«Wir wollen viel, wir wollen immer mehr»  

Auch wenn sie beim 2:2 gegen Costa Rica nicht vollendes überzeugte – am Dienstag in St. Petersburg bietet sich der Schweizer Nationalmannschaft im WM-Achtelfinal gegen Schweden eine historische Chance.

«Wir können die Überraschungsmannschaft sein» – Blerim Dzemaili (oben) lässt sich von Ricardo Rodriguez, Breel Embolo und Granit Xhaka (von links) für sein Tor gegen Costa Rica feiern.

Der Vollmond war pünktlich zum Aufwärmen der Spieler aus der Schweiz und aus Costa Rica über Nischni Nowgorod aufgegangen. Und als er später am Mittwochabend hoch genug am Himmel stand, strahlte er im Stadion am Wolga-Ufer auf fröhliche Schweizer, die ihren Achtelfinaleinzug bei der WM bejubelten.

Mit dem 2:2 (1:0) hat sie die Gruppe E ungeschlagen abgeschlossen und ist damit bei ihrer vierten WM-Teilnahme in Serie zum dritten Mal in die Runde der letzten 16 eingezogen. Blerim Dzemali erzielte in der 31. Minute das erste Tor, Costa Ricas Kendall Waston glich in der zweiten Halbzeit aus (56.). Josip Drmic brachte die Schweiz spät erneut in Führung (88.), doch Costa Rica kam  in der Nachspielzeit noch zum Remis: Ein Foulelfmeter von Bryan Ruiz prallte von der Querlatte in Yann Sommers Nacken und von dort ins Tor.

Den Gruppensieg hat die Mannschaft von Vladimir Petkovic zwar verpasst, weil die Brasilianer im Parallelspiel gegen Serbien 2:0 gewannen. Doch womöglich kommt den Schweizern das am Dienstag, 3. Juli, anstehende Duell in St. Petersburg mit Schweden ganz gelegen. Die Brasilianer müssen sich tags zuvor in Samara mit Mexiko messen, das in den ersten beiden Turnierspielen zunächst einen besseren Eindruck hinterlassen hatte, ehe sie von den Skandinaviern mit 3:0 erdrückt wurden.

«Wir gegen die Welt»

Mit einer Art Wagenburgmentalität sind die Schweizer in ihr letztes Gruppenspiel gegangen. Auslöser gewesen waren die Jubelgesten der beiden früheren Basler Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri nach ihren Toren gegen Serbien, als sie den Doppel-Adler der albanischen Flagge mit ihren Händen symbolisiert hatten. Viel Aufregung hatten diese Gesten dem Schweizer Team eingebracht, mit denen die beiden Spieler mit kosovarischen Wurzeln alte Feindseligkeiten mit den Serben zum Ausdruck brachten. Kapitän Stephan Lichtsteiner mit Wurzeln in der Zentralschweiz hatte den Doppel-Adler ebenfalls gezeigt, um sich mit seinen Mannschaftskollegen zu solidarisieren.

Am Ende beliess es der Fussball-Weltverband Fifa bei Geldstrafen von 10’000 und 5000 Schweizer Franken und wertete die Aktionen juristisch als unsportliches Verhalten und nicht als politische Gesten. Auch deshalb, um künftig in seiner Rechtsabteilung nicht mit der Überprüfung von Jubelgesten auf ihren politischen Inhalt hin überschwemmt zu werden, wie Experten das Urteil einschätzten.

Am Gefühl der Schweizer, in einer Wagenburg zu sitzen, änderte das milde Fifa-Urteil aber nichts. Michael Lang, der Noch-Verteidiger des FC Basel, drückte die Stimmung so aus: «Wir gegen die Welt.»

Eine Grosschance nach der anderen

Mit der Mannschaft von Costa Rica hatten sie allerdings schon mehr als genug zu tun. Durchaus schwungvoll waren die Schweizer zwar ins Spiel gekommen, ganz so, wie es Trainer Vladimir Petkovic in Auftrag gegeben hatte: «Der Sieg ist das Ziel, und wir wollen, wenn möglich, auch Erster der Gruppe werden.» Doch rasch ging es erst einmal darum, den Achtelfinal-Einzug zu retten. Denn Costa Rica zeigte wenig Interesse, sich nach den Niederlagen gegen Serbien und Brasilien sowie dem feststehenden Ausscheiden nach der Gruppenphase ohne Ertrag aus dem Turnier zu verabschieden.

Es war sogar so, dass Costa Rica in der ersten Halbzeit einen regelrechten Sturmlauf wagte, mit einer Grosschance nach der anderen. Allein in der 6. Minute waren es deren drei, erst rettete Yann Sommer, dann nach Celso Borges’ Kopfball noch der Pfosten. Vier Minuten später traf Daniel Colindres mit einem Schlenzer aus 20 Metern von halblinks über Sommer hinweg die Unterkante der Latte. Einige weitere gute Gelegenheiten für Costa Rica folgten, die Schweizer Verteidigung war ziemlich brüchig. Doch die Mittelamerikaner demonstrierten eben auch, warum sie die schlechteste Chancenverwertung bei dieser WM aufweisen.

Warum die Schweiz nun im Achtelfinale steht, zeigte sich nach einer guten halben Stunde, als ein präzise und zielstrebig vorgetragener Angriff genügte, um in Führung zu gehen. Shaqiri passte auf den rechten Flügel zu Lichtsteiner, dieser flankte auf den zweiten Pfosten, von wo aus Breel Embolos Kopfball-Ablage Dzemaili in der Mitte erreichte, der wuchtig einschoss. Ein Angriff wie aus dem Lehrbuch, aus dem sich die Eidgenossen sonst allerdings eher selten bedienten.

Mit Zuversicht gegen Schweden

Als nächstes Reiseziel steht St. Petersburg auf der Agenda. Und obwohl dort mit Schweden ein Gegner wartet, dem die Schweizer sich mit einiger Zuversicht stellen können, lässt sich bei ihnen selbst zwischen den Zeilen kaum Euphorie vernehmen. Sachlichkeit prägt die Stimmung. Das dürfte auch daran liegen, dass hinter der Schweizer Mannschaft ein Spiel liegt, in dem sie von den drei bisherigen Auftritten bei dem Turnier in Russland am wenigsten überzeugt hat.

Unter dem Vollmond im Stadion von Nischni Nowgorod zieht die Schweizer Nationalmannschaft in den WM-Achtelfinal ein: Hier jubelt Josip Drmic über das zwischenzeitliche 2:1.

Der übergeordnete Trend jedoch liest sich positiv und nährt Hoffnungen. Neun von zehn Spielen der jüngsten WM-Zulassungsrunde gewann das Team und verlor nur das letzte gegen Europameister Portugal, womit sie sich wegen ihrer schlechteren Tordifferenz das zähe Nachsitzen in den Playoffs gegen Nordirland eingehandelt hatte. Nun aber geht es zum dritten Mal seit 2006 und zum zweiten Mal in Serie ins WM-Achtelfinale. Das «Minimalziel», das Petkovic formuliert hatte.

Die historische Chance

Nun stehen die Schweizer sogar vor einer historischen Chance. Sommer sagt zwar, die Bezugnahme auf die Geschichte «interessiert uns wenig». Das vorrangige Ziel sei vielmehr: «Wir wollen eine bessere Leistung bringen.» Um am kommenden Dienstag zu den besten Acht der Welt zu gehören. Torschütze Blerim Dzemaili formulierte seine Gedanken einigermassen erwartungsfroh: «Diese WM ist voller Überraschungen, und ich denke, wir können die Überraschungsmannschaft sein.»

Die historische Einordnung zeigt, welch seltene Gelegenheit sich der Schweizer Nationlmannschaft bietet. Zum elften Mal nimmt sie an einer WM teil. Das  Resultat war der Einzug ins Viertelfinal. Dreimal gelang das, letztmals allerdings bei der Heim-WM 1954, also vor 64 Jahren.

Nun könnte es wieder glücken, wenngleich sich in Kapitän Stephan Lichtsteiner und Fabian Schär zwei Defensivspieler eine Gelbsperre eingehandelt haben und gegen Schweden vertreten werden müssen. Die Leistung im kommenden Spiel werde dennoch besser ausfallen als gegen Costa Rica, hat Petkovic versprochen und sagt über das Potenzial seines Teams: «Wir haben Ambitionen. Wir wollen viel, wir wollen immer mehr.»

Der Achtelfinal Schweden–Schweiz in St. Petersburg wird am Dienstag, 3. Juli, um 16 Uhr angepfiffen. Der Sieger trifft entweder auf Belgien oder England oder den Sieger der Gruppe H (Senegal, Jspan oder Kolumbien). Der Turnierbaum der WM.

https://tageswoche.ch/sport/jetzt-oder-nie/
https://tageswoche.ch/sport/mit-der-lust-an-der-drecksarbeit/
https://tageswoche.ch/sport/die-schweiz-gewinnt-und-diskutiert-ueber-zwei-jubelgesten/

Nächster Artikel