Vor dem 20. Jahrestag des Mordes an 8000 Muslimen in Srebrenica gibt es Misstöne. Serbien stösst sich an einer UN-Resolution, die angeblich nicht erwähnt, dass es auf allen Seiten Opfer gab. Derweil kehren die Muslime langsam nach Srebrenica zurück.
Hasan wippt mit dem Fuss und raucht unablässig, während er erzählt. 19 Jahre war er alt, als er in der Nacht zum 11. Juli 1995 in die Wälder floh, bevor die Serben nach Srebrenica kamen. Eine Woche lang, nachts, unter Beschuss, lief er nach Norden – dorthin, wo die bosnische Armee die Oberhand hatte. Mit 3000 anderen erreichte er Tuzla. Seinen Vater und seinen Zwillingsbruder sah Hasan nicht wieder. Ihre Leichen wurden zehn Jahre später in Massengräbern entdeckt, 50 Kilometer von Srebrenica entfernt.
Rund 8000 Männer und Jungen hat die bosnisch-serbische Armee unter ihrem Befehlshaber Ratko Mladic nach der Einnahme von Srebrenica ermordet. Ein Genozid, wie das UN-Tribunal in Den Haag urteilte. 20 Jahre danach sind die Wunden nicht verheilt. Das zeigt die Debatte über die Resolution, über die am Dienstag im UN-Sicherheitsrat abgestimmt wurde. Serbien lehnt den von Grossbritannien eingebrachten Text ab, weil dieser nicht die Opfer auf allen Seiten würdige. Der serbische Premier Aleksandar Vucic liess lange offen, ob er am Samstag zur Gedenkfeier fährt, am Mittwoch teilte er dann mit, dass es Zeit wäre zu zeigen, «dass wir bereit sind zur Aussöhnung».
Vucic, heute klar europäisch ausgerichtet, war bis zur Gründung der Serbischen Fortschrittspartei SNS im Jahr 2008 einer der Kaderleute der Radikalen Partei, also der einstigen Kriegshetzer. Dasselbe gilt für den heutigen Präsidenten Tomislav Nikolic, der zwar 2013 in einem Interview «auf Knien» um Verzeihung bat, sich aber weigert, an der Gedenkfeier zum 20. Jahrestag teilzunehmen. Er hat Moskau gebeten, die UN-Resolution per Veto zu stoppen, was Russland dann auch tat. Die Serben stossen sich am Wort «Genozid»: Der Staat Serbien sei nicht wegen Genozids verurteilt worden, sondern deshalb, weil er diesen nicht verhindert habe.
Verstimmung zwischen Sarajevo und Belgrad
Zu Verstimmungen zwischen Sarajevo und Belgrad kam es bereits im Juni, als die Schweizer Polizei Naser Oric festnahm. Der Ex-Chef der bosnisch-muslimischen Armee in Srebrenica gilt vielen Bosniaken als Held. Die Schweiz lieferte Oric aber nicht an Belgrad aus, das ihn wegen Kriegsverbrechen verfolgt, sondern an Sarajevo, wo die Justiz ihn auf freien Fuss setzte. Orics Truppen hatten zu Kriegsbeginn 1992/1993 mehr als 50 serbische Dörfer um Srebrenica zerstört, viele Hundert Menschen sollen getötet worden sein. Aus Mangel an Beweisen wurde Oric in dieser Sache vom UN-Tribunal in Den Haag freigesprochen.
Als Orics Soldaten in der Nacht zum 11. Juli 1995, gefolgt von vielen Zivilisten, aus der UN-Schutzzone Srebrenica ausbrachen, waren die 30’000 muslimischen Flüchtlinge den bosnischen Serben ausgeliefert. Diese erschossen die kampffähigen Männer an verschiedenen Orten in der Nähe.
Überreste von Opfer bei Sandici in der Nähe von Sarajevo. Die Forensiker – im Bild Murat Hurtic – gehen davon aus, dass es sich um Muslime aus Srebrenica handelt. Das Bild stammt vom Juni 2004. (Bild: LEM)
Hasan war in der Nacht mit den Soldaten geflohen. «Ich lief aus einem Bauchgefühl heraus im vorderen Teil der Kolonne», erzählt er. «Wer hinten war, dem haben die Serben den Weg abgeschnitten.» Wie seinem Vater und seinem Zwillingsbruder. Deren Gebeine ruhen heute auf dem Friedhof der Gedenkstätte Potocari, wo 6500 Opfer begraben sind. Die Gebeine von weiteren 800 befinden sich in Tuzla zur Identifizierung. 1000 Opfer liegen noch in Massengräbern, zahlreiche andere sind noch nicht identifiziert.
Bosniaken kehren zurück
Das rechnet Camil Durakovic vor. Auch er ist damals, 16 Jahre alt, sieben Tage lang um sein Leben gelaufen. 2005 kam er zurück nach Srebrenica, seit drei Jahren ist er dort Bürgermeister. Die Stadt hat heute 7000 Einwohner – eine Hälfte serbisch, die andere muslimisch.
6500 Opfer des Massakers liegen auf dem Gedenkfriedhof Potocari begragen, jedes Jahr kommen neue Gräber dazu. (Bild: DADO RUVIC)
Langsam kehren die muslimischen Bosniaken nach Srebrenica zurück – und das ist nicht erstaunlich: Schon vor dem Bürgerkrieg war die Stadt mit fast 80 Prozent Muslimen eine Enklave. Vom damaligen Leben mit 37’000 Einwohnern ist man aber weit entfernt. Viele Häuser stehen leer, der Kurbetrieb aus jugoslawischen Zeiten ist tot. Die Bergwerke, einstiger Reichtum der Stadt, beschäftigen nur noch ein paar Hundert Leute. Und die gut 100’000 Besucher, die jährlich zur Gedenkstätte kommen, lassen den Ort schnell wieder hinter sich.
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Viele Opfer des Massakers sind noch immer nicht identifiziert, die Hinterbliebenen müssen Abschied in Raten nehmen und auf modernste DNA-Technik hoffen: Den Toten einen Namen geben
Artikelgeschichte
– Interviews in Srebrenica mit Bürgermeister Camil Durakovic und dem Überlebenden Hasan
– Telefoninterview mit dem Leiter der Gedenkstätte in Potocari