Eine derartige Szene bekommt man auch im «El Tinacalito» nicht jeden Tag zu sehen: Im Talar betritt Pater Francisco die Kneipe. Er stellt sich vor einen grossen Glaskasten. Dabei grinst ihm eine unheimliche Fratze über die Schulter. Sie gehört einer Skelettfrau, die in einer Kutte und unter einer Kapuze steckt, eine Sense in der Hand. Vor ihr hebt Pater Francisco nun feierlich die Hände in die Höhe.
«Sie verdient eigentlich mehr Achtung von uns, nicht nur während einem der 365 Tage», mahnt der Priester die Anwesenden, die sich gerade Pulque nachschenken. Der fermentierte Agavensaft wird nicht nur selbst getrunken, sondern auch der knöchernen Dame bereitgestellt. «Warum bedanken wir uns nicht – sie fordert schliesslich nichts, sie will nur Dank», fährt Francisco fort.
Der ganze Ritus läuft fast so ab wie in einer Kirche. Mit dem Unterschied, dass ein «Untergrund-Geistlicher» predigt und dass viel Alkohol im Spiel ist. Jeweils am 1. November, am mexikanischen «Tag der Toten», wird hier eine Zeremonie zu Ehren von Santa Muerte abgehalten. Zwar gibt es in Mexiko-Stadt einige Tempel und Strassenaltäre zu Ehren dieser magisch-religiösen Figur. Eine Messe in einer Pulquería, einer Kneipe, die den sämigen Agavensaft ausschenkt, ist aber selbst in der Millionenmetropole eine Besonderheit.
Sowohl Pulquerías wie auch Santa Muerte geniessen bei manchen Leuten nicht gerade den besten Ruf: Gelten Erstere als schmuddelige Spelunken, so wird Letztere gerne mit einem Kult um Kriminalität und Drogenhandel in Verbindung gebracht.
Das Lokal «El Tinacalito» im Bezirk Iztacalco bringt gleich beides zusammen. Die Stimmung ist aber nicht etwa düster, sondern fröhlich und ausgelassen. Vor und nach der Predigt wird an der Theke aus Bottichen Pulque ausgeschenkt. Vor allem Leute aus dem Quartier, Handwerker, Rentner, aber auch ein paar Fussballfans aus der Antifa-Skinhead-Szene kommen hierher.
Höhere Macht für eine todgeweihte Kneipe
Totenkopf-Girlanden hängen im Raum und die Jukebox wird aufgedreht. Ein kleinwüchsiger Mitarbeiter, gelernter Schmied und unter dem Namen Gorila bekanntes Quartieroriginal, schwingt zu Ranchera-Songs und tosendem Applaus sein Tanzbein und animiert die Leute, es ihm gleichzutun.
Hinter dem besonderen Ritual, das im «Tinacalito» stattfindet, steht die 34-jährige «Pulquera» Erika Canales. Als Dank dafür, dass sie diese Kneipe wieder hat öffnen können, organisiert sie bereits zum achten Mal diese Messe. Schon ihr Grossvater hatte den Laden geführt, und vor vierzehn Jahren hat sie das Ruder übernommen.
Als ihr Lokal wegen strengerer Vorschriften für sechs Jahre zwangsgeschlossen wurde, hat sie sich an höhere Mächte gewandt: «Ich richtete die Bitte an Santa Muerte, um die Pulquería wieder öffnen zu können», erzählt Erika Canales. Seither führt sie das Lokal zusammen mit dem enthusiastischen Gorila, einer Köchin und einem weiteren Helfer.
Der heimliche Kult um das «Weisse Mädchen»
Bei Erika Canales‘ Schutzpatronin handelt es sich um eine Kultfigur, die von der katholischen Kirche vehement abgelehnt wird. Das weiss auch Pater Francisco: «Ja wir haben Konflikte mit der Kirche – sie negieren Santa Muertes Existenz.» Nichtsdestotrotz hält er beim Altar im Quartier Morelos mehrmals pro Tag Messen ab, sogar Hochzeiten und Taufen – alles unter dem Segen der «Niña Blanca», des «Weissen Mädchens», wie die Figur Santa Muerte auch genannt wird.
Um den Ursprung des Kults um Santa Muerte ranken sich verschiedene Theorien und Legenden. Manche ihrer Anhänger vermuten indianische Ursprünge – obschon das Skelett, das an den Sensenmann oder den Totentanz erinnert, eher europäisch anmutet.
Der Kult hat in den letzten Jahren einen enormen Zuwachs erfahren. Nayeli Amezcua, eine Historikerin von der Escuela Nacional de Antropología e Historia (ENAH), hat sich eingehend mit ihm beschäftigt. Ihr zufolge gibt es keine Belege dafür, dass sich Santa Muerte direkt von den Totengöttern der Indigenen ableiten lässt. «Ich denke, dass es sich um eine Mischung aus europäischen Bildern und dem Totenkult der präkolumbischen Kulturen handelt», sagt sie.
Falls Santa Muerte weit zurückreichende Wurzeln hätte, dann reichten diese eher in die Kolonialzeit zurück. Nayeli Amezcua sieht in der Figur Parallelen zur katholischen Bilderwelt, mit der bei den Indigenen missioniert wurde. Deren Entstehung führt Amezcua somit auf die Todesauffassung in Mexiko und deren Präsenz in der Kunst zurück. Es gibt nämlich weitere, ähnliche Totenkopffiguren in der lateinamerikanischen Volksfrömmigkeit, die aber nicht zu verwechseln sind mit dem «Weissen Mädchen». So etwa San la Muerte in Argentinien, Paraguay und Brasilien sowie das gekrönte Skelettmännchen San Pascualito Rey in Chiapas und Guatemala.
Ein Produkt der sozialen Situation
Santa Muerte zieht auch bei den Gästen im «Tinacalito». Die 81-jährige Julia aus dem Quartier ist Stammgast in der Pulquería. «Ich habe zwar meine Religion, die Jungfrau von Guadalupe, respektiere aber auch Santa Muerte», erklärt sie nach einem Schluck Pulque.
Gleich neben dem Glaskasten schenkt sich auch der Textilingenieur David vom weissen Agavensaft ein. Er ist kein Geringerer als der Gönner des Heiligenbildes. Die Statue hat er für Erika Canales auf dem Zauberutensilien-Markt Sonora gekauft. Auch Alejandra Patricia, eine Cousine von Erika Canales, ist aus Überzeugung an die Kneipenmesse gekommen. «‹Mi flaca›, meine Hagere, hilft mir bei der Arbeit und in der Familie», glaubt sie. Ihr Begleiter Gerardo ist buchstäblich gezeichnet von der «Niña Blanca»: Die Sensenfrau prangt als Tattoo auf seinem Oberarm.
Vermutlich hat die Verbreitung von Santa Muerte in dieser Form ihren Anfang in Tepito genommen. Dieses berüchtigte Schwarzmarkt-Viertel in Mexiko-Stadt funktioniert generell nach eigenen Regeln.
Warum hier das «Weisse Mädchen» derart an Popularität gewonnen hat, dafür nennt die Historikerin Nayeli Amezcua mehrere Gründe: «Die grosse Jugendsterblichkeit im Quartier, die sozioökonomische Situation im Viertel sowie die Unfähigkeit der katholischen Kirche, Trost zu spenden», sagt sie. Tepito sei schon immer ein Territorium der Illegalität gewesen. «In einer solchen Umgebung konnte sich der von der Kirche nicht autorisierte Kult ohne Probleme entwickeln.»
Amezcua denkt zudem, dass die steigende Popularität der Santa Muerte auch daher rühre, dass sie eine weibliche Version des San Judas darstelle, dem Heiligen für schwierige Situationen. Der ist von der offiziellen Kirche anerkannt und in Problemvierteln ebenfalls sehr populär.
Trost finden in der «Falle des Teufels»
Santa Muerte bietet im Gegensatz zu San Judas eine Option für diejenigen, die sich weigern, zur Messe zu gehen, wo der Priester von der Sündhaftigkeit der Dealer und «Rateros», wie die Diebe genannt werden, spricht. Schelte statt Trost gibt es in der offiziellen Kirche oft, zum Beispiel für eine Mutter krimineller Söhne, die dann aufgefordert wird, ihre Kinder anzuzeigen.
Geht sie aber zum Altar, etwa demjenigen an der Alfarería-Strasse in Tepito, trifft sie auf Mütter in derselben Situation. «Gemeinsam bitten sie dann Santa Muerte um Schutz für ihre Söhne», sagt Nayeli Amezcua. Das «Weisse Mädchen» sei deswegen aber noch lange nicht bloss eine Gangster-Gottheit oder Religion der Outlaws. Viele Bewohner Tepitos seien erfolgreiche Geschäftsleute und weit davon entfernt, zu den tiefen sozialen Schichten zu gehören.
Die kirchlichen Obrigkeiten bekämpfen den Volkskult erbittert. Für sie ist Santa Muerte eine «Falle des Teufels». Daher wird der Kult an Familienaltären praktiziert, unter der Leitung von inoffiziellen Geistlichen oder Zeremonienmeistern vorchristlicher Kulte.
Nicht anerkannte Religionsgemeinschaften wie etwa die «Heilige apostolische traditionelle Kirche Mexikos und der USA» spielten dabei eine tragende Rolle. Deren selbsternannter Bischof, David Romo, wurde vor wenigen Jahren wegen Verwicklungen mit der Drogenmafia verhaftet. Bei seiner Religion gibt es weder genau festgelegte Dogmen noch Riten. «Sobald man solche einführen wollte, haben das die Leute abgelehnt», erklärt Amezcua.
Verlorene Tradition
Anscheinend müssen bei der Wirtin Erika Canales tatsächlich höhere Mächte wie Santa Muerte im Spiel gewesen sein: Die Wiedereröffnung einer Pulquería ist nämlich eine absolute Seltenheit. Viele dieser traditionellen Lokale mit den typischen Kachelwänden schliessen für immer.
Der Pädagogik-Student Paul Jiménez, der dem Ritual um die Skelettfrau ebenfalls beiwohnt, ist einer der besten Kenner der Pulquerías. Gemeinsam mit dem Kollektiv «El Tinacal» hat er ein ganzes Buch über diese für Mexiko einst typischen Lokale herausgegeben. Sie sind während der letzten Jahrzehnte immer mehr verschwunden. Habe es um 1970 im Distrito Federal noch etwa tausend «richtige» Pulquerías gegeben, schätzt Paul Jiménez deren Anzahl heute auf 53. Zu den «richtigen» Pulquerías zählt er diejenigen mit Guadalupe-Altar, ehemaligem separaten Frauenabteil und mit einem Mörser für den pikanten Gratis-Apéro.
Im benachbarten Bundesstaat Mexiko gebe es zwar noch weitere Pulquerías. Zudem rechnet Jiménez mit einer Dunkelziffer an illegalen Pulquerías, sogenannte Toreos, in Garagen, Hinterhöfen oder Wohnhäusern. Von all den Pulquerías, die er in der Millionenstadt kennt, ist «El Tinacalito» dennoch einzigartig: «Ich kenne noch ein paar andere Pulqueros, die Anhänger von Santa Muerte sind – doch nur hier wird sie direkt im Lokal mit einem Altar und einer Messe verehrt», sagt er.
Das traditionelle Getränk Pulque wurde bereits zu präkolumbischen Zeiten genossen. Die aztekische Agavengöttin Mayáhuel steht gleichzeitig für den Rausch. Das milchig-weisse Getränk wird entweder pur getrunken oder als «curado» in unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen. Diese reichen von Mango- und Ananas- bis hin zu Pinienkern- oder gar Meeresfrüchtearoma.
Lange galt das nahrhafte Getränk als Teil der alltäglichen Verpflegung, besonders bei Arbeitern und Bauern. Eine Pulquería gehörte somit schlicht zum Strassenbild. Im Laufe des letzten Jahrhunderts verlor der Pulque allerdings immer mehr an Bedeutung: Ab den Dreissigerjahren war es vor allem das Bier, das den Pulque verdrängte. Da sich Bier besser lagern und transportieren liess und als hygienischer galt, stach es den Pulque im Laufe der letzten Jahrzehnte aus.
Zum Niedergang der Pulquerías selbst trugen während des 20. Jahrhunderts neu erhobene Steuern, Hygienevorschriften und Anti-Alkohol-Kampagnen bei. Damit einhergehend kamen die Pulquerías zunehmend in Verruf, sie seien Schmuddelspelunken, wo sich nur zwielichtige Gestalten aufhielten. Bezeichnend für den Prestigeverlust ist auch diese Grossstadtlegende, die besagt, dem Pulque werde beim Fermentieren eine «muñeca», ein Bündel mit Hundekot, beigefügt.
Arbeiterknille und Hipster-Treff
In den wenigen Pulquerías, die noch geblieben sind, treffen sich meist Rentner, Arbeiter, aber auch Randständige und Alkoholiker, die dort eine Bleibe finden. Seit ein paar Jahren sieht es jedoch so aus, als erlebten die traditionellen Kneipen ein Wiedererwachen: Insbesondere jüngere Leute, Schülerinnen und Studenten haben das «mexikanischste aller Getränke» wieder für sich entdeckt und bevölkern seither die Pulquerías in Scharen.
Es gibt sogar vereinzelte Versuche, den Agavensaft wieder salonfähig zu machen und in nobleren, modernen Bars zu etablieren. Indem solche Neo-Pulquerías nebst für moderne Bars übliche Getränke auch Pulque ausschenken, versuchen sie, die Sehnsucht nach dem «Authentischen» zu stillen.
Das einzigartige Ambiente einer Pulquería findet man jedoch nur dort, wo die Tradition aufrechterhalten wird, an Orten wie dem «El Tinacalito». Die einen kommen wegen Santa Muerte, die anderen, um sich von der Agavengöttin berauschen zu lassen.
Pater Franciso legt der Skelettdame eine Cempasúchil hin, die Blume der Toten, und verabschiedet sich. Anschliessend geht das Fest erst richtig los: Plötzlich betritt auch noch eine Mariachi-Band die Pulquería und beginnt zu spielen. Gorila tanzt immer wilder zwischen der Theke und den Tischen, Erika Canales verteilt pikante Häppchen, und die Skelettdame im Hintergrund lächelt weiterhin allen Gästen zu. Ihre furchteinflössende Aura, die sie normalerweise in den Strassenaltären ausstrahlt, verliert sich in der festlichen Stimmung und dem Pulque.