Der Videobeweis ist ein Angriff auf das Wesen des Spiels

Die Bundesliga startet in die Rückrunde und damit geht auch die Debatte um den Videobeweis wieder los. Unser Autor sieht ein halbes Jahr nach der Einführung die dramaturgische Konstruktion des Spiels beschädigt und fragt sich, ob die virtuelle Realität das Stadion als einen der letzten Orte authentischer Erfahrung frisst.  

Machen Sie bitte eine typische Handbewegung: der deutsche Fifa-Schiedsrichter Felix Brych kommuniziert per Funkverbindung und Headset mit einem Keller in Köln.

Georg Heitz war auch nach dem Spiel noch beeindruckt. Der frühere Sportdirektor des FC Basel hatte sich zum ausgehenden Jahr die Bundesligapartie SC Freiburg gegen Borussia Mönchengladbach angeschaut und dabei eine bemerkenswerte Szene erlebt. Als Schiedsrichter Deniz Aytekin den Match in der 19. Minute unterbrach und auf Penalty entschied, hatten sich auf der Tribüne rechts und links von ihm Freiburger Fans echauffiert. Es hiess: «Unmöglich!» Und: «So kann es nicht weitergehen!»

Das Erstaunliche: Der Referee hatte Penalty für den Sport-Club gegeben. Davor war das Spiel nach einer Intervention eines Verteidigers gegen Freiburger Angreifer Nils Petersen noch fast eine Minute weitergelaufen, bevor der Videoassistent eingegriffen und Referee Aytekin zur späten Korrektur animiert hatte. Petersen verwandelte zum spielentscheidenden 1:0 für Freiburg.

Die strittige Szene in Freiburg in der Zusammenfassung bei «Dazn»

Was Heitz auf der SC-Tribüne erlebte, mag besonders skurrile Züge tragen. Gleichwohl steht es für den Stand der Diskussion, die in Deutschland die Emotionen hochgehen lässt, seit Anfang dieser Saison der Videobeweis in der Bundesliga (wie unter anderem auch in der italienischen Serie A und der niederländischen Eredivisie) am Ernstfall erprobt wird.

Das deutsche Fussballfachblatt «Kicker» konstatierte zum Ende der Hinrunde desillusioniert: «Der grösste Verlierer des Jahres ist der Videobeweis, der zu Saisonbeginn in der 1. Liga eigentlich eingeführt worden war, um den Fussball gerechter zu machen. Doch statt Gerechtigkeit herrscht Unzufriedenheit und Verwirrung.»

Aber warum eigentlich? Weshalb gilt beispielsweise Aytekins nachträglicher Freiburger Penalty wegen des unstrittigen Foulspiels an Petersen den Befürwortern als ausdrücklicher Beleg für die Sinnhaftigkeit des Videobeweises? Und wieso werten gleichzeitig die Gegner die (übrigens von beiden Seiten kritisierte) grosse zeitliche Distanz zwischen Foulspiel und Pfiff nur als weiteres Indiz dafür, dass er so nicht funktionieren kann?

«Früher genügte ein Sekundenbruchteilblick zum Schieds- oder Linienrichter, dann überschwemmte einen das mit fulminanter Wucht daherkommende Fussballgefühl. Riesige Freude, riesiger Ärger, Wut, Entsetzen», notierte Peter Unfried in der «taz» die geänderten Verhältnisse. «Das ist vorbei, seit es in der Fussball-Bundesliga den sogenannten Videobeweis gibt», so Unfried weiter und: «Man kann sich aus dem Moment heraus weder freuen noch kann man sich ärgern, weil man nicht mehr weiss, ob das eine Gefühl angebracht ist oder das gegenteilige.»

Wer als Fussballfan die Schockstarre beim ominösen Griff des Schiedsrichters zum Headset schon selbst erfahren hat, weiss was der Fussballkenner Unfried meint. Wer Zeuge wurde, wie sich gleichzeitig eine nervöse Unsicherheit und Angespanntheit unter den Spielern auf dem Rasen und den Zuschauern auf den Tribünen breit macht; wer den anschliessenden langen, einsamen Gang des Referees mitverfolgt hat zur sogenannten Video Area, wo er gebeugt auf die aus einem verdunkelten Raum in Köln eingespielten Bilder schaut, während er per Funk mit dem weit entfernten Videoassistenten kommuniziert, zurück zum Tatort schreitet und schliesslich mit einer Geste signalisiert: «Videobeweis».

Wer dieses enervierende Ritual der reformierten Rechtsprechung auf dem Rasen ein paar Mal durchgestanden hat, der kennt auch seine Konsequenz: das Gefühl der Aushöhlung all jener Spontanität, die das Stadionerlebnis im Kern konstituiert.

Sind latente Ungerechtigkeit und der Schiedsrichter als Projektionsfläche nicht Teil der dramaturgischen Konstruktion?

Mehr Gerechtigkeit war die öffentlich erklärte Zielvorgabe beim Start des Probelaufs. Das wurde erreicht. Aytekins Freiburger Elfer ist nur ein Beispiel für drei Viertel der Fälle, in denen gemäss DFB-internen Auswertungen regeltechnisch betrachtet zu Recht nachjustiert wurde. Erklärt sich das spürbare Unbehagen gegenüber der Videobeweiskultur am übrig bleibenden Viertel fehlerhafter Korrekturen? Und am häufig langen Warten auf die Entscheidung beim oftmals gleichzeitigen Unwissen der Stadionbesucher um was es überhaupt geht?

Oder müsste man grundsätzlicher fragen? Wer hatte eigentlich mehr Gerechtigkeit gefordert? Anders gedreht: Litt die Popularität des Spiels unter den fehlerhaften Schiedsrichterentscheidungen? Oder noch ketzerischer: Sind latente Ungerechtigkeit und der Schiedsrichter (wahlweise die von ihm bevorteilten Bayern) als Projektionsfläche nicht sogar Teil der dramaturgischen Konstruktion des Spiels und damit seiner Beliebtheit?

Die neue Videowelt in der Bundesliga: Der Schiedsrichter (hier Benjamin Cortius beim Spiel Stuttgart-Köln im Oktober 2017) begutachtet am Spielfeldrand noch einmal die elektronischen Bilder einer strittigen Szene…
…und entscheidet dann zum Entsetzen (hier von Kölns Captain Matthias Lehmann) neu.

In Deutschland hat diese Popularität in den letzten drei Jahrzehnten durch den Einstieg des Privatfernsehens in die Fussball-Berichterstattung noch einmal einen gewaltigen Schub erhalten. Mit riesigen Kameraaufgeboten in den Stadien wurde die bis dahin stilprägende, nüchterne Eins-zu-eins-Berichterstattung nach den Massgaben eines emotionalisierten Infotainments durchgestylt, und en passant entstanden damit auch die technischen Voraussetzungen für die Installation des Videobeweises.

Inzwischen kann auf Bundesligaplätzen kein Grashalm mehr gekrümmt werden, ohne dass das Fernsehen die Zuschauer mit entsprechenden Super-Zeitlupen versorgt.

All das sind nur Facetten einer Entwicklung, bei der mit den Etats der Vereine und den Gagen der Spieler parallel auch der Druck auf die Schiedsrichter exponentiell gewachsen ist. Ein einziger Fehlpfiff kann jenseits sportlicher Dramen nun auch ökonomische Katastrophen bedeuten, oder den Klub, der Nutzniesser des entscheidenden Fehlers ist, davor bewahren.

Von reinem Glück und purer Verzweiflung

Ein solcher Fehlpfiff verhinderte 2015 in buchstäblich letzter Minute den Abstieg des Hamburger SV aus der Bundesliga, als der frühere Basler Spieler Marcelo Diaz einen zu Unrecht gegebenen Freistoss in der Nachspielzeit zum 1:1-Ausgleich des HSV beim Karlsruher SC verwandelte.

Fast noch spektakulärer war die Fehlentscheidung, die Eintracht Frankfurt am letzten Spieltag der Saison 1991/92 höchstwahrscheinlich die Deutsche Meisterschaft gekostet hat. Dass Schiedsrichter Alfons Berg kurz vor Schluss und beim Stand von 1:1 zwischen Hansa Rostock und der Eintracht nach einem Foul an Ralf Weber im Strafraum auf Penalty für die Frankfurter Gäste hätte entscheiden müssen, bezweifelte im Nachhinein jedenfalls niemand. Nicht Berg und natürlich schon gar nicht die eingefleischten Eintracht-Fans, mit denen ich zehn Jahre danach noch einmal über diese Szene gesprochen habe.

Eigentliches Thema unseres Gesprächs war schon damals, Anfang des Jahrtausends, der Videobeweis als Möglichkeit, solche Fehler zu verhindern. Ich habe seinerzeit eine Erfahrung gemacht, die ein bisschen mit dem vergleichbar ist, was Georg Heitz vor ein paar Wochen in Freiburg erlebte: Die Eintracht-Fans hätten ihre Erinnerungen zehn Jahre danach auf keinen Fall gegen einen per Videobeweis gegebenen Elfmeter und den Meistertitel eintauschen wollen. Zu sehr war das «Rostock-Trauma», wie sie es selbst getauft und später sogar in einem Buchtitel verewigt hatten, Teil ihrer Geschichte geworden.

Damals habe ich mich noch darüber gewundert. Jetzt nicht mehr.

Weil ich damals vielleicht zum ersten Mal wirklich verstanden habe, dass es beim Fussball um mehr geht als um Titel und Abstiege, um Tore, Taktik und Ästhetik, um Niederlagen und Siege. Fussball bedeutet für seine Fans reines Glück und pure Verzweiflung, höchste Verzückung und tiefe Trauer.

Fussballstadien sind Umschlagsorte grosser Gefühle, und mal geht es dort gerecht zu und mal eben nicht. Anders gesagt: Auf den Rängen geht es um die kollektive Verdichtung individueller Erfahrung, um Gewinnen oder Verlieren, Gelingen oder Scheitern, Vertrauen und Verrat, kurzum: Es geht ums Leben.

Der Videobeweis ist als Gefühlsblocker ersten Ranges ein Anschlag auf die Unmittelbarkeit der Erfahrungen.

Das heisst: Es geht um die Stiftung von Identität – auch über negative Erfahrungen. Deutschland ist nicht nur Bern 1954, sondern auch das Wembley-Tor 1966, ebenso existieren Versionen des Frankfurter «Rostock-Traumas» in unzähligen anderen Klubs.

Voraussetzung und konstituierendes Element für die Aufnahme solcher Situationen ins kollektive Gedächtnis ist die Spontanität und Wucht, mit der Fussballgefühle freigesetzt werden. Die Konsequenz im Umkehrschluss: Der Videobeweis ist als Gefühlsblocker ersten Ranges ein Anschlag auf die Unmittelbarkeit dieser Erfahrungen und damit aus Fanperspektive ein Angriff auf das Wesen des Spiels.

Dass zudem der reale Schiedsrichter im Stadion als Projektionsfläche der Emotionen zumindest teilweise ausfällt und durch eine in kafkaesker Anonymität agierende, virtuelle Instanz im Kölner Nirgendwo ersetzt wird, beschädigt die dramaturgische Konstruktion des Spiels zusätzlich empfindlich.

Der ominöse Keller in Köln, wo der Videoassistent sitzt und die strittigen Szenen der Bundesliga seziert.

Sind diese Nachteile in Kauf zu nehmen, um ein paar falsche Entscheidungen zu korrigieren? Und dafür eine weitere Diskussionsebene zu installieren, auf der nach dem Schiedsrichterpfiff gleich noch der Eingriff des Kontrolleurs endlos belabert werden kann?

Oder geht es gerade darum? «Um die Zuspitzung des Entertainments für den TV-Kunden», wie Peter Unfried in der «taz» mutmasste? Ist das «Ziel offensichtlich», wie er denkt, «Fernsehen soll nicht mehr Medium sein, sondern unabdingbarer Teil des Spiels und so mit ihm verschmelzen, dass es keinen Fussball ohne Fernsehbilder mehr gibt»? Nochmal anders gefragt: Frisst die virtuelle Realität jetzt das Fussballstadion als einen der letzten Orte authentischer Erfahrung?

Vor ein paar Wochen wurde der Antrag auf den Weg gebracht, die Fussball-Fankultur in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der Unesco aufzunehmen. Sie stünde dort in einer Reihe mit dem polyphonen Klapa-Gesang in Dalmatien, dem Krabbenfischen auf Pferden im belgischen Oostduinkerke oder der Basler Fasnacht. Das könnte man lustig finden, aber dem Spiel, das seine Fans so lieben, würde es trotzdem gerechter als die Idee vom Videobeweis.

Der erste Rückrundenspieltag der Bundesliga

https://tageswoche.ch/sport/jetzt-koennte-es-mit-dem-video-beweis-schnell-gehen-nur-in-der-schweiz-nicht/#sfl

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