Wie die Amerikaner sich vor 20 Jahren in Bosnien durchsetzten – und sich dabei verschätzten

Alle sollen sich zusammensetzen und statt zu schiessen so lange sitzen bleiben müssen, bis sie sich geeinigt haben: Dieser Traum aller Kriegsopfer und Vertriebenen wurde im November 1995 tatsächlich einmal wahr.

(Bild: Krsto Lazarević)

Alle sollen sich zusammensetzen und statt zu schiessen so lange sitzen bleiben müssen, bis sie sich geeinigt haben: Dieser Traum aller Kriegsopfer und Vertriebenen wurde im November 1995 tatsächlich einmal wahr.

Um die 100’000 Tote, mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben und in der Hauptstadt Sarajevo die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts: Das war die vorläufige Bilanz des grössten europäischen Krieges seit 1945.

Nach dreieinhalb Jahren Granatenbeschuss und «ethnischen Säuberungen» kamen unter amerikanischem Druck die Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien mitsamt ihren umfänglichen Delegationen in Klausur auf einem Luftwaffenstützpunkt in Ohio zusammen. Nach drei Wochen stieg weisser Rauch in den kalten Himmel des Mittleren Westens. Die drei Präsidenten unterzeichneten ein Friedensabkommen. Die Waffen schweigen bis heute.

Was die Welt für ein Wunder hielt oder wenigstens halten sollte, war in Wirklichkeit nur der dramatische Schluss eines langen, sorgfältig ausgearbeiteten Drehbuchs. Geschrieben hat es Anthony Lake, der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Bill Clinton und heute Präsident des UNO-Kinderhilfswerks Unicef. Regie führte der US-Diplomat Richard Holbrooke, der zuvor für eine kurze Zeit auch Botschafter in Bonn war.

Erst: Europas Blamage

Als Jugoslawien auseinanderbrach und im Sommer 1991 die ersten Schüsse fielen, hatte zunächst die Stunde Europas geschlagen, wie der damalige EG-Ratspräsident, der luxemburgische Aussenminister Jacques Poos, feierlich erklärte. Aber die EG-Troika mit Poos‘ italienischem und niederländischem Amtskollegen, Gianni De Michelis und Hans van den Broek, scheiterte kläglich bei dem Versuch, einen offenen Krieg zu verhindern. 

Nachdem Europa sich blamiert hatte, kamen die Vereinten Nationen ins Spiel, schickten Blauhelme, konnten dem Töten aber ebenso wenig ein Ende setzen. Die USA, seit dem Zerfall der Sowjetunion einzige Weltmacht, hielten sich heraus. Unter Präsident George Bush père galt die Doktrin, Amerika habe in Jugoslawien keine Interessen, ausser im Kosovo – wegen dessen Nähe zur Südflanke der Nato.

Dann: Der Einzug von Clinton ins Weisse Haus

Das änderte sich schlagartig, als im Januar 1993 der Demokrat Bill Clinton ins Weisse Haus einzog. Sein Aussenminister Warren Christopher scherte sich nicht um die fruchtlosen Friedensbemühungen der UNO in Genf. Die Amerikaner knöpften sich als Erstes Kroatien und dessen Präsidenten Franjo Tuđman vor: Zagreb sollte aufhören, die bosnischen Kroaten in deren Kampf gegen die bosnische Zentralregierung in Sarajevo zu unterstützen und stattdessen gemeinsam mit den Muslimen gegen die Serben kämpfen. Im Gegenzug sollte das Land militärische Unterstützung aus den USA bekommen.

Der Deal gelang.

An der ständigen Genfer Friedenskonferenz vorbei schafften es die Amerikaner im März 1994, mit Muslimen und Kroaten zwei der drei Kriegsparteien zu versöhnen. Die «Föderation» entstand, ein ethnisch sorgfältig austariertes Gebilde aus zehn Kantonen. Sie besteht noch heute und ist eine der beiden «Entitäten», aus denen der komplizierte Staat besteht.

Clintons Diplomatie verstand sich gut mit Russland unter Boris Jelzin. So kam auf russische Anregung wenige Wochen nach der Einigung zwischen Muslimen und Kroaten eine «Kontaktgruppe» mit Vertretern der USA, Russlands, Frankreichs, Grossbritanniens und Deutschlands zustande. Dort übernahm der robuste Holbrooke sofort die Führung. Nach nur einem Vierteljahr legte die Gruppe einen gemeinsamen Friedensplan vor.

Bosnien-Herzegowina sollte als Staat erhalten bleiben, intern aber aufgeteilt werden: Die muslimisch-kroatische Föderation sollte 51 Prozent des Territoriums umfassen, die Republik Srpska, die sich für unabhängig erklärt hatte, auf den restlichen 49 Prozent eine Teilrepublik werden. Es war schon der vierte Friedensplan, aber der erste hinter dem eine Drohung der Weltmacht USA stand.

Das Drehbuch des Plans war dasjenige eines Kriegsfilms

Der Kontaktgruppenplan folgte dem Drehbuch eines Kriegsfilms, nicht dem einer Friedensromanze. Die Serben hielten damals etwa 70 Prozent des bosnischen Territoriums. Am Verhandlungstisch hätten sie niemals ein Drittel ihres Gebietes aufgeben können; die eigenen Leute wären ihnen nicht gefolgt. Damit der Plan der Kontaktgruppe Chancen auf Annahme hatte, mussten sich zuerst die Verhältnisse auf dem Boden denen auf der propagierten Landkarte angleichen. Auf dem Boden, das hiess: im Krieg.

Holbrooke reiste nach Sarajevo, nach Zagreb und vor allem immer wieder nach Belgrad, um den dortigen Präsidenten Slobodan Milošević mit Lockungen und Drohungen ins Boot zu holen. Es gelang, aber es blieb ein Problem: Offiziell war Milošević in Bosnien gar nicht der Herr des Geschehens; das waren vielmehr die bosnischen Serben unter Radovan Karadžić, mit denen Belgrad gerade gebrochen hatte. Milošević konnte nur verdeckt agieren und seine faktische Gewalt über die bosnisch-serbische Armee nützen. Es durfte nicht so aussehen, als hätte der Präsident Serbiens die Gebiete der bosnischen Serben verspielt. Mit anderen Worten: Die serbische Armee sollte sich freiwillig zurückziehen, aber das Volk sollte es nicht merken.

Der Beginn des «Endspiels»

So begann, was Clintons Berater Tony Lake später das «Endspiel» nannte. Beobachter der UNO wunderten sich im Winter 1994/95 über nächtliche Flugbewegungen auf den gesperrten Flughäfen in Bosnien. Es war die US-Luftwaffe, welche die bosnische und vor allem die kroatische Armee mit Waffen versorgte. Damit brachen die Amerikaner zugleich das Waffenembargo und das Flugverbot, die der Weltsicherheitsrat über Bosnien verhängt hatte. Aber der zuständige UNO-Untergeneralsekretär für die Missionen ignorierte die Berichte. Zwei Jahre später setzten die Amerikaner «ihren» Mann bei der UNO als Nachfolger des sperrigen Ägypters Boutros Boutros-Ghali durch. Seine Name: Kofi Annan.

Wie von unsichtbarer Hand stellten sich nun nach und nach die Verhältnisse ein, welche die Kontaktgruppe wollte. Die kroatische Armee drang vor, die serbische zog sich zurück, und die serbische Bevölkerung folgte ihr. Gekämpft wurde kaum und nur zum Schein. So leerten sich im Mai und August 1995 die kroatische Krajina und im September auch Westbosnien um die Kleinstädte Drvar, Glamoc und Grahovo, die seit Jahrhunderten fast rein serbisch waren. Seither sind sie kroatisch.

Mladić rieb sich nicht am Rückzug, sondern am Ziel der Einheit

Der Generalstabschef der Republik Srpska, Ratko Mladić, liess es geschehen. Als seine Truppen Hals über Kopf Westbosnien räumten, weilte der gefeierte «Stratege» in Belgrad, angeblich um sich Nierensteine entfernen zu lassen. Nicht an der Umverteilung des Territoriums rieb sich Mladić, sondern an dem Plan, Bosnien als gemeinsamen Staat zu erhalten.

Um jede Versöhnung auf Dauer zu verunmöglichen, liess er seine Leute Mitte Juli 1995 rund um Srebrenica 8000 gefangene Muslime ermorden. Auch Tage später hielt noch kaum jemand das monströse Verbrechen für möglich. Alle, auch die Muslime in Sarajevo, dachten, die Einnahme der ostbosnischen Enklave sei wieder nur ein abgesprochenes Geplänkel. Ein grauenhafter Irrtum. Die Lehre ist: Wer mit Armeen spielt, schliesst einen Pakt mit dem Teufel.

Mitte Oktober trat ein Waffenstillstand in Kraft, und am 1. November trafen die Präsidenten Bosniens, Serbiens und Kroatiens mit ihren Trossen sowie die Delegationen der fünf Kontaktgruppenstaaten zu einer grossen Klausur auf der Wright-Patterson Air Force Base in Ohio ein. Drei Wochen lang wurde um die letzten Feinheiten des Friedensplans gerungen und gefeilscht. Am Ende holte Clinton die Kontrahenten ins Weisse Haus und liess sie einander die Hände reichen. Mitte Dezember wurde der Friedensvertrag in Paris feierlich unterzeichnet.

Die Muslime wollten möglichst viel Einheit, die Serben und Kroaten möglichst wenig – ein Kompromiss konnte nur unbefriedigend sein.

Bosnien bekam mit dem Vertrag auch eine Verfassung und besteht seither rechtlich aus drei «Nationen», von denen jede ein Vetorecht besitzt – und aus zwei territorialen «Entitäten», deren eine sich wiederum aus zehn Kantonen zusammensetzt. Dass die komplizierte Konstruktion kaum funktionieren würde, war den internationalen Vermittlern klar: Die Muslime wollten möglichst viel Einheit, die Serben und Kroaten möglichst wenig – ein Kompromiss zwischen den unvereinbaren Ansprüchen konnte nur unbefriedigend sein.

Die Vermittler hofften insgeheim, dass sich nach einigen Jahren eine einigende Dynamik einstellen würde und die umständlichen Regeln wieder abgeschafft werden könnten. Aber die Hoffnung trog. Die «Hohen Repräsentanten» der Dayton-Unterzeichnerstaaten versuchten es in den folgenden Jahren im Guten wie im Bösen; Bosnien blieb gespalten.

Aus heutiger Sicht, sagt der damalige deutsche Delegationsleiter Wolfgang Ischinger im Interview, hätte man wohl eine Revisionsklausel in den Vertrag einbauen müssen – also eine vorgemerkte Überarbeitung nach vielleicht drei Jahren. Mit Beitrittsanreizen aus der EU, meint Ischinger, wäre dann vielleicht etwas weitergegangen.

Gemeinsam scheint es nicht zu gehen, dabei wäre das der Grundstein für eine Zukunft

Zwanzig Jahre nach Dayton arbeitet die Zeit heute nicht mehr für die Einigung, sondern für die Teilung. Eine Generation ist herangewachsen, die ihre Altersgenossen aus der anderen Volksgruppe kaum mehr kennt. Sarajevo ist heute fast rein muslimisch, ein grosser Teil des Umlands serbisch – aber die Serben kaufen lieber in einer öden Shopping Mall auf eigenem Territorium ein, als in die attraktive Hauptstadt zu fahren.

Zwar streben alle drei Volksgruppen in die EU, schon um der Bevormundung durch die anderen zu entgehen. Brüssel aber macht zur Bedingung, dass sie zuerst untereinander ein funktionierendes Staatswesen schaffen. «Catch 22» nennen die Amerikaner eine solche paradoxe Anforderung – nach einem Roman aus der Welt des Krieges.

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Vor 20 Jahren beendete eine Reihe von Unterschriften den Bosnienkrieg. Das Töten hat damals aufgehört, aber wie weit ist der Frieden gekommen? Die TagesWoche wollte es genau wissen, unser Korrespondent Krsto Lazarević ist eine Woche durchs Land gezogen und hat Menschen befragt. Entstanden ist eine Porträtserie, deren Einzelgeschichten Sie nachfolgend aufgelistet finden.

Wer sich ein Bild vom Land machen will, dem empfehlen wir den Bildstoff – aber auch die Erklärung des politischen Systems, schliesslich gilt es als das komplizierteste der Welt.

Getrennte Schulen und ihre Wirkung: Grundschullehrerin Nela Rajić erzählt.

Die Islamisten kommen zum Kaffee: Was die Teilung des Landes zur Folge hat, erzählt Blagoje Vidović.

Auch Flutopfer brauchen das richtige Parteibuch: Jasminka Arifagić über den Klientelismus im Land und seine leidigen Folgen.

Der Frieden diskriminiert diejenigen, die keinen Krieg führten: Das Dayton-Abkommen hat Minderheiten im Land nicht berücksichtigt. Welche Folgen das hat, erzählt Boris Kozemjakin, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Sarajevo.

Jugend braucht Perspektiven statt Vorurteile: Milan Todorović gehört der Nachkriegsgeneration an. Als Serbe unter Bosniaken aufgewachsen, engagiert er sich mit einer selbst gegründeten Organisation für die Jugend.

Damals Flüchtling, heute erfolgreiche Unternehmerin: Interview mit Enisa Bekto, die ins Land zurückgekehrt ist und sagt: «Frauen sind besser qualifiziert».

«Tod dem Nationalismus»: Die Proteste gegen Privatisierung in Tuzla 2014 waren nicht nationalistisch motiviert, sagt Journalist Kušljugić im Interview.

Bosnien bleibt immer Teil meiner Identität: Selma Merdan ist vom Krieg geflüchtet und hat in Basel eine neue Heimat gefunden.

Zudem erklärt Autor Norbert Mappes-Niediek, wie das Friedensabkommen genau zustandegekommen ist und welche Fehler begangen wurden:

Wie die Amerikaner sich vor 20 Jahren in Bosnien durchsetzten – und sich dabei verschätzten

Im Interview hat Mappes-Niediek zudem mit dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger – Leiter der deutschen Delegation in Dayton – über die Fehler von damals und Parallelen zum Syrienkrieg gesprochen:

«Bis heute ist aus dem Waffenstillstand kein wirklicher Friede geworden»

Den gesamten Schwerpunkt in der Übersicht finden Sie in unserem Dossier zum Thema.

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