In England nimmt sich eine neue Generation Spieler einer alten Aufgabe an: Seit dem Weltmeistertitel 1966 konnte das selbsternannte Mutterland des Fussballs keinen Titel mehr erringen. Junge Liverpooler und Hotspurs sollen diesen Schmerz in Frankreich kurieren.
In England kursiert ein neuer Witz.
Die grösste Nation Grossbritanniens lädt ihre atlantischen Inselnachbarn zur Europameisterschaft nach Frankreich ein. Die Isländer und Nordiren sagen zu, ebenso die Waliser, über den Umweg der Playoffs auch die Iren. Von den Schotten ist nichts zu hören, die Engländer fragen nach: «Hey, ihr Schotten. Die Inselgruppe plant einen dreiwöchigen Urlaub. Kommt ihr auch mit?» – «Nein, wir dürfen nicht», sagen die Schotten. – «Warum?» – «Na, weil wir Schotten sind.»
Für Häme gibt es in England immer einen Platz, besonders wenn sie zu Lasten des ungeliebten nördlichen Nachbarn geht. Trotz der Aufstockung des Teilnehmerfelds der Europameisterschaft von 16 auf 24 Nationen ist Schottland mal wieder in der Qualifikation hängen geblieben.
Noch gehört der Spott den Schotten, aber das könnte sich ändern, wenn es einem der Winzlinge – Irland, Nordirland, Wales oder Island – tatsächlich gelingt, bei der EM länger im Turnier zu bleiben als England. In der Vorrundengruppe B misst sich das Team von Nationaltrainer Roy Hodgson mit Russland, der Slowakei und Wales.
Trotz vergrössertem Teilnehmerfeld hat sich Gordon Strachans Schottland nicht für Europameisterschaft qualifiziert und muss nun den Spott der Briten ertragen. (Bild: Keystone/RAY ATTARD)
Am 30. Juli feiern Englands Weltmeister von 1966 den 50. Jahrestag ihres grössten Erfolges. Der Finalsieg über Deutschland im Wembley ist bis in die Gegenwart der einzige Triumph bei einem Grossereignis. Dem sogenannten Mutterland des Fussballs ist zeitweise der Ball abhanden gekommen, zur Weiterentwicklung des Spiels trägt die heimische Premier League sowieso schon länger nichts bei.
Die «goldene Generation» hat versagt
Die Jahrzehnte des Schmerzes – nie erreichte England seitdem ein Finale – sorgen bei den Menschen für die fatalistische Denkweise, dass die Three Lions schon einen Fettnapf finden werden, in den sie hineintreten.
Über die teils peinlichen Auftritte der frühzeitig als «goldene Generation» verschrienen Mannschaft um die einstigen Stars David Beckham, Gary Neville, Frank Lampard, Steven Gerrard oder Paul Scholes sind die Menschen auf der Insel nicht hinweg. In mehreren Turnieren arbeiteten sich die Szenengrössen daran ab, ihre individuellen Fähigkeiten auf das Team zu übertragen, meistens scheiterte es an Eitelkeiten.
Untereinander leisteten sie sich grösseren Widerstand als den Gegnern. Spätestens im Viertelfinale war jeweils Schluss. Nach dem Vorrundenaus bei der WM 2014 hatten es auch Lampard und Gerrard, die letzten Überbleibsel ihrer Altersgenossen, genug probiert – und hörten auf.
Nach wenigen Erfolgen und diversen Rückschlägen trat Steven Gerrard 2014 aus der Nationalmannschaft zurück. Aktuell lässt er die Karriere in der Major League Soccer in den USA ausklingen. (Bild: Reuters/Jayne Kamin-Oncea)
Lediglich Neville mischt noch neben dem Platz mit und assistiert Hodgson beim Aufbau einer Mannschaft, die nun Kapitän Wayne Rooney anführt und die sich abgekoppelt hat vom trügerischen Glanz der Vergangenheit. Die Fussballwelt kennt kaum mehr einen englischen Profi – sie spielen ja auch alle in der heimischen Premier League und nur Rooney hat mit Manchester United einen internationalen Titel gewonnen.
Emporkömmlinge statt arrivierte Stars für den Zusammenhalt
Früher bestand die Nationalmannschaft aus Spielern der Grossklubs, mittlerweile stellen der FC Liverpool und die Tottenham Hotspur mit jeweils fünf Akteuren die meisten ab. Vor zwei Jahren nominierte Hodgson an Tottenham vorbei, nun lässt er sich von Jugendförderer Mauricio Pochettino die Talente in die Hand drücken.
Der Leistungsdichte innerhalb des Kaders tat das während der Qualifikationsspiele gut, in denen England in der Schweizer Gruppe kaum gefordert wurde. Das Verlangen der Emporkömmlinge nach gemeinsamem Erfolg überwiegt die Begierde, vorrangig für den eigenen Marktwert zu spielen. Viele in Hodgsons Kader haben in der gerade erst abgelaufenen Saison die Wahrnehmungsgrenze passiert.
Die Ungewissheit vor der EM: Wie stecken die Spieler die Anstrengungen mit ihren Klubs weg?
Liverpool hat die meisten Partien bestritten, Tottenham bis zuletzt um die Meisterschaft gekämpft, während die Klubs aus Manchester im FA-Cup (United) und in der Champions League (City) sich verausgabten. Ein durchkoordinierter Ballbesitzfussball, der den Körper schont, gehört zur Rarität auf der Insel, weiterhin verstricken sich die Teams in physisch aufreibenden Zweikämpfen.
Neue Generation, neue britische Hoffnung: Die beiden 22-jährigen Harry Kane (Stürmer bei Tottenham, links) und John Stones (Verteidiger bei Everton) (Bild: Reuters/Matthew Childs)
An der Unerfahrenheit des Teams wird es nicht scheitern. Die Fleissarbeiter um Gary Cahill (Chelsea), James Milner (Liverpool) und Rooney (United), die den Sockel bilden, haben den 30. Geburtstag hinter sich, Torwart Joe Hart ist 29.
Der jugendliche Drang des Teams äussert sich im Offensivbereich, bestückt mit den besten Torjägern der Liga Harry Kane (Tottenham) und Jamie Vardy (Leicester City). Beide könnten nebeneinander stürmen, wenn Hodgson seine Grundordnung auf ein 4-4-2 festlegt. Beim 2:1 im Test gegen Australien hat er das praktizieren lassen, aber die Umstellung auf drei Spitzen erzielte mehr Wirkung.
Mit Uniteds Angriffsjuwel Marcus Rashford, Raheem Sterling (ManCity) und Daniel Sturridge (Liverpool) besitzt England erstklassige Aussenbahnspieler. Nur in der Innenverteidigung dürften sich Schwierigkeiten ergeben. Cahill hat mit Chris Smalling von ManUnited eine durchschnittliche Saison hinter sich. Eine verheissungsvolle Zukunft wird John Stones prophezeit, beim FC Everton war er jedoch zuletzt aussen vor.
Die begrenzte Erfahrung des Nationalcoaches
Im Angriff kann Hodgson dagegen mit der Flexibilität seines Aufgebots spielen, den Gegner über sein Vorgehen im Unklaren lassen. Bloss geniesst der 68-Jährige, der im Verlauf seiner Karriere in sechs Ländern Station machte und ebenso viele Sprachen spricht, nicht den Ruf des Taktikspezialisten.
Mit seiner altersweisen, unscheinbaren Ausstrahlung hat er den Umschwung nach der WM eingeleitet, indem er die Sache und nicht sich selbst in den Mittelpunkt rückte. Sein Vertrag beim englischen Verband endet mit der Europameisterschaft. Eine Verlängerung hängt vom Ausgang des Turniers ab.
Hodgsons Lebenslauf weist bisher Titel in Dänemark und Schweden aus; mit Inter Mailand erreichte er 1997 das Finale im Uefa-Pokal. Spätestens ab dem EM-Viertelfinale wird der Anlass auch seine Erfahrung übersteigen.
Seine Arbeit weckt im Land dennoch die Hoffnung, dass die EM der Ausgangspunkt einer Gruppe von Spielern sein könnte, die die Three Lions wieder zu einer gefürchteten Nation im Weltfussball machen. Der Griff nach der Trophäe dürfte zu früh kommen, aber wichtige Erfahrungswerte lassen sich in jedem Fall sammeln für die zukünftigen Turniere. Damit der 50-jährige Schmerz ohne Titel bald ein Ende hat.
Englands 23-Mann-Kader für die EM-Endrunde in Frankreich:
Tor: Fraser Forster (Southampton), Joe Hart (Manchester City), Tom Heaton (Burnley).
Verteidigung: Ryan Bertrand (Southampton), Gary Cahill (Chelsea), Nathaniel Clyne (Liverpool), Danny Rose (Tottenham Hotspur), Chris Smalling (Manchester United), John Stones (Everton), Kyle Walker (Tottenham Hotspur).
Mittelfeld: Dele Alli (Tottenham Hotspur), Ross Barkley (Everton), Eric Dier (Tottenham Hotspur), Jordan Henderson (Liverpool), Adam Lallana (Liverpool), James Milner (Liverpool), Raheem Sterling (Manchester City), Jack Wilshere (Arsenal).
Sturm: Harry Kane (Tottenham Hotspur), Marcus Rashford (Manchester United), Wayne Rooney (Manchester United), Daniel Sturridge (Liverpool), Jamie Vardy (Leicester City).