Viele Opfer des Massakers sind noch immer nicht identifiziert, die Hinterbliebenen müssen Abschied in Raten nehmen

20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica arbeiten internationale Wissenschaftler an der Identifizierung der Opfer. Für die Angehörigen bedeutet das die Chance auf Abschied – und ist gleichzeitig eine enorme psychische Belastung.

Wand mit Porträts der Opfer in der Galerie 11/07/95 in Sarajevo. / Wall with portraits of victims from the 1995 Srebrenica genocide at the Galerija 11/07/95 in Sarajevo.

(Bild: Michael Biach , n-ost)

20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica im Juli 1995 fehlen immer noch viele Opfer, noch mehr sind nicht identifiziert. Internationale Wissenschaftler nehmen sich dieser Arbeit an. Für die Angehörigen bedeutet das die Chance auf Abschied – und ist gleichzeitig eine enorme psychische Belastung. Ein Besuch in Tuzla und Sarajevo.

Es sind schmerzliche Erinnerungen, auf die Habiba Masic zwei Jahrzehnte nach dem Massaker von Srebrenica zurückblicken muss: Am 11. Juli 1995 wurde sie, wie Tausende andere Frauen in der Enklave, von ihren Liebsten getrennt. «An diesem Tag konnte ich meine Söhne zum allerletzten Mal in den Arm nehmen», erinnert sich die heute 60-Jährige.

Nach der Erstürmung durch bosnische Serben werden mindestens 8372 Männer und Jungen systematisch ermordet. Auch ihr Ehemann und die damals 18- und 19-jährigen Söhne Sadmir und Sadem überleben den Genozid nicht, ihre Leichen bleiben verschollen. «Niemand wusste, wo ihre Körper geblieben sind», klagt Masic. Die Leichen, nach dem Massaker zunächst in Massengräbern – auch Primärgräber genannt – begraben, wurden später durch Soldaten exhumiert und die Leichenteile auf unterschiedliche Orte, sogenannte Sekundärgräber, im ganzen Land verteilt.



Wand mit Porträts der Opfer in der Galerie 11/07/95 in Sarajevo. / Wall with portraits of victims from the 1995 Srebrenica genocide at the Galerija 11/07/95 in Sarajevo.

Wand mit Porträts der Opfer in der Galerie 11/07/95 in Sarajevo. (Bild: Michael Biach , n-ost)

Um die unzähligen Vermissten der Balkankriege zu finden und zu identifizieren, wurde 1996 das Internationale Komitee für vermisste Personen (ICMP) gegründet. Zehntausende Knochen in mehr als 300 Sekundärgräbern wurden seitdem entdeckt. «Überreste vieler Opfer fanden wir in vier unterschiedlichen Gräbern», berichtet Dragana Vucetic, forensische Anthropologin des ICMP. Die Identifizierung eines Toten wird dadurch problematisch. In einer ungekühlten Leichenhalle in Tuzla lagern die Säcke mit Gebeinen der Ermordeten. «Identifiziert sind bei Weitem noch nicht alle», berichtet Vucetic und schaut auf Knochen, die vor ihr auf dem Seziertisch liegen.

Ein Tropfen Blut für die Suche nach den Söhnen

Werden Überreste in Gräbern oder bei Entminungsarbeiten gefunden, kommt ein komplexer Prozess in Gang: Zuerst werden die Funde katalogisiert, dann werden kleine Stücke der Knochen ins nahegelegene Labor gebracht. «Bei uns angekommen, werden die Proben dekontaminiert, bevor wir versuchen, brauchbare DNA daraus zu bestimmen», sagt Edin Jasaragic, Chef der Identification Coordination Division (ICD).



Dragana Vučetić, Senior Forensic Anthropologist at the International Comitee for Missing Persons (ICMP), with human remains found in a secondary mass grave.

Dragana Vučetić, Forensische Anthropologin am ICMP, mit Überresten aus einem sogenannten Sekundärgrab. (Bild: Michael Biach , n-ost)

Im Kühlraum des ICD lagern über 90’000 Blutproben von Verwandten von knapp 30’000 Vermissten aus den Balkankriegen. Diese Referenzproben sind für die Identifizierung unerlässlich. «Ich wurde auch gebeten, einen Tropfen Blut abzugeben», erinnert sich Habiba Masic – und an das Versprechen des ICMP, damit ihren Mann und ihre Söhne zu identifizieren.

Dem Komitee gelang 2002 weltweit die erste Identifizierung einer vermissten Person ausschliesslich durch DNA-Bestimmung. Doch nicht immer sind die Wissenschaftler erfolgreich. «Knochen, die fast 20 Jahre der Witterung ausgesetzt waren, sind problematisch», erklärt Jasaragic und zeigt Überreste, die in einem Wald bei Srebrenica gefunden wurden.

Mit der Identifikation beginnt die belastende Zeit

In Sarajevo präsentiert Ana Bilic, Chefin des DNA-Labors in der Hauptstadt, einen würfelförmigen Automaten. «Damit ist es uns möglich, aus kleinsten Mengen Erbgut für die Identifizierung notwendige grosse Stränge zu reproduzieren.» Tatsächlich hat sich seit der Gründung des ICMP viel getan. «Als wir anfingen, mussten wir Tote anhand ihrer Kleidung oder persönlicher Gegenstände identifizieren», erinnert sich Bilic. Mittlerweile konnten mehr als 6200 Opfer im Rahmen der seit 2003 jeweils zum Jahrestag des Massakers stattfindenden Begräbnisse in Potocari beerdigt werden.



Clothings found during demining activities by Norwegian People's Aid (NPA) in Srebrenica area. After the enclave had been stormed by Bosnian Serb troops hundreds of people tried to escape through mined area.

Früher der einzige Hinweis auf die Identität: Kleider von Opfern, norwegische Forscher fanden sie in der Nähe von Srebrenica. (Bild: Michael Biach , n-ost)

Sobald Knochen identifiziert sind, werden die Hinterbliebenen kontaktiert. Damit beginnt für sie eine psychisch enorm belastende Zeit, denn selten wird ein kompletter Körper gefunden. «Ich bekam einen Anruf, dass Teile meines Mannes entdeckt wurden», erzählt Masic schmerzlich. Der Körper war auf vier Massengräber verteilt. Im ersten befand sich ein Fuss, in einem weiteren beide Arme, wieder woanders entdeckten die Wissenschaftler gebrochene Rippen und schliesslich den Kopf des Mannes.

Der Körper von Masics Mann war auf vier Massengräber verteilt. Im ersten befand sich ein Fuss, in einem weiteren beide Arme, wieder woanders entdeckten die Wissenschaftler gebrochene Rippen und schliesslich den Kopf.

2009 meldet sich das ICMP erneut bei Masic. «Ich wurde verständigt, dass man einen meiner Söhne gefunden hat, aber sie wussten nicht welchen.» Immer wieder stehen die Mitarbeiter des ICMP vor der sensiblen Frage, ob sie bei neu identifizierten Knochen Angehörige benachrichtigen oder besser warten, bis der komplette Körper gefunden wird. Es sind ethische, aber auch religiöse Gründe, die die meisten Verwandten dazu bewegen, mit der Beerdigung zu warten, bis alle Körperteile entdeckt wurden. «Welchen Namen sollte ich denn auf den Grabstein schreiben? Sadmir? Sadem?», fragt Masic. Während dieser Zeit hoffte sie täglich auf die erlösende Nachricht.



Menschliche Überreste, ein Schädel, Knochen und kleine Fragmente, die in der Gegend um Srebrenica gefunden wurden. Das Bestimmen der DNA ist nach 20 Jahren sehr schwierig. / Human remains including a skull, bones and small fragments found near Srebrenica. After 20 years on surface it is hard to extract any DNA.

Menschliche Überreste, ein Schädel, Knochen und kleine Fragmente, die in der Gegend um Srebrenica gefunden wurden. Das Bestimmen der DNA ist nach 20 Jahren sehr schwierig. Auch im Fall von den Verwandten von Habiba Masic. (Bild: Michael Biach , n-ost)

Schliesslich konnten beide Söhne identifiziert und beerdigt werden. «Fast 20 Jahre musste ich warten, um meine Kinder zu begraben. Niemand kann nachvollziehen, wie schlimm das ist», sagt Masic. Auch die Mitarbeiter des ICMP zeigen sich nach jeder Identifizierung erleichtert. Ana Bilic macht klar, worum es bei der Arbeit der Wissenschaftler geht: «Den Opfern ihre Namen und den Hinterbliebenen ihre Toten zurückzugeben.»

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