Herr Wohlleben, die Bäume hier auf dem Rümelinsplatz, die werden eventuell schon bald gefällt.
Warum denn? Die sind doch noch gar nicht krank? Und wirklich alt sind sie auch nicht.
Der Platz soll umgestaltet werden. Und es gibt dann neue Bäume.
Das ist es ja: In den Köpfen vieler Menschen, gerade in der Stadt, sind Bäume oft nur Dekoration. Die können dann weg. Dabei sind es Lebewesen.
Empfindsame Lebewesen?
Und wie. Das zeigt die wissenschaftliche Forschung seit den 1970er-Jahren klar. Ich erfinde das nicht. Förster hören es aber nicht allzu gerne.
Nicht? Sie waren doch selber 20 Jahre lang Förster und haben den Wald gepflegt…
…den Wald kann man nicht pflegen, der schafft das schon alleine. Seit 300 Millionen Jahren gibt es Wälder. Den Menschen erst seit 300’000 Jahren. Man kann den Wald nutzen, aber das ist etwas ganz anderes. Ein Förster kann vielleicht etwas aufräumen. Wenn man Holz rausnimmt, dann ist das legitim. Sie schreiben gerade in Ihr Notizbuch, ich schreibe Bücher – klar braucht es Holz. Aber man tut dabei dem Wald nichts Gutes, der braucht solche «Pflege» nicht. Holz wird für unsere Bedürfnisse gewonnen, das ist so lange legitim, wie wir den Wald nicht allzu sehr schädigen.
Was empfinden denn Bäume?
Die Universität Bonn hat festgestellt, dass in den Wurzelspitzen von Bäumen gehirnähnliche Strukturen vorhanden sind. Damit können sich Bäume orientieren. Ein Baum weiss zum Beispiel, ob ein Nachbarbaum die gleiche Art ist. Ein Mutterbaum kann sogar die eigenen Sämlinge im Boden erkennen. Und sich dann mit ihnen verbinden, und sie über die Wurzeln mit Zucker versorgen. Da wird der Nachwuchs quasi gezielt gestillt.
Aber ein Gehirn ist es ja nicht. Oder schon?
Kein Gehirn. Aber es laufen in den Wurzeln von Bäumen gehirnähnliche Prozesse ab, elektrische Prozesse. Man hat festgestellt, dass Bäume Erinnerungsvermögen haben. Über Jahre hinweg. Die Uni Bochum hat herausgefunden, dass Apfelbäume zählen können.
Apfelbäume können zählen?
Ja. Die können die warmen Tage über 20 Grad zählen, das kann man im Labor nachweisen. Die wollen nicht zu früh austreiben. Wenn die das zu früh tun, und dann wirds im April nochmal so richtig kalt, dann sterben die Blätter ab. Deswegen warten die Bäume, bis eine bestimmte Anzahl warmer Tage zusammengekommen ist. Die können also zählen. Und die müssen sich das irgendwo auch merken, wie viele Tage schon so und so warm waren. Da weiss man nicht, wie das genau funktioniert.
Auf der Pfalz gibt es 300 Jahre alte Rosskastanienbäume. Denen geht es heute nicht mehr so gut, sie müssen gestützt werden. Wie geht es so einem Stadtbaum? Und ist der auch mit seinen Nachbarn in Kontakt?
Auch Stadtbäume kommunizieren miteinander. Aber es geht den Stadtbäumen grundsätzlich einfach einmal schlechter. Urwaldbäume wachsen unter ihren Mutterbäumen auf, und die wachsen in den ersten Jahrhunderten sehr langsam. Nur Bäume, die am Anfang langsam wachsen, können uralt werden. In Mitteleuropa gibt es das kaum, Bäume, die Jahrtausende alt werden. Stadtbäume sind wie Waisenkinder.
Die haben es schwerer als Waldbäume.
Ja. Kinder ohne Eltern, oft ohne ähnliche Bäume in der Nähe, und dann werden bei der Pflanzung erst noch oft die Wurzeln gekappt. Die regenerieren zwar, aber nicht mehr in derselben Qualität. Das Stadtklima ist für einen Baum extrem anstrengend: Im Sommer heiss und trocken, im Winter eher kalt und feucht. Und natürlich die Beleuchtung. Bäume müssen nachts schlafen.
Bäume schlafen?
Das weiss man mittlerweile. In der Nacht pumpen sich Bäume etwas auf, der Wasserdruck steigt, die Äste müssten also eigentlich hochgehen. Doch tatsächlich lassen die Bäume nachts die Äste hängen, weil sie schlafen. Wenn man ihren Schlafrhythmus stört, mit Strassenlaternen, die die ganze Nacht brennen, dann leben die Bäume weniger lange.
«Bäume sind sehr familiär, sie haben ein langes Gedächtnis, und sie werden alt und gross.»
Viele Menschen leiden auch unter der 24-Stunden-Gesellschaft.
Es gibt ganz viele Parallelen zu uns. Man muss Bäume deswegen nicht vermenschlichen. Aber die Lebensprinzipien sind überall gleich. Ob man jetzt einen Menschen, einen Elefanten oder einen Baum nimmt. Für mich ist der wesentliche Unterschied zwischen einem Elefanten und einem Baum, dass der Baum viel, viel langsamer ist – und wir deswegen viele Sachen, die der Baum macht, nicht erkennen.
Was sind denn die Gemeinsamkeiten von Baum und Elefant?
Bäume sind sehr familiär, sie haben Kommunikationsmöglichkeiten, ein langes Gedächtnis, und sie werden alt und gross. Aber sehr, sehr langsam. So, dass viele denken: Ein Baum ist nicht viel mehr als vermooster Stein.
Apropos langsam: In Basel verschwinden viele alte Bäume. Hunderte auf privatem Grund werden ersatzlos gefällt. Die Stadtgärtnerei sorgt auf der Allmend dafür, dass der Saldo nicht zu sehr ins Minus fällt. Aber das sind dann halt junge Bäume…
Eigentlich müsste man ja Sämlinge aufziehen. Das Verpflanzen von Bäumen, die schon fünf bis zehn Meter hoch sind, ist für die Bäume ein Riesenstress, von dem sie sich kaum noch erholen. Ein grossgewachsener Laubbaum verdunstet hundertmal mehr Wasser als ein Jungbaum. Wenn man die Entwicklung anschaut – alte Bäume werden abgehackt und durch junge Bäume ersetzt –, dann kann das für ein Stadtklima verheerende Folgen haben.
Es gibt ja zum Glück auch Bäume, die scheinen in der Stadt richtig aufzublühen. Die Platane vor dem Theater zum Beispiel hat sich – so wird vermutet – mit den Wurzeln bis zum unterirdischen Birsig durchgekämpft.
Bäume, das hat eine relativ neue Studie aus Australien gezeigt, können mit den Wurzeln auch hören. Die hören das Wasser im Boden. Man hat dann Versuche gemacht, Röhren im Boden installiert, solche mit und ohne Wasser. In den leeren Röhren liess man Wasser-Töne laufen. Es mag esoterisch klingen, aber die Wurzeln fanden immer das echte Wasser.
Was sollte denn beachtet werden, damit es Bäumen in der Stadt gut geht?
Das Allerwichtigste ist die Gemeinschaft. Die meisten Bäume leben am liebsten in Gruppen, im Familienverband. Sie sind nicht gerne einsam. Wenn es Nachbarn der gleichen Art gibt, können Bäume auch in der Stadt sehr alt werden. Kranke Bäume werden von ihren Artgenossen unterstützt. Ein Baum alleine hat dann halt zu kämpfen.
Die Nachbarn müssen gleicher Art sein?
Ja. Nur ein Beispiel: Buche und Fichte sind weniger eng verwandt als Sie und ein Goldfisch.
Echt?
Ja. Also ich würde jetzt aber deshalb mit Goldfischen keine Familienbande gründen…
Keine Angst. Aber sind Buche und Fichte genetisch wirklich so verschieden?
Die sind sehr weit auseinander. Bäume sind ja erst mal grosse, beholzte Pflanzen. Da kommt schnell der Gedanke, die hätten alle etwas miteinander zu tun. Aber die Tiergrösse entscheidet auch nicht darüber, wer zusammengehört, so funktioniert das ja nicht. Wenn wir bei Tieren bleiben, bei Gefühlen: Wir teilen das Liebeshormon mit Ziegen, Pferden – und sogar mit dem Goldfisch. Aber Fichte und Buche, die liegen entwicklungsgeschichtlich irre weit auseinander, da gibt es kaum Gemeinsamkeiten.
«Das Fallen der Blätter: Das ist der Gang zur Toilette. Die Bäume machen dann ihr grosses Geschäft.»
Apropos Gemeinsamkeiten: Sie sprechen in Ihrem neuen Buch auch über das Zusammenspiel von Baum und Tier. Dass man Lachsspuren in Bäumen findet, zum Beispiel. Und dass Bäume heute eher vom Hund als vom Wolf gedüngt werden.
Überdüngt, leider. Und ja, es ist gut möglich, dass man in alten Balken von Gebäuden in den Jahresringen von Bäumen, die 600 bis 700 Jahre alt sind, noch Spuren von Lachsen findet – auch in Basler Gebäuden. In Kanada hat man das getan: Man kann feststellen, wie viel Stickstoff in den Jahresringen aus dem Meer stammt. Heute läuft halt kein Braunbär mehr durch die Gegend und verrichtet sein Geschäft im Wald. Selbst wenn der Lachs fast wieder zurück ist.
Solange der Braunbär nicht in die Stadt kommt … Hier herrscht Ordnung auf den Grünflächen.
Die Stadt ist halt auch unser Territorium. Aber man gibt sich immer mehr Mühe von Seiten der Stadt. Gräbt tiefer aus, für Wurzeln, solche Sachen. Es ist eine Art Zoo für Bäume.
Im Zoo kann man viel lernen.
Klar. Ich möchte auch niemandem sagen, was er zu tun hat. Sondern die Leute einfach an spannende Sachen heranführen. Zum Beispiel der Herbst, das Fallen der Blätter: Das ist der Gang zur Toilette. Die Bäume machen dann ihr grosses Geschäft. Die geben das in die Blätter und werfen sie dann ab. Und ich höre das immer wieder: Eltern erzählen das ihren Kindern, und die schauen dann begeistert auf die fallenden Blätter, auch mitten in der grossen Stadt. Die kriegen so von Anfang an eine Beziehung zu den Bäumen. Als lebende Wesen. Dann kümmert man sich um Bäume. Und in der Stadt ist ein Baum eines der wenigen natürlichen Objekte. Wenn man da etwas mehr drüber weiss, und wie es dem Baum geht, kann man viel wecken. Das löst ja auch gesundheitlich etwas aus.
Bäume sind gut für die Gesundheit?
Es gibt eine Studie, die belegt: Wenn man schon nur einen Baum sieht, vom Krankenhausbett aus, wird man schneller gesund als ohne Baum vorm Fenster.
Wir sollten also so oft wie möglich Bäume ansehen?
Keine Illusion. Medizinisch erwiesen. Das beruhigt, alleine das Schauen. Und es passiert auch über die Luft etwas. Da läuft derzeit medizinische Forschung in München dazu. Die Japaner und Südkoreaner haben schon geforscht. Wenn es den Bäumen gut geht, geht es auch uns besser.
Wie das?
Bäume dünsten gewisse Substanzen aus – Kommunikationsstoffe, Abwehrstoffe, alles Mögliche. Und wenn es den Bäumen gut geht, dann haben diese Stoffe eine blutdrucksenkende Wirkung auf Menschen. In Japan wird das als Therapie eingesetzt, Waldbaden, «Shinrin Yoku».
«Tiere haben weniger Stress, wenn man im Wald laut ist.»
Und wenn es den Bäumen schlecht geht, ist das schlecht für die Gesundheit?
Die gesundheitsfördernde Wirkung ist stärker, je besser es dem Wald geht. Mensch und Wald sind sehr eng verknüpft. Bäume, denen es schlecht geht, deuten auf ein instabiles Ökosystem hin. Das hat auch Auswirkungen auf den Menschen, klar.
Und ein gestresster Baum stresst dann den Menschen?
Wenn der Baum Stress hat, geht Ihr Blutdruck hoch. Also etwas. Nicht unbedingt erholsam.
Ein Grund mehr, Sorge zu den Bäumen zu tragen.
Ja. Man meint ja immer, man sei so sehr von der Natur abgekoppelt, dabei stimmt das gar nicht. Auch die Körper derer, die das von sich behaupten, reagieren auf chemische Prozesse. Die machen auch die Waldspaziergänge völlig verkehrt.
Wie macht man einen verkehrten Waldspaziergang? Könnten Sie das mal beschreiben?
Das geht schon los, wenn man mit Kindern in den Wald geht. Viele sagen dann, seid ruhig, wegen der Tiere. Das ist Quatsch: Ein Reh ist noch so froh, wenn es weiss, wo der Wanderer ist, der von A nach B geht. Es weiss dann: Das ist kein Jäger, und bleibt liegen. Tiere haben weniger Stress, wenn man im Wald laut ist.
Und weiter?
Na dann schauen Sie, schon bevor es losgeht, auf die Uhr. Und sagen: So, um neun wandern wir los, und dann sind wir um 12 Uhr dort bei der Hütte zum Mittagessen, und um 16 Uhr sind wir wieder auf dem Parkplatz. Statt einfach mal rauszugehen! Vielleicht auch mal eine, zwei Stunden einfach irgendwo sitzen zu bleiben, den Wald zu spüren. Zu riechen. Zu schauen. Die Sinne einzusetzen. Die Kinder sollte man sich dabei als Vorbild nehmen: Die finden hier ein Stöckchen, da etwas Interessantes. Die Erwachsenen nervt das meistens. Die denken nur an den nächsten Termin. Aber es sollte doch auf einem Waldspaziergang keinen Termin geben. Man geht doch in den Wald, um sich zu erholen, und nicht, um Termine abzuarbeiten.
Peter Wohlleben, geboren 1964 in Bonn, arbeitete 20 Jahre lang als Förster. Heute leitet er eine Waldakademie und ist Autor diverser Bücher. Das bekannteste ist sein Bestseller «Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt» aus dem Jahr 2015. In Basel stellte er am Mittwoch sein neues Buch «Das geheime Netzwerk der Natur» (Ludwig Buchverlag, 2017) vor.