Sie haben diskutiert, was zu machen sei. Elena schlug vor etwas Schönes, Unpolitisches. Die Fassade bunt anmalen. Schutzzone, warf Jonas ein. Jetzt hängt ein XXL-Leintuch die Hauswand runter, beschriftet mit einem Bibelzitat. Salomon, 24,3: «Durch Weisheit wird ein Haus gebaut und durch Verstand erhalten.»
Es ist die einzige Sprache, die ihre Vermieter verstehen, glauben die Bewohner der Mattenstrasse, Hausnummern 74 und 76: die Sprache des Herrn.
Der katholische Vinzenzverein St. Marien, Eigentümer der beiden Wohnhäuser, hat den Wink mit der Bibel auf seine Weise entgegengenommen. Er hat ein amtliches Schild montieren lassen, auf dem er den Abbruch der Häuser ankündigt.
Das mitfühlende Herz der Vinzentiner
Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, fahren an der Mattenstrasse die Bagger auf. Reissen die Häuser ab, ebnen den kleinen Spielplatz ein, schleifen den Riegelbau und die alte Schmiede im Innenhof, fällen die mächtige Kastanie und die Vogelkirsche. Mit der alten, offenbar nicht sanierungswürdigen Bausubstanz reissen sie auch eine gewachsene Gemeinschaft ein und sie zerstören die Geschichte hinter dieser Gemeinschaft.
Sie tun das, um Gutes zu tun. Und das ist es, was Jonas, Elena und viele andere Bewohner der bedrohten Häuser nicht begreifen. Wir sitzen in der Zweizimmerwohnung von Jonas auf dem Balkon zum Innenhof. Der 31-Jährige schreibt an seiner Doktorarbeit zur Teilhabe von sozial benachteiligten Menschen. Seine Dusche steht in der Küche, die Toilette ist auf dem Flur, im Winter spendet ein Brikettofen ein bisschen Wärme. Die Leitungen wirken wie aus der Zeit gefallen. Es ist einfachster Wohnstandard, aber der Standard, den sich Jonas leisten kann und leisten will. Knapp 600 Franken im Monat bezahlt er für seine Wohnung, die er sich mit einer Mitbewohnerin teilt.
Jonas sagt, er habe kürzlich das Leitbild der Vizentiner nachgeschlagen. «Es war so ein absurder Moment, ich musste laut lachen.» Vinzentiner orientieren sich am Werk des Armenpriesters Vinzenz von Paul. Sie hätten ein «mitfühlendes Herz», heisst es an einer Stelle im Leitbild, «und setzen sich uneigennützig zugunsten von Mitmenschen in seelischen oder materiellen Schwierigkeiten ein».
«Man muss die Häuser hier nicht für sozialverträgliches Wohnen neu bauen – es existiert schon.»
Jonas, Bewohner
An der Mattenstrasse will der Basler Vinzenzverein St. Marien sozialverträgliches Wohnen ermöglichen, «also genau das, was hier längst existiert», sagt Jonas irritiert. «Hier hat sich eine Gemeinschaft gebildet, die sich hilft und austauscht, die sich vertraut und die Türen nicht abschliesst. Man muss die Häuser hier nicht für sozialverträgliches Wohnen neu bauen – es existiert hier schon.»
Mit Jonas auf dem Balkon sitzt Elena, 22, die Postindustrielles Design studiert. Sie wohnt erst seit ein paar Monaten in der Mattenstrasse. Für Elena war es eine Rückkehr an den Rückzugsort ihrer Kindheit. Ihr Grossvater wohnte hier, ebenso ihre Tante. Als kleines Mädchen hat sie viele Tage im Innenhof verbracht. Sie zeigt auf die Hofmauer und erzählt, wie sie als Kind oft heimlich rüberkletterte, um mit den Kindern im Nachbarblock zu spielen.
Der Gasofen des Grossvaters
Oben im Haus wohnte ihr Grossvater, in dessen Wohnung es im Winter nie kalt war, weil er den Gasofen voll aufdrehte und die Ofentür offenliess. Elena lacht, als sie die Anekdote erzählt. Sie erinnert sich gerne zurück, empfindet als Privileg, dass sie, nachdem sie eine Weile ihren eigenen Weg gegangen und im Ausland war, wieder am Anfang ihrer Geschichte anknüpfen kann.
Als sie an die Mattenstrasse 76 zurückkehrte, wohnte da niemand mehr, den sie enger kannte. Heute ist sie Teil der Gemeinschaft. Man klopft irgendwo an eine Tür und wird zum Abendessen an den Tisch gebeten, trinkt gemeinsam Kaffee, sitzt um sommerabendliche Lagerfeuer im Hof, diskutiert das Leben rauf und runter. «Was ich hier angetroffen habe», sagt Elena, «ist selten und wertvoll.»
«Wir wollen günstigen und zeitgemässen Wohnraum an attraktiver Lage für finanziell schwache Personen.»
Dominik Büchel, Sprecher des Vinzenzvereins
Wert und Werte. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch der Vinzenzverein St. Marien. Die Häusergruppe fiel ihm vor 20 Jahren als Legat zu. Lange beliess der Verein sie so, wie er sie bekommen hatte. Die Katholiken investierten kaum etwas und verlangten entsprechend tiefe Mietzinse. Aber sie hatten einen Plan in der Tasche: Die abgewirtschafteten Häuser abreissen und zwei Blocks hinstellen. Dazu wurde eine Firma gegründet, angeführt vom Basler Baulöwen Martin Cron.
Vor gut fünf Jahren erhielten die Mieter ein erstes Mal die Kündigung, obwohl noch kein fertiges Projekt vorlag. Um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, nahm der Verein Abstand von der Kündigung, vergab aber nur noch befristete Mietverträge, die später verlängert wurden. Die Bewohner sollten so lange bleiben dürfen und Miete bezahlen, bis die Bagger anrollen.
Mittlerweile liegen Pläne vor. 6,5 Millionen Franken will der Verein investieren, 21 Wohnungen schaffen, die Wohnfläche im Vergleich zu heute verdoppeln, indem der Innenhof mit einem zweiten Wohnblock bebaut wird. «Wir wollen günstigen, städtischen und zeitgemässen Wohnraum an attraktiver Lage für finanziell schwache Personen, insbesondere auch Familien mit Kindern und alleinerziehende Eltern», sagt Dominik Büchel, Sprecher des Vinzenzvereins. Die jetzigen Bewohner würden als erste eingeladen, sich zu bewerben.
Intervention des Denkmalschutzes
Büchel weiss vermutlich, dass das kaum passieren wird. Die neuen Häuser und der neue Innenhof werden nichts mit den heutigen Bauten zu tun haben. Zudem dürften die Mieten ein Mehrfaches der heutigen betragen. Wie teuer sie werden, teilt Büchel nicht mit, aber er sagt, es seien Zuschüsse an die Mieten vonseiten des Vereins möglich.
Wann der Abbruch erfolgt, ist offen. Büchel sagt: «Sobald die Baubewilligung vorliegt.» Davor muss der Verein allerdings noch die Nummer 74 aus der Schutzzone klagen. Abgerissen werden dürfen nur die Hausnummer 76 und die Bauten im Innenhof, obwohl alle offensichtlich ein Ensemble darstellen. Das ist alles ziemlich absurd und für den Verein nicht nachvollziehbar. Doch der Vinzenzverein hat Glück, dass er überhaupt bauen darf.
2014 stellte die Denkmalpflege Antrag, das gesamte Ensemble unter Denkmalschutz zu stellen. Dann wären keine Veränderungen an den Häusern mehr möglich gewesen. Die Denkmalpfleger haben die Geschichte der Häuser detailliert untersucht und «eine einzigartige Situation» festgestellt. Das Ensemble sei ein «wichtiges Beispiel für die Erstbebauung ausserhalb der Stadtmauern».
Vereinszweck: Gutes tun
Als der Zollbeamte Abraham Schranz 1880 das Hinterhaus mit der Schmiede errichtete, hiess die Mattenstrasse noch Mattweg und lag ausserhalb der Stadt. Später kamen Stallungen dazu und die beiden Mehrfamilienhäuser an der Strasse. Die Häuser blieben bis 1995 im Besitz der Familie Schranz, sie wurden von Generation zu Generation weitervererbt – und blieben weitgehend erhalten.
Gleichwohl verweigerte die Basler Regierung die Unterschutzstellung. Eine gewichtige Delegation angeführt vom damaligen Regierungspräsidenten Guy Morin hatte zuvor einen Augenschein vor Ort genommen. Das Hauptargument: Der Denkmalschutz sei unverhältnismässig und würde «die Entwicklung der Parzelle im Sinne des Vereinszwecks des Eigentümers hemmen.»
Der Vereinszweck des Eigentümers: anderen Gutes tun. Mit rund 90’000 Franken im Jahr unterstützt der Vinzenzverein Bedürftige, dazu kommt viel ehrenamtliche Arbeit der Mitglieder. Um Unterstützung leisten zu können, muss Geld reinkommen. Und dazu muss der Verein investieren, in Immobilien etwa. Für den Verein war es deshalb ein Geschenk des Himmels, als Anna Schranz, die letzte Eigentümerin, im Jahr 1995 die Mattenstrasse 74 und 76 in ihrem Testament dem Vinzenzverein vermachte.
Anna Schranz liess aus christlicher Überzeugung Menschen mit kleinem Auskommen bei ihr hausen. Die Christen vom Vinzenzverein werfen diese Menschen nun raus.
Doch die fromme Frau stellte Forderungen. Sie vermietete nicht aus Profitdenken, sondern ebenfalls, um Gutes zu tun. Sie soll allen Bewohnern lebenslanges Mietrecht zugesagt haben, das zumindest besagen unter den Bewohnern weitergetragene Erzählungen. Ökonom Büchel vom Vinzenzverein sagt: «Es gab beim Tod von Frau Schranz vor mehr als 20 Jahren gewisse Bewohnerinnen und Bewohner, die ein solches Wohnrecht genossen, das wir selbstverständlich respektierten. Aus diesem Kreis wohnt niemand mehr an der Mattenstrasse.»
Trotzdem scheint ein Widerspruch zu bestehen. Anna Schranz liess aus christlicher Überzeugung Menschen mit kleinem Auskommen bei ihr hausen. Die Christen vom Vinzenzverein werfen diese Menschen nun raus. Wie passt das zusammen?
Dominik Büchel sagt dazu: «Die jetzigen Bewohner haben Ihre Mietverträge nicht mit Frau Schranz, sondern mit dem Vinzenzverein abgeschlossen. Wir haben also die Politik der Vorbesitzerin weitergeführt. Während mehr als 20 Jahren. Und oft Hand geboten für unkonventionelle Lösungen. Es ist kein Widerspruch, sondern eine Frage der Zeitachse: Jetzt wollen wir die Wohnfläche dort verdoppeln und den Hof noch mehr Menschen zugänglich machen. Mit dem Neubau ermöglichen wir soziales Wohnen für mehr als den bisherigen Kreis.»
Würde das Anna Schranz gutheissen? Die Erinnerung an sie und ihre Werte steckt nicht nur in ihrem letzten Willen, er steckt im Gewebe, im Stoff der Mattenstrasse. Doch die Fäden, die dort während Jahren und Jahrzehnten zusammengekommen sind, entwirren sich und werden lose. Die Bewohner früherer Zeiten sind längst weggezogen oder gestorben.
Einen Faden gibt es noch, und den hält Verena Schindler in den Händen. Schindler, Künstlerin und Lebenskünstlerin, lebte 25 Jahre lang im Riegelbau im Innenhof, oben die Wohnung, unten ihr Atelier. Dann kam das Ultimatum des Vinzenzvereins und nun bewohnt sie eine kleine Wohnung auf der anderen Seite des Rheins.
Sie kannte Anna Schranz, die Madame der Mattenstrasse, persönlich. Wir treffen uns mit ihr zum Kaffee in ihrer neuen Bleibe an der Mülhauserstrasse. Erzählen Sie doch von Frau Schranz, Frau Schindler. «Frau Schranz?» Schindler lacht laut heraus. «Sie würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, dass Sie sie Frau gerufen haben.» Erste Lektion: Anna Schranz war Zeit ihres Lebens Fräulein geblieben, darauf legte sie Wert.
Fräulein Schranz wollte keine Auszüge aus dem Betreibungsregister sehen. Aber sie musste wissen, was ihre Mieter im Leben vorhatten.
Schindler traf Fräulein Schranz erstmals Ende der 1980er-Jahre, sie hatte soeben den USA den Rücken gekehrt. In der Nähe von San Francisco hatte sie mit ihrem Sohn in einer Hippie-Kommune gelebt, das Geld verdiente sie mit Putzarbeiten im nahen Reichenviertel. Als ihr Sohn aufs College wollte, kam sie in die Schweiz zurück. College, das konnte sie sich nicht leisten.
Jemand gab ihr den Tipp: Probiers doch bei Fräulein Schranz. Schindler traf auf eine gewissenhafte Frau, die keine Betreibungsregisterauszüge sehen wollte, aber wissen musste, was man im Leben vorhabe und warum dazu die Mattenstrasse der richtige Ort sei. «Warum wollen Sie bei mir wohnen?», wollte Schranz wissen.
Künstlerin sei sie, sagte Schindler. Sie benötige ein Atelier und habe kaum Geld für die Miete. «Interessant, was malen Sie denn?» Schindler hatte sich in den USA ausgiebig mit den Riten der amerikanischen Hopi-Indianer auseinandergesetzt. Ihre Malerei war zu jener Zeit beeinflusst von Kachina-Figuren, Götterboten mit zentraler Funktion im religiösen Kult der Hopi.
«Ich male so etwas wie Engel», sagte sie also und traf damit den richtigen Nerv. Fräulein Schranz geriet in Ekstase: «Engel? Wie wunderbar, ich male auch Engel!»
Todesursache Leim
Obwohl sie sich immer wieder angekündigt hatte, schaute Fräulein Schranz dann nie in ihrem Atelier vorbei. Sie liess ihre Mieter machen, solange sie sich an den Waschküchenplan hielten. Aber das Fräulein rief ihr manchmal quer über den Innenhof zu: «Kommen Sie zu mir hoch, einen Schnaps trinken!» Anna Schranz, erzählt die Künstlerin, hat alle unter den Tisch getrunken.
Mit Schindler lebten Studenten, junge Familien, viele Gastarbeiter aus Portugal und Italien in den Wohnungen. Sie alle hatten wenig Einkommen und waren auf eine Frau wie Anna Schranz angewiesen, die es als christlichen Auftrag verstand, sozial Schwache bei sich einzuquartieren.
Fräulein Schranz war eine tiefgläubige Frau. Schindler sah sie das letzte Mal, als sie auf einer Bahre aus ihrer Wohnung getragen wurde. Gestorben an einem Lungenleiden. «Es war der Leim», erzählt die Künstlerin. Fräulein Schranz hatte leidenschaftlich, und mit zunehmendem Alter immer häufiger, in einem eigens dazu hergerichteten Zimmer in ihrer Wohnung, Heiligenbildchen auf Postkarten geklebt. Sie hat so ihren Glauben in die Welt hinausgetragen, zu all den Namen, die sie in ihrem Adressbuch führte.
Fristen und Ultimaten sind denkbar schlechte Planungsgrundlagen für eine Familie.
Ihre Biografie, sagt Verena Schindler, hätte einen anderen Verlauf genommen, wären Fräulein Schranz und ihr Haus an der Mattenstrasse nicht gewesen. Der grösste Teil ihres Werkes ist im Atelier im Innenhof entstanden. Schindler sagt, sie hege keinen Gram, weil sie rausmusste. Sie malt jetzt kleinflächiger, malt in ihrer Wohnung, weil sie sich kein Atelier leisten kann. «Man muss Veränderungen annehmen», sagt sie. Sagt aber auch, dass ihr das nicht leichtfiel, weil sie bis zum Auszug aus der Mattenstrasse selbstbestimmt durchs Leben steuerte.
Sie verliess Basel einst mit ihrem Sohn, als sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, ging nach Berlin und als sie von Berlin satt war an die amerikanische Westküste. Immer zusammen hätten sie entschieden, ihr Sohn und sie. Auch als ihre grosse Lebensreise sie nach Basel zurückführte. Jetzt war das anders, jetzt entschied der Vinzenzverein: «Zum ersten Mal wurde mir eine Veränderung aufgezwungen.»
Schindler ist nicht die einzige Mattenstrasse-Mieterin, die ausgezogen ist. Auch eine Familie mit schulpflichtigen Kindern, die für wenig Geld im Hinterhaus gewohnt hat, ist bereits draussen. Fristen und Ultimaten sind denkbar schlechte Planungsgrundlagen für eine Familie.
Mieter wollen kämpfen
Jonas und Elena wollen bleiben und den Kampf für eine sanfte Sanierung aufnehmen. Einen Kampf auch dagegen, dass alte Häuser, bezahlbarer Wohnraum in dieser Stadt, reibungslos vernichtet werden dürfen.
«Es geht nicht nur um die Verteidigung unseres Wohnens», sagt Jonas. Es gehe darum, dass günstiger Wohnraum unwiderruflich verloren gehe in dieser Stadt und dass es keinen politischen Willen gebe, das zu verhindern.
In der Nachbarschaft bröckelt es bereits. Am einen Ende der Mattenstrasse ist das Erlenmattquartier entstanden mit weit höheren Durchschnittseinkommen als im restlichen Rosental. Am anderen Ende der Strasse mussten die Rosentalhäuser einem teuren Neubau weichen. In der Mitte der Strasse kam es bereits zu einer Massenkündigung. Und es gibt keine Instanz, die dagegenhält.
Es gibt zig Kommissionen und Ausschüsse, die sich für die Rechte von Bäumen, seltenen Käfern, Fassaden und Ortsbildern einsetzen. Für die Menschen in den Häusern interessiert sich der Staat nicht.
Immer mehr Abbrüche
Spätestens seit dem Wohnraumfördergesetz von 2014 ist es für Investoren ein Leichtes, Häuser abzureissen. Einzige Bedingung: Es darf kein Wohnraum verloren gehen. Anträge des Grünen Bündnisses, Klauseln einzubauen, die bezahlbares Wohnen schützen, scheiterten auch am Widerstand der Sozialdemokraten. Seither wird eifrig abgerissen. 2012 wurden in Basel acht Häuser abgebrochen, 2013 elf. Mit dem neuen Gesetz erhielt die Baubranche viele Aufträge: Im Jahr 2016 kam es zu 23 Abbrüchen und im Jahr davor zu 28.
Die Schlagworte hinter der politisch gewollten Entwicklung heissen: Verdichtung, positive Wohnungssaldi, attraktive Quartiere. Die sozialen Aspekte der Wohnpolitik hat der Kanton dem Genossenschaftsbau übertragen, der zwar gefördert wird, aber viele Menschen ausschliesst. Neue Genossenschaftswohnungen sind praktisch gleich teuer wie privat finanzierte, dazu kommen Reglemente für die Bewohner und die Pflicht, Eigenkapital beizusteuern. Wer sich das alles nicht leisten kann oder antun will, darf beim Kanton Zuschüsse beantragen.
Jonas erkennt in dieser Entwicklung eine Analogie zur Transformation der chemischen Industrie in die hochproduktive Pharmabranche. «Blue Collar wurde durch White Collar ersetzt, Arbeiter durch Forscher und Manager. Die Regierung hat diese Entwicklung in die Stadtentwicklung übertragen. Gentrifizierung wird von der Politik als notwendiges Mittel erachtet, um gute Steuerzahler anzulocken. Andere Schichten werden wissentlich verdrängt.»
Ein Wert, der weit übers Geld hinausreicht
Dabei geht mit dem günstigen Wohnraum ein Kapital verloren, das, wie Zürich zeigt, später mit viel Mitteleinsatz vom Staat wiederhergestellt werden muss. «Wenn man den Altbaubestand aufgibt und dem Markt überlässt, kann man irgendwann kostengünstige Wohnungen nur noch durch Neubau schaffen. Und das ist teuer», sagt Jonas.
Also, warum nicht schützen, was man später vermissen wird? «Es geht um den Wert von günstigem Wohnraum, der in dieser Stadt nicht anerkannt wird», sagt Jonas. Es ist ein Wert, der weit übers Geld hinausreicht. Hausgenossin Elena erklärt den Gedanken: «Wäre meine Miete höher, müsste ich mehr arbeiten, dann könnte ich mich hier nicht einbringen.» «Viele Leute nehmen sich Zeit, um hier etwas gemeinschaftlich zu machen. Weil sie nicht rund um die Uhr arbeiten müssen, um sich das Leben leisten zu können», sagt Jonas.
Günstiges Wohnen ist in dieser Perspektive ein wirksames Mittel gegen Vereinsamung, Entfremdung und soziale Kälte. Aber Geld lässt sich damit nicht verdienen, und vermutlich lassen sich damit auch keine Wahlen gewinnen.
Ein Abnützungskampf auf beiden Seiten
Die Bewohner der Mattenstrasse 74 und 76 wehren sich gegen diese Situation. Sie haben eine professionelle Website aufgeschaltet, wo sie sich erklären. Haben den Mieterverband eingeschaltet und das Mietshäuser Syndikat, nachdem Gespräche mit dem Verein ergebnislos blieben. Ihr Plan: Den Abbruch verhindern mithilfe des Mietshäuser Syndikats, einer Vereinigung mit dem Ziel, Wohnhäuser dem Markt zu entziehen und den Bewohnern zu überlassen. Sie haben dem Vinzenzverein ein Angebot vorgelegt und würden jährlich mehr als 30’000 Franken Baurechtszins bezahlen für die Übernahme der Liegenschaft. Mithilfe von Architekten prüfen sie, welche Teile der Häuser wie saniert werden müssen, um deren historische Substanz zu erhalten.
Die Lösung klingt wie der goldene Ausweg aus diesem Konflikt. Jonas sagt: «Mit dem jährlichen Zins könnte der Vinzenzverein seine sozialen Projekte finanzieren.» Doch Dominik Büchel vom Vinzenzverein erteilt eine Absage: «Der Kontaktaufnahme durch das Mietshäuser Syndikat folgten auf unseren Wunsch hin keine weiteren Verhandlungen. Ebenso haben wir weitere Offerten ausgeschlagen. Entscheidend war die Absicht, selber ein gutes und sinnvolles Projekt zu realisieren.»
Der Vinzenzverein will bauen. Die Bewohner wollen bleiben. Bislang ist es auf beiden Seiten ein Abnützungskampf, die Frage lautet, wer den längeren Atem hat. Elena sagt, sie wisse nicht, was sie tun würde, ohne diese Wohnung. Sie schiebt die Frage nach der Zukunft möglichst weit weg von sich. Denn sie weiss, da ist sie sich mit dem Vinzenzverein wahrscheinlich einig, ohne Glauben geht es nicht. Sie sagt: «Ich habe keinen Plan B. Es darf keinen Plan B geben.»