Bei «Grosser Gott, wir loben dich» gehen die ersten Arme in die Höhe. Statt einer Orgel spielt vor der Bühne eine Band, zum klassischen Text kommt noch ein «Hallelujah» dazu. Kirchenlied neu verföhnt. Das Licht ist gedimmt, die Augen bleiben geschlossen. Der Keyboarder leitet nahtlos in eine Ballade über. Ein Mann in Jeans und Pulli betritt die Bühne, breitet seine Arme aus und spricht auf Dialekt zur Musik:
«Lieber Gott, nichts ist uns im 2018 wichtiger, als dich besser kennenzulernen. Du bist der Schöpfer, die Liebe, der Wiederhersteller.»
Eine junge Mutter wiegt ihr Neugeborenes, der Vater schlenkert Arme und Beine zur Musik. Ein Mann um die 60 drückt den Jugendlichen mit Bomberjacke zu seiner Linken fest an sich. Als er den Jungen loslässt, dreht der sich zu seiner Freundin und streichelt ihr lange übers Haar.
Wir sind hier nicht in der Frei-, sondern in der evangelisch-reformierten Landeskirche. Es ist Sonntag kurz nach 19 Uhr, die Gellertkirche «feiert» den Abendgottesdienst. Fast alle Plätze sind besetzt, viele der Besucherinnen sind um die 20 Jahre alt, dazwischen sitzen ein paar Grauhaarige.
Das Wunder der Reformierten
Der Mann vorne heisst Pfarrer Dominik Reifler, statt Empore und Altar hat er eine Bühne. Er predigt von der Wüste. Dort stehen Josua und sein auserwähltes Volk gerade ziemlich resigniert vor dem Jordan. Sie sind schon lange unterwegs, und das gelobte Land ist nah – wenn nur der verdammte Fluss nicht wäre. Das Volk Israel hat Angst und Reifler fühlt mit: «Auch wir in der Gellertkirche stehen an der Grenze zu Neuland.»
Was er meint: Es ist der letzte Sonntag, an dem die Gellertkirche «nur» zwei Gottesdienste abhält. Ab 21. Januar werden es neu drei Gottesdienste pro Sonntag sein.
Wie bitte? Drei Gottesdienste? Wie ist das möglich zu Zeiten, in denen die Kirchen Jahr für Jahr vorrechnen müssen, wie viele Mitglieder wieder ausgetreten sind? Von 2005 bis 2016 ging deren Zahl bei der evangelisch-reformierten Kirche in Basel-Stadt von 36’800 auf 27’800 zurück.
Nicht so in der Gellertkirche. Sie gilt unter Reformierten schon lange als kleines «Wunder». Schweizweit. Der «Tages-Anzeiger» titelte vor ein paar Jahren: «Wo die Kirche aus allen Nähten platzt.» Jeden Sonntagmorgen strömen über 450 Leute in die Kirche. Sie kommen nicht nur aus dem Quartier, sondern aus dem Neubad, aus Allschwil oder Muttenz. 2005 führte die Kirche deshalb einen zweiten Gottesdienst ein, den am Abend. Und jetzt, eben, noch einen dritten am Mittag.
Gottes Segen und zielgruppengerechte Angebote
Aus Sicht der Gläubigen verdankt die Gellertkirche diesen Erfolg «Gottes Segen». «Es ist ein grosser Hunger da nach Gottes Liebe, Rettung, Weisung und seiner Freisetzung», predigt Reifler. Doch die Gellertgemeinde tut einiges, um «Gottes Segen auszulösen». Sie gibt den Besucherinnen und Besuchern ihr täglich Brot.
Das sind, zum ersten, eindeutige Botschaften. «Die Gellertkirche war immer eine Kirche mit klarem Profil», betont Sozialdiakon Christian Peyer. «Im Zentrum stehen das Evangelium und die Liebe Gottes – dafür haben wir uns nie geschämt.»
Wer hierher kommt, glaubt, dass Jesus Christus ihn erlöst hat. Und er möchte sein Leben auch nach diesem Glauben ausrichten. Das ist ein bisschen so, wie grüne Politiker, die wirklich nicht fliegen und nur Bio essen. Tatsächlich zieht die Kirche auch immer wieder Menschen aus dem linken Spektrum an, etwa die SP-Grossrätin Dominique König. Aber auch konservative Politiker finden hier ihre Heimat, beispielsweise SVP-Grossrat Patrick Hafner.
Verflixt komplizierte Wissenschaft
Zuweilen sind die klaren Botschaften so klar, dass man erschrickt. Zum Beispiel im Weihnachtsmusical im vergangen Dezember. Dort beklagte sich einer der Drei Könige: «Immer stossen wir Wissenschaftler auf weitere Fragen. Ich will endlich mal klare Antworten, ich will Schwarz-Weiss.» Am Ende kriegt der König sein Schwarz-Weiss, natürlich, in Gestalt des Jesuskindli. Sein Kommentar: «Gott sei Dank». Für Fragen und Zweifel bleibt da kein Platz.
Ein Hirte sagt im Hinblick auf Marias jungfräuliche Geburt: «Gott sei Dank bleibt Josef bei Maria. Was ist schon eine Mutter ohne Mann?»
Ist die Gellertkirche hinter dem poppigen Anstrich genau so reaktionär wie manche Freikirchen? Sozialdiakon Christian Peyer sagt dazu: «In der Gellertkirche gibt es punkto Sexualmoral keinen Verhaltenskodex.» Allerdings orientiere man sich auch in diesen Lebensfragen an den Werten der Bibel. Wenn man diese im historischen Kontext betrachte, sei die Stellung der Frau bei Jesus revolutionär.
Ähnliches gelte für die Homosexualität. Zwar enthalte die Bibel einige Stellen, mit denen die Gemeinde ringe. «Aber wir haben Homosexuelle gern und möchten mit ihnen zusammen Antworten auf diese Fragen finden», sagt Peyer.
Fetzige Showeinlagen
Zweites Merkmal der Gellertkirche: So bibeltreu ihre Lehre, so modern ihre Form. Sie bietet ihren Leuten zielgruppengerechte Angebote, wie es in der Unternehmenssprache heisst. Wer es konservativ mag, kommt am Morgen, mit Orgel, Predigt in Hochdeutsch und Kinderbetreuung. Wer lieber zu jugendlichem Christpop abrockt, kommt am Abend. Oder neu am Mittag. Der dritte Gottesdienst richtet sich unter anderem an junge Leute, die mittlerweile vielleicht Kinder haben, aber nicht auf die Dialekt-Predigt und die Band verzichten möchten.
So wie Ann-Katrin. Die 26-Jährige besucht die Gellertkirche seit einem Jahr. «Hier herrscht eine mega tolle Stimmung.» Sie wurde christlich erzogen, besuchte mit ihren Eltern eine Freikirche in St. Gallen. Dann zog sie nach Basel, kam über einen Bekannten ihres Mannes in die Gellertkirche. Ob Freikirche oder Landeskirche spielt für sie keine Rolle. «Wichtig ist mir, wie Gott angebetet wird, wie frei ich bin, meine Hände raufzunehmen, mit dem ganzen Körper auszudrücken, was Gott mir bedeutet.» Ann-Katrin ist gerade Mutter geworden. Ihr Kind darf selber entscheiden, ob es sich taufen lassen will, wenn es gross ist.
Gott kann alles
Jetzt ist es Zeit für ein Ritual. Jeder darf sich vorne auf der Bühne einen Bibelspruch abholen, der einen durchs neue Jahr begleiten soll. Auf einem steht:
Einige Besucherinnen und Besucher suchen das Gespräch mit Mitarbeitenden der Kirche, wollen zusammen mit ihnen beten, ein Problem besprechen, einen Rat suchen oder Gott um Heilung bitten. «Hat jemand von Euch Hüftschmerzen?», fragt Pfarrer Reifler. «Es kommt im Gottesdienst immer wieder zu Heilungen», sagt Sozialdiakon Peyer.
Hier gilt: Gott kann alles – und ist überall. Das geht in der Gellertkirche weit über die Gottesdienste hinaus bis in die Freizeit der Mitglieder. Ob Spiel und Spass, Antworten auf persönliche Probleme oder eine Kinderbetreuung im Quartier: Für jedes Bedürfnis gibt es ein Angebot, für jeden Lebensabschnitt eine Gemeinschaft. Mütter können sich am Müttertreff austauschen, Männer in der Männerrunde über Männlichkeit reden, Pensionierte in der Pensioniertenrunde diskutieren. Für Paare gibt es Eheberatungen, es gibt Theater und Bibelgruppen.
Und, natürlich, die Kinder- und Jugendarbeit. Die Kleinen sind bekanntlich am empfänglichsten für den Glauben. Die Gellertkirche organisiert Ferienprogramme für Kinder oder Freerunning-Kurse für Jugendliche. Dazu kommen Quartierfeste und Kinoabende für die Bevölkerung. Mit grossem Zulauf.
Die Gellertkirche hat so viele verschiedene Angebote, dass man nirgendwo anders hin muss.
Das ist erstaunlich: Viele Vereine beklagen heutzutage, sie verlören Leute, weil es zu viele Angebote gäbe. Nicht nur die Institution Kirche ist in der Krise, den Pfadfindern, Parteien oder Turnvereinen geht es ebenso. Bei der Gellertkirche ist es umgekehrt: Sie hat so viele verschiedene Angebote, dass man nirgendwo anders hin muss. Die Kirche als Klammer für individualisierte Konsumenten.
Die Angebote sind auch für Nichtchristen offen. Und wenn die das ganze Rundherum noch lässig finden, sich aber fragen, warum Jesus mehr Gültigkeit haben soll als Mohammed oder Shiva, gibts alle paar Monate den Alphalive-Kurs. Eine Einführung ins Christentum. Zweifel und Fragen erlaubt.
Das Konzept geht auf. Etwa bei Nicole. Vor 17 Jahren zog sie ins Gellert, suchte eine Spielgruppe für ihren Sohn – und wurde in der Gellertkirche fündig, die Spielgruppe nutzt die kirchlichen Räumlichkeiten. Danach wollte der Sohn in die Sonntagsschule, und Nicole und ihr Mann fanden sich plötzlich im Gottesdienst wieder. «Was machen wir jetzt?», fragte sich das Ehepaar und folgte der Einladung des damaligen Pfarrers in den Alphalive-Kurs.
«Plötzlich war alles völlig klar», sagt Nicole, «der Glaube an Jesus kam aus meinem Herzen.» Ein Segen für die Familie: Das Paar hatte Eheprobleme, in der Seelsorge fanden die Partner wieder zueinander. «Ohne Kirche wären wir heute geschieden», sagt Nicole.
Geht so modernes Missionieren?
«Hoffentlich haben wir eine Mission, wenn schon jedes Unternehmen behauptet, eine zu haben», sagt Christian Peyer. Und klar wolle man, dass auch kirchenferne Leute in die Kirche finden. «Aber wir setzen uns auch aus Überzeugung für die Gesellschaft ein.»
Kirche von unten
Orchestriert wird das nicht von oben. Die Kirche setzt, neben Jesus, «ganz normale Menschen» ins Zentrum. Sie moderieren die Gottesdienste, betreuen den Bücherladen oder das jährliche Weihnachtsmusical. Kirche von unten. Auch das ein Erfolgsfaktor der Gellertkirche.
Es begann mit dem früheren Pfarrer Hans-Ulrich Herrmann. Bereits in den Siebzigerjahren reiste er in die USA, um innovative Kirchgemeinden zu besuchen. Von dort brachte er das Konzept der Kleingruppen mit – Gläubige treffen sich zu Hause, um über den Glauben zu reden. Bei den anderen Kirchgemeinden sorgte das für Anstoss. Normale Menschen reden ohne Kontrolle durch den Pfarrer über Religiöses? Geht gar nicht.
Mittlerweile hat die Gellertkirche in Basel aber Vorbildcharakter. Kirchenratspräsident Lukas Kundert wünscht sich, dass mehr Gemeinden ihr Profil schärfen. Also nicht, dass jetzt alle so bibel- und jesustreu werden, sondern dass jede Kirche ihre eigene Identität entwickelt. «Früher wollte jede Kirche es allen recht machen und setzte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner», sagt er. Das Resultat: Niemand fühlt sich richtig wohl. Kundert wünscht sich verschiedene Kirchen – traditionelle, moderne, liberale, konservative, jugendliche, altehrwürdige.
«Die Kirchen haben mehr zu bieten als der Yogakurs. Bei uns kann man mit dem Schöpfer in Kontakt treten.»
Kunderts Konzept zeitigt erste Erfolge. Im September ist etwa aus der Tituskirche auf dem Bruderholz ein «ökumenisches Zentrum für Meditation und Seelsorge» geworden. Pfarrerin Monika Widmer und ihr Team bieten unter anderem Meditationsrunden und andere geistige Übungen an, sogenannte «Exerzitien». Sie sind ausgebucht. Und sie ziehen auch Leute an, die bislang wenig mit Glauben am Hut haben, aber über Yoga oder Chi-Gong mit Meditation vertraut sind. «Wir zeigen ihnen, dass es auch in der christlichen Tradition Meditation gibt», sagt Widmer.
Diversifizierung in der Anbetung. Auch Leute, die es mit Jesus nicht so können, aber Sehnsucht nach Spiritualität haben, finden in einer der Kirchen ihr Plätzchen. Tschüss Yoga-Retreat in Indien, hallo gute, alte Kirchenbank. Wer es dagegen lieber klassisch mag, geht vielleicht in die Münsterkirche, und eskapistische Freigeister fühlen sich eher in der offenen Kirche Elisabethen wohl.
Ist das nicht ein bisschen New-Age-Lifestyle-Jekami – egal was du suchst, in der Kirche findest dus, ob Gott, Meditation oder Rockmusik?
«Nein», findet Lukas Kundert, «ich habe eine riesen Freude an der Vielfalt.» Und Christian Peyer von der Gellertkirche betont: «Die Kirchen haben mehr zu bieten, als es ein Yogakurs vermag. Bei uns kann man mit dem Schöpfer in Kontakt treten.»
Die Kirchen müssen Drittmittel suchen
Allen Kirchenuntergangs-Rufen zum Trotz: Viele Gläubige sind auch heute noch bereit, für ihr Seelenheil in die Tasche zu greifen. Die Gellertkirche finanziert sich nicht nur über die Kirchensteuer, sondern holt selbst Drittmittel ein, über den Förderverein Gellert. Dieser nahm im Jahr 2016 insgesamt 1,2 Millionen Franken ein, davon 775’000 Franken an Spenden. Der Rest kam über Fördergelder der evangelisch-reformierten Kirche, Kollekten und Einnahmen von Angeboten wie Mittagstischen herein.
Dieses Finanzierungsmodell hat sich die Kirche von der St. Jakobs- und der Thomaskirche abgeschaut, die sich ebenfalls zu einem grossen Teil über Eigenmittel finanzieren. Genauso wie Basel-West und Riehen-Bettingen.
Dieser Weg ist aus der Not geboren, ohne zusätzliche Einnahmen hätten einige Kirchen wegen zurückgehender Steuereinnahmen längst zumachen müssen. Deshalb hat der Kirchenrat alle Kirchgemeinden aufgefordert, Drittmittel einzuholen. Viele sind auf dem besten Weg, Basel-Ost stellt bis im Jahr 2025 auf ein solches Modell um. Nur das Kleinbasel hat Mühe; die dortige Kirchgemeinde ist schon lange zerstritten, keine gute Voraussetzung für eine Neuausrichtung.
In der Gellertkirche ist man längst weiter. Aber auch noch nicht ganz über den Fluss. Der dritte Gottesdienst steht noch bevor, einige Mitglieder sind nicht begeistert, weil sie sich an neue Zeiten gewöhnen müssen. Aber es ist normal, dass man mal mit seinem Schicksal hadert. Das passiert sogar den Besten. Zum Beispiel Josua und dem auserwählten Volk.
Die stehen immer noch vor dem Jordan. Bis sie sich, der Bundeslade hinterher, ins Wasser trauen – und der Herr, ob so viel Gottvertrauen, den Fluss teilt, sodass seine Schäfchen wieder einmal trockenen Fusses ans andere Ufer kommen.
Pfarrer Dominik Reifler nimmt sich ein Beispiel und bittet um Gottes Segen: «Der Segen ist nicht, dass die drei Gottesdienste gut funktionieren, sondern der Segen ist, dass Gott die Menschen in und um Basel erreichen und berühren kann.» Amen.