Interessant Kerstin Rutschs Befürchtung, dass wir nicht mehr nachvollziehen können, was sich seit der letzten Konsultation einer Website verändert hat, „ob etwas umgeschrieben wurde“. Das zielt auf die Unterfunktion des Mega-Archivs WWW: Das Vergangene, Gespeicherte kann nachträglich verändert, also „umgespeichert“ werden. So ist nicht nur das Erinnern des Vergangenen durch die Gegenwart geprägt (was immer der Fall war, Stichwort: strategisches Erinnern/Vergessen im Sinne dessen, wie die Gegenwart die Vergangenheit sehen will). Selbst das zur Erinnerung bereitstehende Vergangene kann nun aus der Gegenwart heraus noch strategisch manipuliert werden.
@everSin: Dieser neue Punkt ist wichtig: „die Sozialen Medien (auch) als Unterhaltungsmedien“ (Klammer von mir – RS). Das müsste man mal medienvergleichend diskutieren. Auch das Fernsehen wurde ursprünglich ja nicht (nur) als Unterhaltungsmedium gesehen und doch sind die Nachrichten inzwischen dazu verkommen. Weil Unterhaltung die Botschaft des Mediums ist, der man nicht entkommt, wie Medienökologe Neil Postman übers Fernsehen sagt (http://www.zeitgeistlos.de/buecher/postman_zutode.html)? Weil wir uns lieber zu Tode amüsieren, wie Postman seine Fernsehanalyse betitelt, als uns zu Tode zu langweilen, wie der Medienwissenschaftler Norbert Bolz irgendwo entgegen hielt? Der Lackmustest: Wie ununterhaltsam (oder sperrig formuliert) dürfen Beiträge auf Facebook sein, bevor sie keine Chance mehr haben, gelesen zu werden?
Der Lackmustest für Kony 2012 aber war die Nacht des 20. April, als erschreckend wenige sich vom Sofa ins Freie begaben, um, wie im Video gefordert, Plakate zu kleben (http://en.wikipedia.org/wiki/Kony_2012#Cover_the_Night) Zu ungefährlich?
Apropos Kony 2012 und Unterhaltung: Kein Zweifel, dass dieses Video eine perfekte Mischung ist aus Politik, Ästhetik und Social Media (man beachte den prominenten Auftritt, den Facebooks Timeline erhält). Sentimental zwar und nicht gerade pazifistisch, aber so faszinierend und hypnotisch wie Leni Riefenstahl. Ebenfalls faszinierend ohne jede Sentimentalität die unterhaltsame und sehr kluge Analyse des Kony-Videos im Rap News-Video, mit der bemerkenswerten Beobachtung: „never had a 27-minute video devoid of both cats and boobs ever achieved such virality“ - http://www.youtube.com/watch?v=68GbzIkYdc8
Klar, das weltpolitische Interesse muss vom User kommen, da stimme ich Severin völlig zu. Und die bedenklichen, gar profitorientierten Interessen hinter Kony 2012, auch das stimmt, sollten nicht als Entschuldigung für das Ende des Engagements dienen. Aber Kony macht es uns wegen seine Zwiespältigkeit zu einfach. Was, wenn das Projekt lupenrein gut ist und zur vollen Identifikation einlädt?
Was Morozov fürchtet, ist ersten der Ringelmann-Effekt, zweitens Selbstbetrug und drittens Verweichlichung.
1. Ringelmann-Effekt: Der französische Ingenieur Maximilian Ringelmann fand Ende des 19. Jahrhunderts in Experimenten heraus, dass Menschen in der Gruppe eine geringere Leistung erbringen, als aufgrund der summierten Einzelleistungen zu erwarten wäre. Der Ringelmann-Effekt bezeichnet also das Gegenteil von Synergie. Umgekehrt und mit Morozov gesagt: individueller Einsatz, der sich nicht in der Gruppe verstecken kann, ist effektiver.
2. Selbstbetrug: Morozov unterstellt, dass Individuen durch die Mitgliedschaft in Facebook-Gruppen wie Saving-Darfur sich ein politisches Engagement vorgaukeln und ihre Untätigkeit im Hinblick auf das Nächstliegende rechtfertigen, zum Beispiel die Mitarbeit in politischen Gremien der eigenen Universität. Nach dem Motto: Warum soll ich in der Fachgruppe aktiv werden, ich engagiere mich doch schon für die Entrechteten in Afrika.
3. Zum anderen lasse das bequeme politische Engagement auf Facebook die harten persönlichen Konsequenzen vergessen, die politisches Engagement mit sich bringen kann. Deswegen fürchtet Morozov, dass eine Generation, die sich auf so oberflächliche Weise politisch engagiert, sofort kapituliert, wenn das Risiko eintritt, das Sofa mit der Gefängnispritsche tauschen zu müssen.
Übertreibung? Welche Gegenbeispiele gibt es, die Hoffnung machen?