Schrille Töne, Flüche und lautes Schweigen: Die Tonlage in der Schweizer Asylpolitik offenbart die tiefe Spaltung der politischen Lager und den Mangel an Bereitschaft, konstruktive Politik zu betreiben.
Es steht Aussage gegen Aussage.
Auf der einen Seite gibt es diverse Aussagen von Augenzeugen aus der ganzen Schweiz. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen beklagen sich schon seit einiger Zeit über die Zustände in den Flüchtlingscamps im italienischen Como und an der Schweizer Grenze. Die Beobachtungen, die sie – mit Belegen – am Mittwoch in Chiasso TI den Medien präsentierten, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Schweizer Grenzwache weise mögliche Asylbewerber nach Italien zurück. Dies zuweilen auch ohne zu prüfen, ob eine Person einen Antrag auf Asyl stellen dürfe. Auch bei minderjährigen Flüchtlingen. Es komme wiederholt vor.
Es sind nicht nur die NGO, die solches berichten: Die Liste von Personen, die solche Beobachtungen machen, ist lang. Darunter auch Schweizer Journalistinnen und Journalisten. Einige, die da waren, verfassten Reportagen und Kommentare. Auch die Schweizer Politikerin Sabine Reber verfasste einen Bericht.
«Verdammte Frechheit»
Die Antwort der Verantwortlichen bestand lange Zeit aus Schweigen. Dann meldete sich Bundesrat Ueli Maurer in einem Interview zu Wort und bezeichnete die Vorwürfe allesamt als unwahr. Er empfinde es ausserdem als «verdammte Frechheit», dass man ihm «nur weil ich in der SVP bin – von gewissen Seiten ein unkorrektes Vorgehen unterstellt».
Man gehe den Fällen nach, wenn es Vorwürfe gebe, und: «Wir haben noch keinen Fehler festgestellt», so Maurer.
Alles Eskalation
Auf konkrete Vorwürfe von Augenzeugen, Journalisten und Politiker kam von oberster Stelle: ein Kraftausdruck und die unbelegte Behauptung, dass in Wirklichkeit alles in Ordnung sei. Keine Untersuchung, kein Eingeständnis einer einzigen kleinen möglichen Verfehlung der Truppe, die dem Finanzminister unterstellt ist.
Der Ton in der Debatte konnte sich nur verschärfen. Erst recht, nachdem die Tessiner SP-Grossrätin Lisa Bosia Mirra am Mittwoch verhaftet wurde, weil sie versucht haben soll, minderjährigen Flüchtlingen die Flucht in die Schweiz zu ermöglichen. Mirra hat laut eigenen Aussagen 44 Fälle von abgewiesenen Jugendlichen an der Schweizer Grenze dokumentiert.
Die Tessiner Kantonalpartei mahnt bezüglich der Anklage der mittlerweile wieder freigelassenen Politikerin zur Ruhe – betont aber, der Konflikt zwischen rechtlich korrektem und ethisch korrektem Handeln werde die Demokratie immer wieder beschäftigen. Prompt rief die Schweizer Juso-Präsidentin Tamara Funiciello im Internet dazu auf, es Mirra gleichzutun. Sie beruft sich dabei auf Brecht («wenn Unrecht zu Recht wird, dann wird Widerstand zur Pflicht»), gegenüber der TagesWoche auch noch auf Paul Grüninger.
Alles Eskalation. Und ein gefundenes Fressen für eine Frontstory der leserstärksten Zeitung «20 Minuten», dieselbe garniert mit neuer Eskalations-Rhetorik des Asylchefs der wählerstärksten Partei: «Die Linke macht sich damit zur grössten Schlepperbande überhaupt», so Andreas Glarner aus Oberwil-Lieli.
Konkrete Forderungen
Auf diese «billige Provokation» werde sie erst gar nicht eingehen, sagt Leyla Gül, Co-Generalsekretärin der SP Schweiz, zur TagesWoche. Für sie sei klar: «Die Zustände in Como und die Situation für die Flüchtlinge sind nachweislich unhaltbar. Es häufen sich die Hinweise, dass Flüchtlinge an der Schweizer Grenze daran gehindert werden, ein Asylgesuch zu stellen, und nach Italien zurückgeschickt werden.» Deshalb fordert sie: «Diesen Hinweisen muss unbedingt und sachlich nachgegangen werden.»
Konkret, so Gül, sei die Position der Sozialdemokraten: «Insgesamt fordert die SP, dass ein menschenwürdiger und rechtlich einwandfreier Prozess gewährleistet ist. Jeder Flüchtling, der ein Asylgesuch in der Schweiz stellen will, muss das tun können. So wie es das Gesetz und unsere humanitäre Tradition vorsehen.»
Die Grünen forderten am Samstag in Bern «konkrete Antworten» vom Bundesrat zu den offenen Fragen zur Situation an der Grenze zu Italien – sie würden deshalb in der Herbstsession mit einer dringlichen Interpellation eine aktuelle Debatte fordern. Laut «Blick» wollen die Grünen, dass die Geschäftsprüfungskommission die Vorwürfe untersucht.
Fraktionspräsident Balthasar Glättli schreibt in der Forderung, bestimmte Dokumente – darunter Dienstanweisungen an die Grenzwächter – seien nicht öffentlich. «Doch die GPK, die die Geschäftsführung des Bundesrates und der Bundesverwaltung beaufsichtigt, kann Einsicht in solche Unterlagen nehmen. Ausserdem kann sie konkrete Vorwürfe in Bezug auf Einzelfälle untersuchen», so Glättli.
Schweigen und Schützenhilfe der Bürgerlichen
Nach den Voten der Bürgerlichen sucht man mit einigen wenigen Ausnahmen vergeblich – die Reihen schweigen auffällig laut.
Die neuen Parteispitzen leisten Maurer dafür lautstark Schützenhilfe. Petra Gössi spricht von möglichen Armee-Einsätzen an der Südgrenze, zum Grenzwachtkorps sagte sie, es leiste im Tessin «wirklich gute Arbeit». Einen Beleg bleibt sie schuldig.
Derweil hält CVP-Präsident Gerhard Pfister, der bekanntlich Flüchtlinge christlichen Glaubens bevorzugt behandeln möchte, die Behauptung des Tessiner Rechtspopulisten Norman Gobbi, die Flüchtlinge in Como würden die Schweizer Grenze bald gewaltsam stürmen, für «durchaus realistisch».
Konstruktiv war gestern
Die Voten der neuen bürgerlichen Spitzen lassen erahnen, was die Parteien zur geforderten GPK entscheiden werden. Sie haben es in der Hand: Stehen sie für eine konstruktive, faktenbasierte Politik – oder treffen sie ihre Entscheide aufgrund vorgefasster Meinungen?
Der Rechtsweg, die unabhängige Untersuchung vor der Bildung des abschliessenden Urteils, das ist, was bürgerliche und liberale Politik auszeichnet. Man darf angesichts des bedenklichen Niveaus, auf dem die Schweizer Asyldebatte geführt wird, gespannt sein, ob das noch gilt oder nicht.
Die Herbstsession wird es zeigen.