Pierre de Coubertin war frustriert, er sah seine Idee vereinnahmt von Leuten, die sie entstellten. Er fuhr nicht mal hin. Die Olympischen Spiele 1904 hatten nichts mit dem zu tun, was er im Sinn gehabt hatte.
Ursprünglich auf eine Woche angesetzt, dauerten sie am Ende fast ein halbes Jahr. Trotzdem gelang es dem Prothese tragenden Amerikaner George Eyser, an einem Tag sechs Medaillen zu gewinnen.
Der Marathon wiederum wurde in Staubwolken von Automobilen gelaufen und von einem gewissen Fred Lorz gewonnen – der dann zugab, mehr als die halbe Strecke kutschiert worden zu sein.
Es waren Zirkusspiele zur blossen Belustigung: Coubertins Projekt schien in einer Sackgasse angelangt.
Spiele am Scheideweg
Der Vergleich mag übertrieben sein – und doch konnte man dieser Tage in Pyeongchang manchmal den Eindruck gewinnen, dass die Spiele erneut an einem Scheideweg stehen. Unabhängig von Doping und Kosten – den anderen Bedrohungen des Sportfestes –, leiden die Winterspiele an einem Gigantismus, der umso erstaunlicher ist, als es die sonst so versierten Verkaufsexperten des IOC eigentlich besser wissen müssten.
Um ein Spitzenprodukt zu etablieren, muss man es verknappen, lautet eine goldene Marketingregel. Bei den olympischen Winterspielen ist das Gegenteil passiert: Mit insgesamt 102 Entscheidungen ist der einzelne Wettbewerb beliebig geworden.
Abrüstung lautet das Gebot der Stunde im politischen Konflikt auf der koreanischen Halbinsel, der auf der Meta-Ebene dieser Spiele eine grosse Rolle spielte. Abrüstung – das wäre es auch für Olympia.
Erlösungen, Dramen, Rekorde
Der Sport hat ein paar starke Storys geschrieben in diesen Tagen. Der Sieg der tschechischen Snowboarderin Ester Ledecka im Super-G der Alpinen ist locker die grösste Sensation der Skigeschichte. Es gab Erlösungen (das dritte Gold des amerikanischen Snowboarders Shaun White), Dramen (der Rodelfehler des Deutschen Felix Loch) und Rekorde (die 14. Olympiamedaille der norwegischen Langläuferin Marit Björgen).
Dazu schwebte über allem das historische Thema der koreanischen Annäherung mit einem gemeinsamen Hockeyteam und die kleinen Einblicke hinter den Vorhang des undurchsichtigsten Landes der Welt. «Der Sport hat Barrieren eingerissen», resümierte Koreas Trainerin Sarah Murray am Ende gerührt.
Olympia hat sich Sponsoren und Verbänden unterworfen, die immer neue Wettbewerbe ins Programm pferchen.
Aber Olympia hat sich auch einige der besten Storylines selbst kaputt gemacht. Die Frage, ob Marcel Hirscher, der dominanteste Fahrer in den technischen Disziplinen seit Ingemar Stenmark, seinen ersten Olympiasieg landen könnte, war von ungemeiner Fallhöhe: der Champion und sein einer Makel, ein Klassiker des Sports.
Aufgelöst wurde er jedoch in einem Kombinationswettbewerb, der niemanden interessierte. Hirscher selbst nahm seinen Sieg vor allem mit Erleichterung zur Kenntnis. Als dann fünf Tage später der Riesenslalom anstand, war das Thema schon erledigt. Grandezza hatte das nicht.
Unsinnige Teamwettbewerbe
Olympia hat sich einer Lobby von Sponsoren und Verbänden unterworfen, die immer neue Wettbewerbe ins Programm pferchen. 102 waren es in Pyeongchang, 41 mehr als bei den bis heute als Mass aller Winterspiele verehrten Wettkämpfen von Lillehammer 1994. Teamskifahren oder Teamrodeln sind dabei nur zwei Beispiele für diesen Unsinn: Sie widersprechen der Essenz von Individualsportarten, ohne zusätzliche taktische und dramaturgische Elemente zu bieten wie etwa eine Langlaufstaffel.
Bei manchen Freestyle-Wettbewerben schien es Probleme zu geben, überhaupt ausgewogene Startfelder an den Start zu bekommen. Im Langlauf kennt sich unter den verschiedenen Formaten längst keiner mehr aus. Die Nordischen Kombinierer laufen im Prinzip zweimal denselben Wettbewerb. Und die Anzahl von Biathlonrennen spottet dermassen der Beschreibung, dass selbst die Athleten resignieren.
Das Fernsehen ist Olympia. Das wurde noch nie so deutlich wie in Pyeongchang.
«Ich war noch nirgendwo und kriege leider gar nichts mit», klagte die zweifache Goldmedaillengewinnerin Laura Dahlmeier über ein verhindertes Olympiaerlebnis. Dabei waren die Spiele einst als menschliche Begegnungsstätte gedacht und nicht als blosse Ansammlung von Weltmeisterschaften.
Im Biathlon gibt es also elf olympische Events (1994 waren es sechs), ohne dass dies wegen einer Spezialisierung der Athleten nötig geworden wäre. Der Franzose Martin Fourcade konnte zwei Rennen vermasseln und trotzdem noch drei Goldmedaillen gewinnen. Masse statt Klasse – so wie es der Konsument in manchen Ländern jedes Winterwochenende von den endlosen TV-Orgien gewohnt ist.
Das Fernsehen bezahlt Olympia und es schafft an. Das Fernsehen ist Olympia. Auch das wurde noch nie so deutlich wie in Pyeongchang.
Von allen Traditionen entfremdet
Bezeichnend war schon der Auftakttag. Heftig blies der Wind, der geplante Frauen-Riesenslalom hatte schon abgesagt werden müssen, im Bokwang Park stellte sich die Frage, ob man die Snowboarderinnen unter den schwierigen Bedingungen auf den halsbrecherischen Slopestyle-Parcours lassen sollte. Man liess. Es gab viele Stürze, es war unkalkulierbar und wohl unverantwortlich.
In der Berichterstattung fiel danach immer wieder der alte Satz von Olympia 1972, der zum Synonym für unsensibles Funktionärsdenken geworden ist: The show must go on. Noch passender wäre allerdings gewesen: The show must begin. Denn ohne Slopestyle wäre bei Olympia an jenem Montag nichts passiert bis zum Sonnenuntergang.
Zugunsten des Fernsehens hat das IOC das Programm mehr denn je von allen Traditionen entfremdet. Eiskunstlaufen, der klassische Glamour- und daher Abend-Event Olympias, begann um zehn morgens, weil es so in den USA in die Primetime des Vortags fiel. Auch Snowboard und Skirennen mögen die Amerikaner, deshalb starteten die Fahrer ebenfalls früh. Den Rest überliessen sie den Europäern, deren Wintersportzeit am Mittag mit dem koreanischen Abend zusammenfällt.
Das weitere Programm also an jenem Montag, Ortszeit: 19–22 Uhr, Biathlon. 19.30–23 Uhr, Buckelpiste. 20–23 Uhr, Rodeln. 21.30–23.15 Uhr, Eisschnelllauf. 22–23.30 Uhr, Skispringen. Das alles bei gefühlten minus 23 Grad. Kann man sich da ernsthaft über leere Tribünen beklagen?
Wollte man die Menschen wirklich für Wintersport begeistern, würde man sie nicht mit absurden Startzeiten abschrecken.
Man kann. «Ein Trauerspiel im Vergleich zu jedem Weltcup», monierte ausgerechnet der deutsche Frauen-Biathlontrainer Gerald Hönig: «Die Athletinnen hätten etwas anderes verdient.» Dieselben Europäer, die für Verwechselbarkeit und Anfangszeiten verantwortlich zeichnen, echauffieren sich dann über die Konsequenzen – auch das ein Beispiel, wie sehr die Olympischen Spiele in ihren eigenen Widersprüchen gefangen sind.
Unter der Woche spätnachts zum Wettbewerb, danach auf den Bus warten, zurück zum Transport-Knotenpunkt in Pyeongchang, von dort mit einem weiteren Bus zur Station des Schnellzugs, von da noch mal rund anderthalb Stunden zum Hauptbahnhof in Seoul, ab da mit Metro oder Bus nach Hause in dem 25-Millionen-Einwohner-Ballungsraum.
Und am anderen Tag wieder früh raus zur Arbeit: Gibt es irgendwo auf der Welt, auch in den Ländern, die mit diesen Sportarten etwas verbinden – gibt es jemanden, der das machen würde für ein Skispringen oder ein Biathlonrennen?
Das Eishockeyfinale USA gegen Kanada wurde fürs Fernsehen spontan von 21 Uhr auf 13 Uhr Ortszeit verschoben.
Andere Frage: Geht es überhaupt um die Besucher vor Ort, um die Menschen im Ausrichterland? Antwort: teilweise. Nein, denn wollte man sie wirklich für Wintersport begeistern, wie es beim IOC heisst, dann würde man sie nicht mit so absurden Zeiten abschrecken. Ja, denn leere Tribünen sehen schlecht aus im Fernsehen.
Als olympischer Ticketbesitzer konnte man Pech haben bei diesen Spielen. Nicht nur wegen wetterbedingter Ausfälle im Skisport: Das wird immer wieder vorkommen. Auch wenn man sich ein Ticket für das Eishockeyfinale gekauft hatte. Das wurde nämlich wegen der Finalpaarung USA gegen Kanada, und also dem nordamerikanischen Fernsehen, spontan von 21 Uhr auf 13 Uhr Ortszeit verschoben. Nicht so einfach für einen normalen Zuschauer mit dem üblichen koreanischen Jahresurlaub von zehn Tagen.
Es waren insgesamt keine schlechten Spiele, dafür waren die Gastgeber zu freundlich, die Organisation zu reibungslos – und viele Wettbewerbe denkwürdig genug. Aber Letzteres ist Glückssache, und ob es das auch in vier Jahren geben wird, ist noch lange nicht ausgemacht. Dann trifft sich die Wintersportjugend der Welt in Peking.