Als er unter einem Berg entrückter Menschen wieder auftauchte, in der glühenden Atmosphäre des St.-Jakob-Park, war der feine Zwirn schmutzig, die Hose eingerissen und der Clubanzug so gut wie ruiniert. Und Marco Streller «fix und fertig», wie er am Morgen danach bekennt.
Unter der Last der FCB-Spieler war eine Werbebande umgekracht und der Sportchef des FC Basel in einer Traube untergegangen. Als der Schütze des Siegertors zum Jubelsturm ansetzte und von seinen Mitspielern eingefangen wurde, da entdeckte er Streller, der sich mit Alex Frei und Ruedi Zbinden am Tunnel zu den Kabinen postiert hatte.
«Ich hab’s rausgelassen»
«Ich bin der Letzte, der sich nach vorne drängt», beteuert Streller, «aber als Michael Lang auf uns zu kam und auf mich zeigte, da musste ich die Emotionen rauslassen.» Marco Streller jubelte mit weit aufgerissenem Mund, so wie damals vor sechs Jahren, als er selbst noch zu den Torschützen gehört hatte beim Sieg gegen Manchester United.
Ein Coup, den der FC Basel nun gegen eine der grössten Nummern, die der Weltfussball kennt, wiederholt hat. Ein 1:0, das weit über den Mittwochabend hinausweist.
«Ich hab’s rausgelassen», sagt Streller ohne Reue, «das bin ich.» Und man kann ihn gut verstehen, den früheren Captain des FC Basel, der Rotblau so verinnerlicht und in der jüngeren Vergangenheit auch verkörpert hat, wie kaum ein anderer Spieler. Eine Emotionalität eben, die es nebst allen anderen Qualitäten auch braucht, um solch aussergewöhnliche Nächte möglich zu machen.
Es war ein mitreissendes, ein verrücktes Spiel. Ein Spiel, in dem sich der FC Basel im Würgegriff eines übermächtig wirkenden Gegners befand, in dem die Mannschaft von Raphael Wicky alle Wettkampffortune in Anspruch nahm, um ein Fussballdrama mit Happy End zu erschaffen.
Als dann all die Chancen von Manchester United ungenutzt liegen blieben, da erwachten im Sportchef Streller die alten Instinkte des Spielers Streller: «In der Halbzeit wusste ich: Das Glück ist heute auf unserer Seite.»
Und plötzlich sieht ein Spiel ganz anders aus
Streller war zur Pause nicht bei der Mannschaft gewesen, aber unten in der Kabine müssen ähnliche Schwingungen geherrscht haben wie oben in der Chefetage. Mit dem Wiederanpfiff sah die Auseinandersetzung auf dem Rasen plötzlich anders aus, spielte die physische Wucht der Startruppe aus dem englischen Nordwesten nicht mehr die Rolle wie zuvor, gewannen die Basler Zweikämpfe, in denen sie in den ersten 45 Minuten noch gescheitert waren.
Was Streller beeindruckte: «Die Mannschaft hat spielerische Lösungen gesucht. Sie war in der zweiten Halbzeit auf Augenhöhe mit Manchester.» Streller sah etwa, wie Dimitri Oberlin mit unermüdlicher Laufarbeit die Defensive von ManU auf Trab hielt, so wie er es selbst immer getan hatte, auch an Abenden, an dem ihm nicht viele Aktionen gelangen, geschweige denn ein Tor.
Geoffroy Serey Dié: Es ist der schlanke Muskel
Die Verletzung, die Geoffroy Serey Dié sich am Mittwoch zugezogen hat, erfordert eine Pause. Nach einem Distanzschuss, in den der Ivorer alles gepackt hatte, was sein Körper an Wucht und Dynamik hergibt, war er in der 77. Minute zu Boden gegangen und kurz darauf ausgewechselt worden. Nach Auskunft des FCB ist dabei der Muskulus gracilis, auch «schlanker Muskel» genannt, im Adduktorenbereich des rechten Oberschenkels in Mitleidenschaft gezogen worden. Wie lange Serey Dié aussetzen muss, ist offen. (cok)
Und Streller sah, wie Geoffroy Serey Dié im Mittelfeld «das Heft in die Hand genommen hat». Mit jedem Ballgewinn, mit jedem Vorstoss näherte sich der FCB dem englische Tor. Mohamed Elyounoussi, Renato Steffen, Serey Dié natürlich, und mit ihnen der Rest – sie fassten mehr und mehr Mut, schienen von Minute zu Minute mehr überzeugt davon, einem nachlassenden Gegner zusetzen zu können.
An der Statik des Spiels änderten auch zwei weitere Schwergewichte, der hochveranlagte Mark Rashford und der gefürchtete Zlatan Ibrahimovic, nichts mehr. «Wahrscheinlich spürten die Spieler, dass etwas geht», versuchte Raphael Wicky mit aller Zurückhaltung das Erlebte einzuordnen, «sie haben daran geglaubt.»
«Wenn es das Basler Publikum braucht, ist es da. Aber der Funke muss vom Spielfeld auf die Ränge überspringen.»
Und mit den Spielern schienen auch die Zuschauer das Momentum zu spüren. «Ich habe immer gesagt: Wenn es das Basler Publikum braucht, dann ist es da. Aber ich habe auch immer gesagt, dass der Funke vom Spielfeld auf die Ränge überspringen muss», so Streller. Dass der Abend dann in der vorletzten Minute in jenes Tor mündete, das Fussball-Basel in Ekstase und die Schweiz ein weiteres Mal in basses Erstaunen versetzt hat, lag auch an der elektrisierenden Atmosphäre, die sich über 90 Minuten aufgebaut hatte.
Und weniger mit einem «Matchplan», nach dem Wicky anschliessend gefragt wurde. «Es gehörte jedenfalls nicht zum Matchplan», entgegnete er augenzwinkernd, «dass Manchester in der ersten Halbzeit Pfosten und Latte trifft.»
Exemplarisch: Die Aussenverteidiger und das Siegtor
Neun Punkte hat der FC Basel aus fünf Gruppenspielen geholt, jeden Gegner einmal geschlagen, drei Mal zu Null gespielt und das grosse Manchester United gebodigt. «Das war nicht nur ein verrücktes Spiel», sagt Streller, «es ist eine verrückte Saison.» Eine, in der der FC Basel schon einiges an Kritik hat einstecken müssen, wie der Mann des Abends anmerkte.
Verteidiger Michael Lang, jetzt schon zweifacher Champions-League-Torschütze, war sichtlich bewegt nach dem Schlusspfiff und wurde fast von Freudentränen überwältigt.
Streller sieht die zurückliegenden fünf Monate der Umbruchsaison so: «Wir haben wenig Zeit bekommen und es ist auch schon alles infrage gestellt worden. Aber wir haben eine Überzeugung, und solche Spiele bestätigen uns. Wenn man seinen Weg konsequent geht, wird man belohnt.» Und die Emotionen gibt es als Zugabe obendrein. «In alle Richtungen, das haben wir uns doch gewünscht, oder?», fragt Streller rhetorisch.
Die Mentalität des Teams, die sich im Spiel vom Mittwoch spiegelt, ist das eine. Das Tor in der 89. Minute steht exemplarisch für den fussballerischen Geist, den Raphael Wicky in der Mannschaft geschaffen hat: Zwei Aussenverteidiger, hoch und breit aufgerückt, vollenden einen Angriff. «Das wollen wir in dem System, in dem wir spielen», sagt Wicky.
Egal, was noch kommt: Die Saison trägt bereits ihren Stempel
«Chapeau Trainer, Chapeau Mannschaft», sagt Streller dazu. Und er darf sich in seiner Einschätzung bestätigt fühlen, dass diese FCB-Ausgabe «das gleiche Potenzial besitzt wie der FCB aus dem Jahr 2011». Geäussert hat er das nicht etwa erst jetzt, sondern gegenüber dem «Tages-Anzeiger» vor dem Abflug nach Manchester ganz zu Beginn dieser Champions-League-Kampagne.
Fest steht: Mit den rauschenden Europacup-Nächten ist dieser Saison bereits ein Stempel aufgedrückt, komme in der Meisterschaft, was wolle. «Natürlich wollen wir unbedingt Meister werden», sagt Streller, «aber eine komplett schlechte Saison kann es schon nicht mehr werden.»
Im Februar wird der FCB weiter europäisch spielen, sei es in den Sechzehntelfinals der Europa League oder, greifbar nahe, zum vierten Mal in der Vereinsgeschichte in den Achtelfinals der Champions League. Die Ausgangslage für die letzte Runde am 5. Dezember bei Benfica verortet Streller «irgendwo zwischen gut und kompliziert» (siehe unten).
«Man hat ja schon manche Sachen erlebt. Wir müssen das über die Ziellinie bringen», sagt der Sportchef. Sein Trainer steuert ein forsches Schlusswort bei: «Wir gehen mit breiter Brust nach Lissabon.» Wobei Marco Streller noch anmerkt, er habe einen zweiten Anzug.