Heinrich Gohls Stimme zittert. Er hält inne, senkt seinen Kopf und wischt sich Tränen aus den Augen.
Gohl hat mit seinen 92 Jahren, stets getrieben von der Liebe zu Wäldern, schon viel gesehen und erlebt. Er war für ein Jahr in den Wäldern Afrikas, er lebte sechs Monate in den Wildnissen Alaskas, er liess sich dort tagelang mit dem Kanu auf dem menschenleeren Yukon treiben und begegnete Grizzlybären in den Urwäldern der Bergkette Brooks Range.
Seine Reisen waren stets erfüllend, hin und wieder auch gefährlich. So stürzte der Naturfotograf bei Flugaufnahmen über den Wäldern von Alaska mit dem Buschflugzeug ab, überlebte jedoch wie durch ein Wunder.
Aber das, was sich bald vor seiner Haustüre abspielen wird, das wird Gohl nicht überleben. Davon ist er zumindest überzeugt. «Ich muss mich einfach dagegen wehren. Ich kann mich nicht mein ganzes Leben lang für Bäume einsetzen und dann, wenn sich etwas derart Tragisches vor meiner Haustüre abspielt, einfach tatenlos zusehen.»
Die Bäume stören den Bauherrn
Wir sitzen im Wohnzimmer seines schmucken Hauses an der Arabienstrasse auf dem Bruderholz. Hier lebt er seit 36 Jahren mit seiner Frau, hier haben sie ihre beiden Kinder grossgezogen, hier hat er seine gemeinnützige Stiftung «Wald-Klima-Umwelt» gegründet. Die beiden Fenster in Gohls Stube sind überdimensional gross, der Blick auf die vielen Bäume wirkt beruhigend. Noch. Denn lange werden sie nicht mehr dort stehen. Von den 21 geschützten Bäumen sollen 16 gefällt werden, sie stören den Bauherren bei der Verwirklichung seines Projektes.
Auf der über 3000 Quadratmeter grossen Parzelle gegenüber von Gohls Haus sind drei Mehrfamilienhäuser mit je sechs Eigentumswohnungen geplant. Vor zwei Jahren gehörte die Parzelle am Oberen Batterieweg 56/Oscar Frey-Strasse 7 und 9 noch einer wohlhabenden Frau, die dort in einer alten Villa lebte. Nach ihrem Tod wurde das Areal verkauft.
Nun baut die Batiba AG zusammen mit Ferrara Architekten bis im Frühling 2020 insgesamt 18 Wohnungen auf der Parzelle. Massgeblich für das Projekt verantwortlich ist Patrick Dreyfus, Delegierter des Verwaltungsrats und ehemaliger CEO des Lichtunternehmens Regent AG. Dreyfus ist auch Investor des Luxusprojektes «Johannshof» mit 32 Eigentumswohnungen an der Vogesenstrasse.
Das Areal auf dem Bruderholz ist neben den 21 geschützten Bäumen (darunter eine Wildbirne, eine Esche, ein Riesen-Lebensbaum, eine Pyramidenpappel und eine Hänge-Birke) mit Wildhecken, einheimischen Gehölzen, Ziergehölze und einer grossflächigen Wiese begrünt. Der Kanton bezeichnet diese Wiese als «wertvoll», sie befindet sich auch im Inventar der schützenswerten Naturobjekte.
Gohls Vorschlag: Statt drei nur zwei neue Häuser
Gohl erinnert sich noch ganz genau an den Tag, der sein Leben veränderte. Vor rund einem Jahr stellte Dreyfus sein Neubauprojekt erstmals persönlich in der Nachbarschaft vor. Gohl erfuhr so, dass dafür die Bäume gefällt sowie ein Teil der Wildhecken und der Wiesenfläche entfernt werden müssen. Gohl war aufgebracht. «Es geht mir einzig um die Bäume, nicht um mich», sagt er.
Damals war er noch zuversichtlich, dass das öffentliche Interesse am Erhalt der Bäume doch gross genug sein müsste.
Insgesamt gab es drei Anwohner-Informationsveranstaltungen mit dem Projektverantwortlichen. Gohl versuchte hartnäckig, das Fällen der Bäume zu verhindern. «An der letzten Informationsversammlung vor der Baupublikation des Projekts schlug ich vor, dass man statt drei neuen Mehrfamilienhäusern doch nur zwei bauen und die bestehende Villa nicht abreissen solle. So könnten immerhin 15 der 16 Bäume gerettet werden.» Dreyfus habe von seinem Vorschlag aber nichts wissen wollen.
Also nahm Gohl den formellen Weg. Als das Baugesuch für das Projekt Ende November 2017 veröffentlicht wurde, reichte er zusammen mit elf weiteren Anwohnern Einsprache gegen das Vorhaben ein. Damals war er noch zuversichtlich, dass das öffentliche Interesse am Erhalt der Bäume doch gross genug sein müsste.
«Adäquate Vorschläge für den Baumersatz»
Doch vor knapp anderthalb Monaten erhielt Gohl einen negativen Bescheid. Seither versteht er die Welt nicht mehr: Das Bau- und Gastgewerbeinspektorat wies alle Einsprachen ab und bewilligte das Bauvorhaben. Das Projekt sei sowohl der Baumschutzkommission (BSK) als auch der Kantonalen Natur- und Landschaftsschutzkommission vorgelegt worden, heisst es. Und diese kamen gemäss Einspracheentscheid, welcher der TagesWoche vorliegt, unter anderem zu folgendem Schluss:
«Die BSK bedauert, dass so ein grosses Baumvolumen zugunsten der drei Wohnhäuser beseitigt werden soll, erkennt aber auch die Bestrebungen der Planer, wieder einen bedeutenden Baumbestand aufzubauen und das Areal auch ökologisch aufzuwerten. Beim vorliegenden Projekt hat die BSK den Eindruck, dass zwar der Baumbestand verloren geht, die Projektverantwortlichen jedoch adäquate Vorschläge für den Baumersatz gemacht haben. Um mehr Bäume zu erhalten, müsste das Bauprojekt deutlich redimensioniert werden, was nach Meinung der BSK unverhältnismässig wäre.»
Für Gohl ist dieser Entscheid nicht nachvollziehbar, aus Prinzip nicht: «Es handelt sich um geschützte Bäume und eine Wiese, die sich im Inventar der schützenswerten Naturobjekte befindet. Das öffentliche Interesse am Erhalt der Bäume sowie dem unentbehrlichen Lebensraum für unsere Tierwelt muss gegenüber Renditeüberlegungen eines Investors doch um ein Vielfaches überwiegen», sagt Gohl. Zudem seien die geplanten Ersatzpflanzungen des Bauherren nicht mit dem jetzigen Bestand vergleichbar. Die neuen Bäume hätten ausserdem zu wenig Platz, um sich entfalten zu können.
Ein Baumliebhaber mit Kämpferherz
Um nachzuvollziehen, dass Heinrich Gohl nicht einfach ein frustrierter Anwohner ist, der sich gegen die Verdichtung vor seiner Haustüre wehrt, hilft ein Blick in seine Biografie. Gohl pflegt eine sehr innige Beziehung zu Bäumen: Seit Jahrzehnten fotografiert der gelernte Innenarchitekt unberührte Naturlandschaften, insbesondere Wälder und Bäume. Er ist Initiant und Kurator der Ausstellung «Wälder der Erde», die 2007 in der Fondation Beyeler und anschliessend in Museen in Europa, Amerika und Asien gezeigt wurde. Gohl hat über 20 Bücher in neun Sprachen über Bäume und Wälder veröffentlicht, darunter das Buch «Die Rede der Bäume». «Mir sind Bäume ein grosses Anliegen», sagt er und lässt keinen Zweifel an dieser Aussage.
«Ich stellte fest, dass ich das nicht kann, dass ich dem Kampf psychisch nicht gewachsen bin.»
Nach dem negativen Einspracheentscheid war Gohls erster Gedanke deshalb, «dass ich mich bis vor das Bundesgericht gegen die Fällung der Bäume wehren werde. Ich reichte Rekurs gegen den Entscheid ein.»
Gohl, der mit seinen 92 Jahren noch fit wirkt, hält wieder inne. Er erzählt, dass die Zeit des Rekurses eine schwierige Zeit für ihn gewesen sei und er nicht mehr habe schlafen können. Er nimmt ein Taschentuch hervor, schweigt. «Ich zog den Rekurs dann wieder zurück. Ich stellte fest, dass ich das nicht kann, dass ich dem Kampf psychisch nicht gewachsen bin.»
Gohl hat keine Hoffnung mehr, dass das Fällen der 16 Bäume noch irgendwie verhindert werden kann. «Dennoch finde ich es wichtig, dass die Geschichte öffentlich wird. Was nützt uns ein Baumschutzgesetz des Kantons, wenn es für private Interessen derart umgangen werden kann?»
Trotz neuer Bäume am Boden zerstört
Warum konnte der Investor sein Projekt nicht so planen, dass weniger geschützte Bäume gefällt werden müssen? Patrick Dreyfus weilt derzeit in den Ferien und ist für eine Stellungnahme nicht erreichbar, er stellte aber Kontakt her zum zuständigen Architekten Giovanni Ferrara.
Ferrara sagt, dass der Bauherr auf viele Inputs aus der Nachbarschaft eingegangen sei und rund 750’000 Franken in die Umgebung investiere. «Wir hätten die Möglichkeit gehabt, die drei Mehrfamilienhäuser grösser zu bauen. Stattdessen verzichtet der Bauherr zugunsten der Umgebung auf rund 20 Prozent der möglichen Nutzung.» Zudem habe man mit einem Landschaftsarchitekten und Biologen genau abgeklärt, welche Bäume sinnvoll erhalten werden können.
Auch die geplanten Ersatzpflanzungen, die bei Fällungen von bestehenden Bäumen von Gesetzes wegen nötig werden, sind laut Ferrara optimal. Es würden neue Bäume der Sorten Waldföhre, Elsbeere und Feldahorn gepflanzt. «Es handelt sich um Bäume, die einheimisch und ökologisch wertvoll sind. Die neuen Bäume sind behutsam dort geplant, wo keine Einstellhalle steht – daher können sie ihr Wurzelwerk bis in die Tiefe schlagen», sagt Ferrara. «Wir haben grössten Wert auf den verantwortungsbewussten Umgang mit der Bepflanzung im Rahmen eines architektonischen Gesamtkonzeptes gelegt.»
Wann die Bäume genau gefällt werden, weiss Ferrara noch nicht, aber «wohl im Verlauf des Monats August».
Heinrich Gohl wird am Tag der Baumfällung nicht zu Hause sein. «Es würde mich zerreissen, zusehen zu müssen, wie diese Bäume gefällt werden. Das halte ich nicht aus», sagt er und blickt aus dem Fenster zu den Bäumen.
Oft wird er dies nicht mehr tun können. Gohl ist am Boden zerstört. In seinem Buch «Die Rede der Bäume» schrieb er einst: «Es führt uns kein Weg an den Bäumen vorbei, sind wir doch unauflösbar mit ihnen verbunden. Wenn es die Bäume und Wälder nicht mehr gibt, ist auch unser Überleben infrage gestellt.»