jahre, als der Kurdenkrieg seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurde mehr als eine Million Menschen aus ihren Dörfern vertrieben. Ganze Landstriche wurden entvölkert, Tausende Dörfer von der Armee zerstört, um der PKK Unterschlupfmöglichkeiten zu entziehen. Wie damals gerät auch heute die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten des Konflikts.
In Cizre, einer Hochburg der PKK, versuchten Rebellen, die Menschen an der Flucht zu hindern, indem sie ihnen die Autoschlüssel abnahmen und Strassensperren errichteten. Als ein Auto mit Flüchtlingen an einer solchen Kontrollstelle nicht stoppte, eröffneten die PKK-Rebellen das Feuer und erschossen einen 15-Jährigen. Cizre gilt als Schwerpunkt einer möglichen Offensive des Militärs gegen die PKK. In Teilen der Stadt haben die Rebellen bereits Schützengräben ausgehoben.
Auch in Diyarbakir wird die Lage immer explosiver. Im Stadtteil Sur erschoss die Polizei am Montag zwei Demonstranten. Sie seien bewaffnet gewesen, hiess es. Die Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen eine Demonstration vor, die sich gegen die Ausgangssperre richtete. Die Geschäfte blieben geschlossen, der öffentliche Nahverkehr wurde eingestellt. Anwohner berichteten, man höre in den Strassen fast ständig Schüsse und Explosionen. Es gibt keinen Strom, die Lebensmittel werden knapp. Rund 10’000 Bewohner sollen bereits aus Sur geflüchtet sein.