Jetzt oder nie

Mit besseren Voraussetzungen ist kaum einmal eine Schweizer Nationalmannschaft zu einem grossen Fussballturnier gereist. Das Ziel ist das ominöse fünfte Spiel – also der Viertelfinal. Jetzt müssen den grossen Worten nur noch Taten folgen.

Begleitet von allerlei Hoffnungen: Die Schweizer Nationalmannschaft, hier beim letzten Testspiel gegen Japan im Cornaredo von Lugano.

Was wir wissen:

Seit zwei Jahren reitet die Schweizer Nationalmannschaft auf so etwas wie einer Erfolgswelle. Nach dem Aus im Elfmeterschiessen gegen Polen an der EM in Frankreich gab es eine einzige Niederlage in 17 Partien. Allerdings war dieses 0:2 in Lissabon eine bittere Lektion, weil die Mannschaft nicht parat war, als ein starkes Portugal in der WM-Qualifikation Ernst machte.

Die ganz grosse Euphorie will um diese Nationalmannschaft nicht ausbrechen. Das wäre bei aller medialer Begleitmusik, bei der der «Blick» den Ton angibt («Das Land steht hinter der Nati») auch ziemlich unschweizerisch. Die NZZ stellt nüchtern fest: «Euphorie entsteht, wenn sich eine Mannschaft selbst übertrifft.»

Selbst Xhaka murmelt die Hymne mit

Eine Debatte wie vor zwei Jahren über «richtige und andere Schweizer» gibt es diesmal nicht. Angestossen worden war sie von Stephan Lichtsteiner, der als Captain gegen Japan mit seinem 100. Länderspiel als erst vierter Schweizer in einen exklusiven Kreis aufgestiegen ist. Dass nun Granit Xhaka als schillerndster Vertreter der Secondo-Generation in der Nationalmannschaft damit angefangen hat, die Hymne vor dem Spiel mitzumurmeln, wird als «kleines Zeichen mit grosser Wirkung» («Blick») empfunden.

Dass es gerade noch ein (Ergänzungs-)Spieler aus der Super League (Michael Lang vom FC Basel) in den 23-Mann-Kader geschafft hat, so wenige wie nie zuvor, spricht nicht gegen die nationale Meisterschaft, sondern für die Export-Nation Schweiz.

Für diese Nationalmannschaft spricht auch, dass sie im Kern jener entspricht, die vor vier Jahren schon bei der Weltmeisterschaft gespielt hat. Und vermutlich wird sich die Startelf nur auf zwei Positionen (Manuel Akanji in der Verteidigung anstelle von Johan Djourou; Steven Zuber oder Breel Embolo in der Offensive für den verletzten Admir Mehmedi) von jener gegen Polen an der EM 2016 unterscheiden.

Was da an Talent und Qualität versammelt ist, hat unter Trainer Vladimir Petkovic in den vergangenen vier Jahren einen Reifeprozess durchgemacht, hat Beständigkeit und Stilsicherheit demonstriert. Das äussert sich auch in dem – eher unschweizerisch – plakativ vor sich hergetragenen Selbstbewusstsein, das im Spitzensport für aussergewöhnliche Leistungen unerlässlich ist – solange es korrespondiert mit dem, was auf dem (WM-)Rasen abgeliefert wird. Dort, sagt Nationaltorhüter Yann Sommer, «ist alles möglich für uns».

Was der Schweizer Nationalmannschaft noch immer fehlt, ist ein Torjäger.

Die nackten Fakten können sich sehen lassen: Seit 2004 hat die Schweiz nur 2012 eine Endrunde bei einer EM oder WM verpasst. Auch wenn es manchem zu den Ohren herauskommt: Für ein Land mit acht Millionen Einwohnern ist das eine stolze Bilanz. Und auch wenn man von ihr halten kann, was man will: Platz 6 (plus 9 seit 2016) in der Weltrangliste zu besetzen ist nicht nichts.

Was der Schweizer Nationalmannschaft jedoch noch immer abgeht, ist ein Spieler, der das gepflegte und geordnete Spiel finalisiert; vulgo: ein Torjäger. Kompensiert hat die Mannschaft das mit entschlossen vorstossenden Spielern der zweiten Reihe. Man könnte in Russland aber auch auf Breel Embolo setzen und den Schuss Unberechenbarkeit, den er mit seiner Jugendlichkeit noch mitbringt. Ein Vollstrecker fehlte vor zwei Jahren gegen Polen, als Xherdan Shaqiris Geniestreich allein zu wenig war. Und er fehlte vor vier Jahren in Brasilien.

Wobei: Der Achtelfinal gegen Argentinien wird arg mythologisiert. Ja, die Schweizer kassierten erst in der 118. Minute den Gegentreffer. Ja, Blerim Dzemaili traf in der Nachspielzeit der Verlängerung nur den Pfosten. Und ja, die Mannschaft von Ottmar Hitzfeld schied unglücklich und nach leidenschaftlichem Kampf aus. Sie schien so nahe dran an einem Elfmeterschiessen und an einer Sensation. Über die ganze Partie betrachtet, war sie aber doch weit weg davon.

Vier Jahre später hat die Auswahl eigentlich sehr viel, was für sie spricht, auch wieder einen unaufgeregten Trainer, der mit ruhiger Hand – oder sollen wir ihn zitieren und sagen: «mit Positivität» – führt.

Die Schweiz träumt von einem Husarenstück wie 2010 gegen Spanien. Was danach folgte, war freilich höchst ernüchternd.

Der Spielplan in Gruppe E meint es zudem vordergründig gut mit den Schweizern. Und doch steckt er voller Fallstricke. Der dickste Brocken gleich zu Beginn, am Sonntag, um 20 Uhr, ist Rekordweltmeister Brasilien. Das ist, um es noch mal mit Goalie Sommer zu sagen, «eine grosse Challenge». Schon träumt man im Schweizer Lager davon, ein Husarenstück wie anno 2010 in Südafrika hinlegen zu können, als der grosse Favorit Spanien im Startspiel mit 1:0 besiegt wurde. Was danach folgte, war freilich höchst ernüchternd.

Wer die Brasilianer zuletzt gesehen hat, dem schwant, dass sie vier Jahre nach der epochalen 1:7-Halbfinal-Niederlage gegen Deutschland finster entschlossen sind, diese Schmach vergessen zu machen.

Das Duell mit dem Weltmeister

Man möchte sich lieber nicht vorstellen, dass die Schweizer mit null Punkten in der zweiten Gruppenpartie auf Serbien treffen, das die einigermassen inferior wirkenden Costa Ricaner im ersten Spiel womöglich geschlagen hat. Denn dann würde nur schon Unentschieden gegen Serbien das Fortkommen ungeheuer verkomplizieren. Oder anders ausgedrückt: Dann wird sich zeigen, was die Mannschaft unter Druck taugt.

Das letzte Mal einen Viertelfinal erreicht hat die Schweiz bei ihrer Heim-WM, also vor 64 Jahren (5:7 gegen Österreich). Vor dem ominösen fünften Turnierspiel hat der liebe Fussballgott das Achtelfinal vorgesehen, in dem es auf ein Duell mit Weltmeister Deutschland herauslaufen könnte. Mehr Ansporn kann es eigentlich gar nicht geben.

Was wir immer noch nicht wissen:

Hat diese als goldene Generation bezeichnete Mannschaft das Zeug zum grossen Wurf? Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, es zu zeigen? Die Talentschau dauert doch schon eine ganze Weile, und die richtige Trinkreife scheint der Jahrgang jetzt zu besitzen.

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