Wer den «Betroffenheitskult» auf Facebook verhöhnt, hat Öffentlichkeit 2015 nicht verstanden

Die Verarbeitung der Anschläge von Paris findet zu einem beträchtlichen Teil auf sozialen Netzwerken statt. Das führt zu Diskussionen.

Die Verarbeitung der Anschläge von Paris findet zu einem beträchtlichen Teil auf sozialen Netzwerken statt. Das führt zu Diskussionen.

In Kilometern gedacht scheint Paris weit weg von Basel. Zu Fuss schafft man es nicht an einem Tag, der TGV benötigt drei Stunden. Dennoch fühlten sich die Twitter-Nachrichten, die am Freitag, den 13. November ab 22 Uhr den Kurznachrichtendienst überrrollten, unglaublich nah an.

Die Tweets wirkten unmittelbar und real. Dass der Strom der Nachrichten dann nicht abriss, sondern immer weiter anschwoll, verstärkte das Bild: Die Anschläge sind bis in die eigene Stube, bis zum eigenen Smartphone vorgerückt. 

Eine Flut aus verwackelten Videos mit unscharfen Bildern von aufgescheuchten Menschenmassen und dumpfen Detonationsgeräuschen drang und dringt noch immer durch unser virtuelles Fenster zur Welt. Das rohe, ungefilterte Chaos aus Eindrücken, Meinungen und Meldungen erschüttert uns. Es erschüttert uns, weil wir vielleicht schon einmal in Paris oder sogar im Bataclan waren, es erschüttert uns, weil Freunde in Paris wohnen, es erschüttert uns, weil wir in den verwackelten Handyvideos den eigenen Blick wiedererkennen. Was bleibt, ist eine virtuelle Traumatisierung, die sich real anfühlt.

Der Gedanke, unvermeidlich, das könnte ja auch «ich» sein. Ein Gedanke, der uns den Tod vor Augen führt, Angst macht. Der Gedanke: Was wird jetzt passieren?

Diese Angst findet an vielen Orten ihren Niederschlag: In den Einschaltquoten und Klickzahlen der Massenmedien, im sorgenvollen Gespräch am Frühstückstisch und an Orten, die irgendwo zwischen diesen zwei Polen oszillieren, auf Facebook, Twitter, Instagram.

Soziale Medien als Fenster zur Welt 

Was sich seit einigen Jahren abzeichnet, tritt in diesen Tagen mit einer gewaltigen, pointierten Deutlichkeit zutage: Soziale Medien sind für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung das Fenster zur Welt, eine zentrale Instanz der Realitätskonstruktion. Angefeuert von einer Flut aus Breaking News, Solidaritätsbekundungen, Artikelhinweisen, eingefärbten Profilbildern und «Wir-sind-auch-ein bisschen-selber-schuld»-Selbstkasteiungen hallen die Schüsse von Paris im digitalen Raum millionenfach verstärkt nach und sorgen dafür, dass die Attentäter ihren Terror in mehr Herzen tragen können als je zuvor.

Das Gefühl kompletter Ohnmacht im Angesicht dieses Schreckens ist nur schwer auszuhalten. Social Media geben einem die Illusion, etwas zu tun, auch wenn es nur ist, einen virtuellen Knopf zu drücken. Und wirken so als Ventil, um die Geschehnisse zu verarbeiten. Wer bestimmt hierbei, wo echte Betroffenheit aufhört und opportunistische Selbstdarstellung beginnt?

Insofern blenden die fast schon reflexartigen Verschmähungen eines angeblich heuchlerischen Betroffenheitskultes diesen wichtigen Punkt aus: In einer Zeit, in der wir konditioniert sind, unseren Gedanken und Emotionen auf sozialen Medien Ausdruck zu verleihen, ist das eine natürliche, fast zwangsläufige Reaktion. Und so tobt im Nachgang der Anschläge unter dem blauen Balken von Facebook ein Kampf um die richtige Meinung, um Deutungshoheit, um die «richtige» Trauer, um Schuld und Unschuld.

Liebe intelligente Freunde hier auf Facebook. Was ich jeweils im Nachgang eines terroristischen Grossereignisses bei…

Posted by Bernhard Brechbuehl on Sunday, November 15, 2015

 

Die Anschläge in Paris rufen Erinnerungen an den 11. September 2001 wach. Die mediale Verarbeitung der Ereignisse ist aber eine andere. Vor 14 Jahren flimmerten die zusammenstürzenden Zwillingstürme in immer gleichen Fernsehbildern durch unsere Wohnzimmer. Die verwackelten, grobkörnigen Amateurvideos fanden erst nach und nach ihren Weg an die Öffentlichkeit, in vergleichsweise leicht verdaulichen Tranchen. Das einem solchen Ereignis innewohnende Chaos wurde von professionellen Nachrichtenredaktionen in Form gebracht und in die Welt hinausgetragen, die Interpretationen oblagen den Experten und Korrespondenten der Massenmedien, die Reaktionen der breiten Öffentlichkeit fanden weitgehend im privaten Rahmen statt.

Diese geordnete Medienrealität gibt es nicht mehr. Das Chaos, die Bilder und Eindrücke scheinen unendlich, Meinungen und Interpretationen kursieren in einer unfassbaren Parallelität. Verschwörungstheorien, Hetze gegen Flüchtlinge und Kriegs- und Rachegelüste finden ungefiltert ihren Weg in die Öffentlichkeit.

Sprachlos suchen wir nach Worten, um diese Ereignisse einzuordnen. Das ist oft hässlich, führt zu Problemen und Konflikten. Ist aber letztendlich Ausdruck unserer Werte, so wie es der Besuch eines Konzertes im Bataclan, das Singen von Fussballliedern im Stade de France und der Bistrobesuch nach Feierabend auch sind. Denn: Nicht jeder kann seine Sprachlosigkeit so eloquent zum Ausdruck bringen, wie Jan Böhmermann.

 

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