Schwungvoll rollt Linus Güthe ins Wohnzimmer. Er schaut in die Runde, lässt ein Lächeln aufblitzen. Mit einem kurzen «Hallo!» grüsst er Papa Felix und Mama Sarah und kommt an den Tisch. Gemächlich streckt er die Hand aus und greift sich ein Glas. Für die Wasserflasche reicht die Kraft nicht aus. Sarah schenkt ihm ein.
Defekt im Bauplan
Linus’ Muskeln werden von Moment zu Moment schwächer. Er hat einen Fehler in den Genen. Muskeldystrophie Typ Duchenne, so lautet die Diagnose. Dem 13-Jährigen fehlt das Genprodukt Dystrophin. Ohne das Protein bauen sich seine Muskeln schneller ab, als sich die Zellen teilen und vermehren. Auf 3500 männliche Geburten passiert das nur einmal.
Der Gendefekt kann sich wie bei Linus auch aufs Gehirn auswirken. Linus spricht mit 13 Jahren nur bruchstückhaft. Lesen, Schreiben und Rechnen liegen nicht drin.
Duchenne beginnt harmlos. Nach Linus’ Geburt bemerken Felix und Sarah lediglich eine verzögerte Entwicklung. Bücher und Freunde zerstreuen die elterlichen Sorgen. Bis auch das nicht mehr weiterhilft. Es folgt ein Marathon: Ärzte, Spezialärzte, Bluttests, Gehtests. Bis die Diagnose vorliegt. «Der Moment ist übel», sagt Sarah. «Vor allem als uns klar wurde, wie es mit unserem Sohn weitergeht.»
Duchenne wird immer schlimmer
Erst verschwinden die Rumpfmuskeln, der Gang wird krumm. Dann schwindet die Kraft in den Füssen, Beinen und Armen – zuletzt im Herz und in der Atemmuskulatur. Kaum ein Duchenne-Patient wird älter als dreissig Jahre. Das sind die Aussichten für das junge Elternpaar und Linus.
Noch rollt er munter umher. Er lässt sich zu seinem Aquarium mit Goldfischchen stossen. Kommt alleine zurück an den Tisch. Will wissen, wovon wir sprechen. Die Eltern erzählen gerade von den Bürden des Alltags. Linus werde immer schwerer und brauche immer mehr Hilfe. Beim Anziehen, auf der Toilette, beim Essen.
Der Rollstuhl ist sein ständiger Begleiter. Das schränkt ein. Vor allem bei der Wohnungssuche. Eigentlich hätten Felix und Sarah lieber etwas Günstigeres. Oder eine Altbauwohnung. Oder eine in der Agglomeration. Das kommt alles nicht infrage. Seit letztem Herbst unterstützt Frau Balsiger von der Kinderspitex die Familie einmal die Woche. Gerade hilft sie Linus aufs Klo. Plötzlich wird Linus quengelig. Durch die Tür dringt Weinen und Geschrei.
«Er hat wohl zu viel mitgehört», sagt Felix. «Sonst sind wir nicht ganz so direkt», sagt Felix. Die Realität schmerzt.
Stufenweise nach unten
Die Krankheit lässt sich nicht verdrängen. Hat man sich an eine Verschlechterung gewöhnt, kommt schon die nächste. Letzten Februar war es bei Linus besonders gravierend. Beim Treppensteigen gibt der Fuss nach, knickt um und bricht. In den folgenden Wochen baute sich der Muskel im Gips rasant ab.
Im Standardtest sind seine Werte eingebrochen: In sechs Minuten läuft Linus gerade einmal 20 Meter. Die letzten drei Jahre vor dem Unfall schaffte er 300 Meter. Duchenne wird schubweise schlimmer, nicht gleichmässig.
Je schwächer Linus’ Muskeln werden, desto mehr Kraft müssen Felix und Sarah aufwenden. Einerseits um Linus im Alltag zu helfen, andererseits mit den Behörden. Kurz vor dem Unfall wurde Linus von der Invalidenversicherung (IV) neu eingeschätzt. Sie übernimmt den Grossteil der Kosten. Nicht nur für den Rollstuhl und andere Hilfsmittel, sondern auch für die Hilfeleistungen, die Linus braucht.
Die IV entschied, dass Linus nur bedingt hilflos sei, also stets Hilfe, aber keine ständige Betreuung brauche. Das war vor dem Unfall, als ihm das Gehen und Stehen nicht so schwerfiel. Von einer Woche auf die nächste ist der Aufwand der Eltern um ein Vielfaches gestiegen.
IV will sparen
«Bis die IV zusätzliche Entlastungsbeiträge bewilligt, kann im schlimmsten Fall ein ganzes Jahr vergehen», sagt Christina Stadelmann. Die Sozialarbeiterin bei der Schweizerischen Muskelgesellschaft kennt etliche ähnliche Fälle. Sie berät die Familien im Umgang mit der IV. Die Versicherung stehe unter politischem Spardruck und biete daher kaum Hilfestellung, welche Kriterien Antragssteller erfüllen müssen.
«Wir helfen den Eltern dabei, die Schwächen ihrer Kinder aufzuzeigen», erklärt Stadelmann. Es sei wichtig, dass die IV-Vertreter sähen, mit welchen Herausforderungen die Angehörigen täglich konfrontiert sind.
Stadelmann kennt die Strategien der kantonalen IV-Stellen. So lege die IV ihre Evaluationstermine gerne auf 15 Uhr. Um diese Zeit sind die nicht schulpflichtigen Kinder ausgeschlafen und haben Energie. «Dann leisten sie Dinge, die sie am Abend nicht mehr können», sagt Stadelmann. Treppensteigen zum Beispiel. Um 19 Uhr geht das nicht mehr und die Kinder müssen getragen werden. Oder tun sich dabei weh. Wie Linus, der beim Unfall gerade müde von der Schule war.
Für Hilfsbeiträge ist nicht die Diagnose entscheidend, sondern die tatsächliche Einschränkung. Entsprechend prüft die IV jeden Fall einzeln. Darum sei es effizienter, die Betroffenen statt die IV zu beraten, so Stadelmann. «Die IV-Evaluation dauert rund eine Stunde, die Betroffenen leben 24 Stunden täglich mit der Behinderung.»
Bis jetzt keine Heilung
Was die Familie Güthe wirklich braucht, kann auch die grosszügigste IV nicht bieten: ein heilendes Medikament. Bis jetzt existiert es nicht. Im bunten Dosierer, den Linus von der Mikrowelle in der Küche holt, liegen trotzdem einige Kapseln. Co-Enzym Q10, Vitamin D, Kreatin, Citrullin und Kortison. Nur das Kreatin und das Kortison wirken nachweislich bei Duchenne-Fällen.
«Die anderen Medikamente sind eigentlich bloss Placebo», sagt Felix. Sie seien zwar wichtig für den Muskelbau, aber wirklich helfen tun sie wohl nicht. «Jeder hat eine Geheimrezeptur, an die er glaubt», sagt Sarah. «Bei manchen schwappt es sogar ins Esoterische hinüber.»
Unterdessen arbeiten Forscher auch an Pillen, die die Krankheit heilen könnten. Die Ansätze sind vielfältig. Sie reichen von der Manipulation der defekten Gene über Therapien mit gesunden Stammzellen und Hormonen zur Zweitverwendung vorhandener Medikamente. Zum Teil mit Erfolg. Dann allerdings nur für einen kleinen Prozentsatz aller Duchenne-Kinder. Andere Studien sind noch ganz am Anfang. So hat Dr. Hesham Hamed von der Universität Genf das Brustkrebsmittel Tamoxifen erfolgreich an Duchenne-Mäusen getestet.
Erster Erfolg aus Basel
Wirklichen Erfolg hatte bisher aber nur ein Medikament derFirma Santhera. Im Liestaler Büro des Pharma-Unternehmens stehen gleich mehrere Büchsen davon in der Vitrine. Raxone heisst das Medikament und soll den Patienten beim Atmen helfen. Irgendwann ab 20 Jahren können Duchenne-Erkrankte ihre Lungen nicht mehr selber vom Schleim befreien.
Die Muskulatur ist zu schwach zum Husten. Raxone stabilisiert die Atmungsfunktion, das zeigen Studien. «Bei behandelten Patienten war das Risiko geringer, an Atemwegsinfektionen zu erkranken», sagt Geschäftsführer Thomas Meier.
Das bedeutet weniger Spitalbesuche und weniger Antibiotika-Behandlungen. In ein paar Monaten soll das Medikament für Duchenne-Patienten in der EU zugelassen werden. Es wäre das erste Medikament für Duchenne Muskeldystrophie auf dem Markt. Die Behandlung kostet rund 55’000 Franken im Jahr.
Felix und Sarah Güthe wollen mehr. «Am liebsten wäre uns ein Medikament, das Linus in der Entwicklung deutlich weiterbringt.» Motorisch oder kognitiv. Es geht um Selbstständigkeit im Alltag. «Es sieht im Moment nicht gut aus», relativiert Andrea Klein, leitende Ärztin für Neuropädiatrie am UKBB. Trotzdem gebe es Grund zur Hoffnung. «Die Ansätze sind heute vielfältiger als noch vor zwei Jahrzehnten.» Mit den Forschungsansätzen sei auch die Chance auf einen Erfolg gestiegen.
Forschung aus der Sammelbüchse
Diese Meinung teilen auch die Wissenschaftler in der Aula des Naturhistorischen Museums. Hier, unter den Augen der wichtigsten historischen Professoren an den Wänden, honoriert die Stiftung für die Erforschung der Muskelkrankheiten (SSEM) ihre Arbeit.
Seit rund 30 Jahren vergibt die SSEM in diesem Fachgebiet Stipendien. Nicht nur uneigennützig. Gründer Jacques Rognon hatte zwei Söhne mit Becker, der leichteren Form von Duchenne. Einer der beiden lebt noch. Als 1982 die Diagnose auf dem Tisch lag, gab es so gut wie keine Forschung auf diesem Gebiet. Mangels Hilfe begann Rognon in seinem Netzwerk Geld zu sammeln. Später brachten Sammelaktionen wie Telethon der Stiftung mehrere Millionen Franken.
Rognon investierte in die Forschung. Unter anderem lieferte er das Startkapital für Santhera, das nun erste Erfolge erzielt. Für seine Söhne kommt der Fortschritt zu spät: Sein erster Sohn starb an Leukämie. Und die Krankheit des zweiten Sohnes ist zu weit fortgeschritten.
Kein Grund für Investitionen
Dass eine Stiftung diese Forschung ankurbeln muss, liegt Rognon zufolge an den fehlenden Anreizen: Für grosse Gewinne sei der Markt zu klein, das Risiko zu gross. «Es braucht eine Verlängerung des Patentschutzes um fünf Jahre», sagt Rognon. Wer ein Medikament für eine seltene Krankheit gefunden hat, soll länger davon profitieren. Damit die Gesundheitskosten deswegen nicht in die Höhe getrieben werden, brauche es ausserdem eine Rückversicherung für Krankenkassen. Rognon kämpft für diesen Plan. Er hat ihn bereits Bundesrat Alain Berset vorgelegt.
Zusätzliche Investitionen können mithelfen, die immensen Studienkosten zu decken. Aber auch mit zusätzlichen Mitteln bleibt die Erforschung der seltenen Krankheiten schwierig. Zum Beispiel wegen dem Mangel an Studienteilnehmern: Die wenigen Erkrankten müssen dem Anforderungsprofil entsprechen und dann in Studiengruppen eingeteilt werden. Trotzdem bewerben sich immer wieder betroffene Familien. Es ist das Einzige, was sie im Kampf gegen die Krankheit tun können.
Linus hat unterdessen seine Pillen wieder im Dosierer versorgt. Vielleicht findet sich darin irgendwann ein Medikament, das ihn gesund macht. Und im allerbesten Fall würde Linus dann nicht mehr zur Mikrowelle rollen, sondern gehen. Sich an dieser Hoffnung festzuhalten, kostet viel Kraft.
Kraft, die Felix, Sarah und Linus im Alltag fehlt.