Vom Schmerz, gegen Chile zu spielen

Ohne Neymar wäre Brasilien wohl nicht im Achtelfinale der WM gelandet. Deshalb hofft eine ganze Mannschaft auch im heutigen Spiel gegen Chile auf den Wunderknaben.

Wird er auch im Achtelfinale wieder treffen? Neymar – das Wunderkind. (Bild: Keystone)

Ohne Neymar wäre Brasilien wohl nicht im Achtelfinale der WM gelandet. Deshalb hofft eine ganze Mannschaft auch im heutigen Spiel gegen Chile auf den Wunderknaben.

In Brasilien macht derzeit ein Scherz die Runde. Er lautet so: «Jetzt wird nur noch eine Mannschaft für Neymar gesucht.» Beim Blick auf die Selecao, die bei dieser Weltmeisterschaft im eigenen Land möglichst Titel Nummer sechs erobern soll, werden Segen und Fluch einer One-Man-Show auf Anhieb sichtbar.

Ohne den 22 Jahre alten Wunderknaben, der in den drei WM-Gruppenspielen schon vier Tore schoss, wären die Brasilianer derzeit aufgeschmissen, denn ein Plan B war bei den ersten Auftritten der Mannschaft von Trainer Luis Felipe Scolari nicht zu erkennen. Nun aber geht es schon um alles oder nichts, und im Achtelfinale von Belo Horizonte warten an diesem Samstag die furchtlosen Chilenen schon ganz begierig auf den grossen Nachbarn, der sich bislang allein in Neymars Glanz sonnen konnte.

Kann das auf Dauer gut gehen bei einem Turnier, in dem gerade die kleineren südamerikanischen Fussballnationen wie eben Chile und Kolumbien mit fabelhaften Leistungen gegen den Führungsanspruch Brasiliens und Argentiniens aufmucken? Argentinien wäre ohne Messis vier Tore schon nach den Gruppenspielen heimgereist, Brasilien ohne Neymars Treffer nur Gruppenzweiter geworden.

Die Abhängigkeit einer Mannschaft

Was den Brasilianern an einem schwächeren Tag seines jungen Helden widerfahren kann, haben sie beim 0:0 gegen Mexiko in der Vorrunde erlebt. Es ist ab sofort also mehr erforderlich als nur der hilfesuchende Blick auf einen zauberhaften Jüngling, der von dem Druck, der auf der Selecao lastet, nichts zu spüren scheint. «Es gibt keinen Druck, wenn man seinen Traum wahr machen kann», hat Neymar auf einschlägige Fragen entspannt geantwortet.

Und sein väterlicher Trainer Scolari hat im Zweifel gern so getan, als wäre die Abhängigkeit seines Teams von der Hochform seines Besten nicht weiter besorgniserregend. «Stars machen den Unterschied zu anderen Mannschaften aus», hat er hervorgehoben. Gleichwohl ist Papa Felipao auch ein wenig mulmig zumute beim Blick auf den von seiner Wucht und Begeisterungsfähigkeit zehrenden Gegner. Schon bei der WM-Gruppenauslosung im vergangenen Dezember hatte Scolari gesagt: «Gegen Chile zu spielen, ist ein einziger Schmerz.»

Besiegen die Chilenen den Titelkandidaten Nummer eins an diesem Samstagnachmittag, wäre der Schmerz aller Brasilianer kaum auszuhalten und nur zu vergleichen mit der historischen 1:2-Niederlage gegen Uruguay im Maracana-Stadion bei der ersten brasilianischen WM im Jahr 1950.

Damals schien der Titel für Brasilien reserviert, den sich Uruguay schnappte. Damit so etwas nicht noch einmal passiert, fordert Scolari seinen Spielern auch das ab, was sein deutscher Kollege Joachim Löw mit «högschder Konzentration» meint. «Jetzt können wir uns keine weiteren Fehler mehr leisten.»

Brasilianische Schnitzer und Pannen

An brasilianischen Schnitzern und Pannen hat es beim 3:1 gegen Kroatien, dem 0:0 gegen Mexiko und auch beim 4:1 gegen Kamerun nicht gefehlt. Vor dem bisher tadellosen Torhüter Julio Cesar schienen die Aussenverteidiger Dani Alves und Marcelo zuzeiten nur den Vorwärtsgang zu kennen; vor allem Alves vernachlässigte seine Defensivaufgaben manchmal sträflich.

Da die Abstände in der Viererabwehrkette selten stimmten, kamen sich Abwehrchef Thiago Silva und sein Nebenmann, der ebenfalls gelegentlich nach vorn preschende  David Luiz, gelegentlich wie ziemlich allein gelassene Nothelfer vor. Auch, weil im defensiven Mittelfeld der beim vorjährigen Confederations Cup so vielversprechende Paulinho bisher unter einer Art persönlichem Stromausfall litt, so dass sein Nebenmann, der Wolfsburger Luiz Gustavo, schon ganze Arbeit leisten musste, um die Löcher vor der Abwehr nicht noch grösser werden zu lassen.

Ganz vorn belegte Stürmer Fred trotz seines ersten Turniertreffers gegen Kamerun, dass er nicht zur internationalen Spitzengilde der Spezies Angreifer gehört. In der offensiven Dreierreihe dahinter war Oscar ein solider Zuarbeiter von Neymar, während Hulk auf dem rechten Flügel vor lauter Kraft kaum laufen konnte. Also schleppte Neymar die Bälle oft selbst an, aus denen er danach leichtfüssig erzielte Treffer machte. Mit seinen Positionswechseln aus der Tiefe des Raumes bis in die gefährliche Zone überforderte er seine Gegenspieler bisher immer wieder.

Chile hat noch nie in Brasilien gewonnen

Ob der Solist damit weiter eine ganze Mannschaft im Rennen hält? Es gibt immerhin kleinere Hoffnungszeichen, dass die Selecao langsam in Tritt kommt. Der nach der Pause gegen Kamerun für Paulinho eingewechselte Fernandinho belebte das Spiel, schoss ein Tor und dürfte auch gegen Chile erste Wahl sein wie vielleicht auch Willian, der Hulk ersetzen könnte. Vielleicht traut sich allmählich auch Fred mehr zu, der vor einem Jahr beim von Brasilien gewonnenen Confed Cup auch erst im dritten Gruppenspiel sein erstes Tor schoss und am Ende der WM-Generalprobe mit fünf Treffern bester Torschütze war.

Andernfalls drohen die Chilenen, die bisher alle wichtigen Spiele gegen Brasilien verloren haben und im Land des Fussballriesen noch nie gewannen, zuzuschlagen. Arturo Vidal, deren frecher Anführer, hat schon vorweg getönt: «Wir haben Weltmeister Spanien besiegt, also können wir auch Brasilien schlagen.»

 

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