Ein engagierter Denker ist nicht mehr – Erinnerungen an Alois-Karl Hürlimann

Seine Texte waren lang, seine Gedankengänge eine Herausforderung, seine Menschlichkeit berührte – wir nehmen traurig Abschied von unserem freien Autor Alois-Karl Hürlimann.

Alois-Karl Hürlimann (1944–2018).

Alois-Karl Hürlimann hatte viel Ausdauer. Und Ausdauer brauchte auch, wer sich mit seinen Texten beschäftigte. Er zählte zu den ersten Mitgliedern der TagesWoche-Community und war ein fleissiger Kommentarschreiber. Später lieferte er als Autor alle paar Wochen meinungsstarke Reflexionen zum Weltgeschehen.

Er war keiner, der sich kurz fasste. Manchmal war es eine Strafaufgabe, wenn es am Freitag hiess: Wir haben noch einen Hürlimann reinbekommen. Denn das bedeutete: Bevor es ins Wochenende geht, steht noch ein mächtiger Haufen Text zur Produktion an.

Ein Hürlimann war nie ein einfacher Text. Nicht nur die Länge forderte uns beim Redigieren. Wir hatten es auch mit einem Autor zu tun, der belesen war, in komplexen Zusammenhängen dachte und ausufernde Schachtelsätze liebte. Da und dort mussten wir der Leserschaft zuliebe aus einem Satz drei oder vier machen und den einen oder anderen Gedankengang begradigen. Dann war unser Autor grosszügig genug, nicht über die Eingriffe zu klagen, sondern sich zu bedanken für die Arbeit an seinem Artikel.

Kürzer fassen wollte er sich aber nicht. «Das mit der Länge ist volle Absicht», erklärte er in einem Porträt, das der ehemalige Redaktionsleiter Dani Winter 2014 über ihn verfasste: «Das ist ja das Schöne am Internet, dass man einen Gedanken auch mal zu Ende führen kann.»

Schön ist auch, dass seine Texte eine beachtliche Leserschaft fanden und auf einem Niveau diskutiert wurden, das in den Kommentarspalten sonst oft nur als frommer Wunsch existiert.

Eine Begnung auf der Plaça Catalunya

Vor zwei Jahren durfte ich Alois-Karl Hürlimann persönlich kennenlernen. Ich war für ein paar Tage in Barcelona, wo er die letzten Jahre mit seinem Lebenspartner Galo wohnte, und hatte ihn gefragt, ob wir uns treffen könnten. Zuvor hatten wir uns nur per Mail über seine Beiträge ausgetauscht, und es nahm mich wunder, was für ein Mensch dieser Hürlimann ist.

Ich erwartete einen gebrechlichen alten Mann, denn wir wussten schon damals, dass er mit dem Krebs kämpfte. Zu meinem Erstaunen sass dann vor dem Cafe Zurich an der Plaça Catalunya ein putzmunterer Rentner, der mit dem Velo hergefahren war, weil, wie er gleich erklärte, Barcelona anders als Schweizer Städte über ein ausgezeichnetes Velowegnetz verfüge.

Schon hatten wir ein Thema, dem im Lauf der nächsten Stunden viele weitere folgten. Alois – er hatte mir beim Anstossen das Du angeboten – war auch beim Erzählen ausdauernd und je mehr ich aus seinem Leben erfuhr, umso faszinierter sass ich neben ihm.

Am stärksten eingeprägt hat sich mir die Episode, wie er 1968 in Zürich eine Rede zum 1. Mai hielt und der «Blick» anschliessend ein Bild von ihm druckte mit der Frage: Ist das der Schweizer Dutschke? Keine drei Wochen zuvor war Rudi Dutschke in Berlin angeschossen worden, also verzog sich Alois sicherheitshalber für ein paar Tage in ein Seitental im Tessin.

Es war einfach spannend und schön, diesem Menschen zuzuhören, wie er über die Welt und das Leben sprach.

Er lachte, als er diese Geschichte erzählte, so wie er Kritik an Politik und Gesellschaft und Erinnerungen an seine Arbeit als Kleinklassenlehrer gern mit Humor würzte. Beim Abschied verabredeten wir uns für ein zweites Treffen am Tag meines Rückflugs. Es war einfach spannend und schön, diesem Menschen zuzuhören, wie er über die Welt und das Leben sprach.

Zurück in Basel freute ich mich stets, von ihm zu lesen, sei es, dass einer dieser langen Texte eintraf, sei es, dass er Fotos und Gedanken auf Facebook teilte. Auf diesem Weg erfuhr ich auch, dass er wieder mit dem Krebs rang. Vor zwei Wochen sandte ich ihm Genesungswünsche per Mail, für die er sich am anderen Tag bedankte.

Ein paar Tage später kam ein Mail eines ehemaligen Schülers, der um einen Kontakt zu «Hü» bat, weil er eine Klassenzusammenkunft plane. Ich leitete dieses Mail an Alois weiter. Eine Antwort kam nicht mehr. Dafür rief letzten Freitag ein langjähriger Freund an, um uns mitzuteilen, dass Alois in der Nacht zuvor gestorben war.

Diese paar Zeilen werden Alois’ engagiert gelebtem Leben nicht gerecht, doch mehr kann ich von unserer kurzen Bekanntschaft nicht erzählen. Wir besprachen seine Texte und sassen einst ein paar Stunden zusammen auf der Plaça Catalunya. Und seither unterschreibe ich, was als Schlusssatz unter besagtem Porträt stand: «Wer diesen Menschen kennengelernt hat, will ihn zum Freund haben.»

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Wer erfahren will, wie dieser Mensch dachte, was ihn bewegte und wie er die Welt sah, lese seine Texte. Sie sind sein Vermächtnis, das, was von Alois-Karl Hürlimann bleibt.

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