Die Künstlerin, die aus der Kirche kam

Als Jugendliche engagierte sich Stella Meris in der Gellertkirche. Der Ausstieg fiel ihr schwer. Heute hat sie einen künstlerischen Zugang zu ihrer religiösen Vergangenheit gefunden.

«Manchmal macht die Vorstellung eines Gottes für mich Sinn, manchmal nicht. Das ist okay so.»

Stella Meris will nicht gegen die Gellertkirche «hetzen». Das stellt sie schon im E-Mail klar. Das E-Mail hat sie geschrieben, nachdem sie die Recherche der TagesWoche über die Gellertkirche gelesen hat. «Die Artikel haben mich sehr berührt», sagt die mittlerweile 27-jährige Frau, die als Kind und Jugendliche  in der Gellertkirche aktiv war.

Sie ist nicht die Einzige, die uns geschrieben hat: Mehrere, voneinander unabhängige, ehemalige Besucherinnen und Besucher haben sich bei der TagesWoche gemeldet und erzählt, sie seien wegen ihrer Homosexualität oder wegen Sex vor der Ehe in der Kirche unter Druck gesetzt worden. Alle wollten anonym bleiben, Stella Meris gibt ihren Künstlernamen an.

https://tageswoche.ch/stadtleben/sektengroove-der-kirche/

Sie ist mit 18 Jahren ausgestiegen und dieser Schritt ist ihr nicht leicht gefallen. Ihre Erlebnisse als frommes Christenkind will sie aber nicht als Leidensgeschichte verstanden haben: «Ich habe auch Gutes erfahren in der Gellertkirche.» Und doch: Erst seit sie ausgetreten ist, fühlt sie sich frei.

Das ist zwar schon zehn Jahre her, Stella Meris lebt seither in Berlin. Doch sie hat erst letztes Jahr begonnen, sich künstlerisch mit ihrer christlichen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im November 2017, also Monate vor der TagesWoche-Recherche, hat sie die Videoarbeit «A lot of things don’t, don’t really exist anymore» veröffentlicht, die sich mit religiösem Fundamentalismus beschäftigt.

Im Video flimmert der Himmel rot über einem Wohnblock. Davor ein Baum, Strommasten. Auf den Leitungen sitzen Tauben. Aus dem Off ertönt die Stimme von Stella Meris: «Ich mag es, verwirrt zu sein, ich mag die Zweifel. Wie soll man Gott ehren? Ich weiss es nicht», sagt sie auf Englisch. Dann singt sie: «Ich bin nicht allein, weil ich mich selber kenne und mit mir selber kommuniziere.»

Freiheit heisst, seine eigene Stimme und seine Zweifel wahrnehmen zu dürfen. Als Kind war es die Stimme Gottes, der Stella Meris lauschte. «Mit acht Jahren wurde ich gefragt, ob ich mein Leben in die Hände von Jesus legen wolle», sagt sie im Video. «Mein Glaube wuchs, darin fühlte ich mich sicher aufgehoben, er war mein Zuhause.»

Stella Meris wuchs in Basel auf. Ihre Eltern waren sehr gläubig. In den ersten Jahren besuchte die Familie verschiedene Freikirchen, darunter die Chrischona. Als Stella Meris zwölf Jahre alt war, wechselten sie in die Gellertkirche.

Vom Glauben her habe es damals keinen grossen Unterschied gegeben, sagt sie. Aber in der Gellertkirche hat es Stella Meris besser gefallen: «Die Musik war cooler und es hatte mehr Gleichaltrige.»

«Für die anderen Gläubigen war es einfach nicht okay, dass mein Vater nicht mehr so glaubt wie sie.»

Stella Meris engagierte sich, sie besuchte die Veranstaltungen der Jugendarbeit, Bibelgruppen, sie liess sich taufen und konfirmieren. «Ich war sicher dreimal pro Woche an einem kirchlichen Anlass.» Doch dann schlich sich der Zweifel in ihre Familie, zuerst beim Vater.

Er war ein Prediger und organisierte Pilgerreisen nach Israel. Doch dann wurden seine Zweifel immer grösser – ein langer, schmerzhafter Prozess, der schliesslich zum Austritt aus der Kirche führte. Das machte etwas mit Stella Meris. «Ich sah, dass es ihm mit der Zeit ohne Kirche besser ging. Er war zufriedener als vorher.» Doch im Freundeskreis oder mit den Jugendarbeitern konnte das Mädchen das nicht richtig besprechen. «Für die anderen Gläubigen war es einfach nicht okay, dass er nicht mehr so glaubt wie sie.»

«Voll dabei oder gar nicht»

Sie beteten, dass er wieder zu Jesus finden möge. «Sie konnten nicht akzeptieren, dass ein Mensch auch ohne Jesus zufrieden sein kann.» Das machte Stella Meris zunehmend Mühe. «In der Kirche gibt es eine strikte Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen richtig und falsch. Doch nun, da mein Vater sich nicht mehr mit diesem Glauben identifizieren konnte, machte diese Trennung für mich keinen Sinn mehr. Das hat meinen Glauben von Grund auf infrage gestellt.»

Stella Meris begann, auch andere Normen zu hinterfragen, etwa die der christlichen Sexualmoral. Im Jugendgottesdienst wurde gepredigt, Selbstbefriedigung sei Sünde, Sex vor der Ehe auch. «Bislang war ich sehr fromm gewesen. Doch diese Regeln fühlten sich je länger je mehr falsch an.»

Stella Meris merkte, dass sie sich auch zu Frauen hingezogen fühlte. Das hatte sie sich bislang nicht eingestehen können. «Als Gläubige denkst du, diese Regeln kommen von Gott, wenn du das anzweifelst, kommst du in einen Gefühlsstrudel.»

Sie hatte Schuldgefühle. «Man kann die Glaubenssätze und Gefühle nicht rational einordnen, man hat ja keinen Abstand dazu, der Glaube und das fromme Verhalten sind zentral für die eigene Identität.» Nach einer Weile ging Stella Meris nicht mehr in die Gellertkirche und verlor auch ihren Freundeskreis. «Dort bist du entweder voll dabei oder gar nicht.»

Der Austritt fühlte sich an wie ein Kulturwechsel, «wie körperliche Migration»: Sie bewegte sich in einer Art Zwischenwelt zwischen religiösen und unreligiösen Menschen, in der sie weder die einen noch die anderen verstanden.

Das hatte unter anderem mit den Lebensgewohnheiten zu tun. Das christliche Umfeld hört bestimmte Musik, liest spezifische Bücher – es deckt sich nicht mit dem, was andere Jugendliche machen.

Es wird sehr vieles anders

Stella Meris musste eine andere Sprache lernen, um sich auszudrücken. In der Kirche sehe man alles durch die Jesus-Brille. «Doch dieses christliche Vokabular funktionierte nun nicht mehr.» Wie sehr auch die Sprache vom Glauben geprägt war, merkt Stella Meris, wenn sie heute ihre alten Tagebücher liest. Sie liest eine Stelle vor, die sie als 16-Jährige geschrieben hat:

«Gott, bitte hilf mir dabei, ich möchte meine Zeit mit den richtigen Menschen teilen, damit ich nicht plötzlich gefangen bin. Ich möchte verstehen, wie ich zu deiner Ehre leben kann, auch wenn ich nicht in der Kirche sitze. Ich möchte mich verändern, möchte immer zu dir stehen. Bitte hilf mir dabei, denn das ist nicht einfach, wenn ich plötzlich ganz alleine unter Nichtchristen stehe. Ich habe Angst, dass sie mich nicht verstehen könnten, mich sogar verspotten. Herr, bitte hilf mir, dass ich trotzdem zu dir stehen kann. Ich möchte für dich leben, dir alle Ehre erweisen.»

Stella Meris sagt dazu: «Gott Ehre erweisen. Das würde ich heute nie mehr sagen.» Ähnlich geht es ihr, wenn sie sogenannte Anbetungslieder hört – christliche Lieder zu Ehren Gottes, die man in der Kirche singt und dazu tanzt. Das ist für Gläubige eine sehr emotionale, körperliche Angelegenheit, in der sie sich Gott nahe fühlen.

Für Stella Meris fühlt es sich eigenartig an, das nicht mehr zu praktizieren. «Heute habe ich manchmal ein unangenehmes Gefühl, wenn ich ein Anbetungslied höre.» Doch Stella Meris hat einen Weg gefunden, Musik und Sprache so umzudeuten, dass es für sie stimmt.

«Nur, wenn man seine eigene Sicht anzweifelt, ist man offen für Andersgläubige.»

In der Videoarbeit «Believe Me» singt sie selber einen Worship-Song, in zwei Varianten. Da ist einmal der herkömmliche Text (auf Englisch): «Du bist das Licht, du leuchtest durch mich.» Darüber singt Stella Meris im Loop: «Du existierst nicht, es gibt dich nicht.»

Man sieht Bilder brennender Kerzen, Stein wird auf Stein geschichtet. Ein Prediger sagt: «Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und Gott in Euch wohnt?» Dazwischen Sequenzen mit Stella Meris in Unterwäsche, sie macht eindeutig zweideutige Bewegungen.

Die Botschaften sind mehrdeutig: Bekenntnis trifft auf Verneinung, die Grenzen zwischen Glauben und Unglauben verschwimmen. Der Körper ist der Tempel Gottes und gleichzeitig Körper, mit dem Sexualität jenseits der in der Kirche gepredigten Normen ausgelebt wird.

So ambivalent die Botschaften, so ambivalent ist heute Stella Meris‘ Spiritualität. «Manchmal macht die Vorstellung eines Gottes für mich Sinn, manchmal nicht. Das ist okay so.»

Das Unwissen, es macht frei. Und es ist auch eine Möglichkeit für Stella Meris‘ Familie, zusammenzuleben, obwohl nicht alle dasselbe glauben. Der Vater ist immer noch skeptisch, die Mutter zwar gläubig, aber mittlerweile in einer liberaleren Gemeinde. Die Tochter hat eine eigene Form des Glaubens entwickelt, ein Glaube, der lebendig bleibt, wenn Veränderungen möglich sind.

Dieser wandelbare Glaube hat für Stella Meris auch eine politische Dimension, etwa mit Blick auf Konflikte zwischen Christen und Muslimen oder Juden. «Nur, wenn man seine eigene Sicht anzweifelt und in Betracht zieht, dass der eigene spirituelle Weg nicht der einzig Richtige ist, ist man offen für Andersgläubige.»

So arbeitet sie zurzeit an einem künstlerischen Projekt mit einer Israelin, die in einem ultraorthodoxen Umfeld aufgewachsen und dann ausgetreten ist. Das Interessante daran, so Meris: «Unsere religiösen Erfahrungen waren sehr ähnlich, obwohl sie Jüdin ist und ich Christin bin.»

Stella Meris lebt heute in einer Welt jenseits der kirchlichen Vorstellungen von Glaube und Unglaube. Ohne Dogmen und mit der Freiheit, ihre Überzeugungen in jedem Moment ändern zu können.

Aufruf: Haben Sie früher die Gellertkirche besucht und möchten über Ihre Erfahrungen reden? Die Künstlerin Stella Meris sucht noch Interviewpartner für ein weiteres Videoprojekt zu Kirchenaustritten. Kontakt.

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