Der Rosenverkäufer steht als einziger auf der grellen Lichtinsel, die der Scheinwerfer auf den Theaterplatz wirft. 22.20 Uhr, Freitagabend, das Thermometer misst 17 Grad. Alle anderen, die sich um diese Zeit hier herumtreiben, meiden das Licht, als wäre es eine ansteckende Krankheit; die Treppe, Teile der Plattform vor dem Theater und eben die Lichtinseln unten auf dem Platz bleiben leer.
Der Mann zupft eine Blüte zurecht, schaut in Richtung der zahlreicher werdenden Schatten am Brunnen und streicht sich über den Mund. Eine Geste des Zögerns. Dann geht er die Treppen hinauf zur Elisabethenkirche, während vorne am Steinenberg zwei aschgraue VW-Busse Typ T6 mit geschwärzten Heckscheiben halten. Die Polizei ist da. Präziser: Das «Einsatzelement Brennpunkt» erreicht den Hotspot. Die Uhr zeigt jetzt zwanzig vor elf.
«Kommt Dario noch?»
Der Theaterplatz ist in den letzten Jahren vor allem nachts zu einer Chiffre für Lärm, Schmutz, Uringestank und Schlägereien unter Jugendlichen geworden. Was dabei ausser Acht bleibt: Der Ort ist auch ein Schmelztiegel unterschiedlichster Subkulturen, Nationalitäten und sozialer Schichten. Während rund um den Barfüsserplatz und in der Steinenvorstadt die Preise für Bier und Softdrinks klettern, etabliert sich am Theaterplatz ein sozialer Raum fast ohne Türsteher.
Die ersten Gruppen kommen nach Einbruch der Dunkelheit und lassen sich im Schatten der Bäume oder am Tinguely-Brunnen nieder. Handybildschirme glimmen matt. «Kommt Dario noch?» – «Schau dir das Video an, was der Typ da tut, ist doch nicht normal.» Aus portablen Lautsprechern strömt Musik in die Nacht, lateinische Rhythmen, Trap, Hip-Hop, Reggaeton. Jetzt läuft doch wieder Trap.
Der Bluetooth-Sender von Blerims* Handy ist stärker als der von Ada, und der mit dem stärksten Sender bestimmt, was hier läuft. Oder wie Blerim das ausdrückt: «Was kann ich dafür, dass dein Handy so ’ne Pussy ist, sorry Alter.» Ada lacht.
Immer mehr junge Menschen kommen an, süsse Düfte vermischen sich mit schweren Gerüchen, Moschus, Kirsche und manchmal ein bisschen Schweiss. Küsschen, Küsschen unter Frauen, Handschlag unter Männern und dann auch dort zwei Küsschen. «Brudi, alles klar?» Am Steinenberg lässt einer im schwarzen BMW den Auspuff knallen, aber Diego und seine Kollegen lassen sich davon nicht beeindrucken: «Wenn ich wollte, könnte ich dem die Karre betanken. Weisst du was ich meine?»
«Das Auto betanken» gilt hier als Metapher, wer tankt, besitzt. Diego tankt sein Auto im Gegensatz zum Aufschneider im schwarzen BWM selber, sagt er, er fährt einen Mazda 3, dunkelblau, mattgoldene Felgen. Das letzte Bild von Diego im Mazda hat 76 Herzen auf Instagram. Diego kommt seit Jahren hierher mit seinen Kollegen, sie kennen sich aus der Schule, sind im Kleinbasel aufgewachsen. «Wir chillen, trinken, labern Zeug, der Theaterplatz ist perfekt, Alter.»
Eren, das «Opfer», Diego, der «Linke»
Es geht um Frauen, den Bart von Adam und es geht um Eren, der ein «Opfer» sei und eigentlich nur darum in der Clique mitmachen dürfe, weil er sonst keine Freunde habe. Eren, das Opfer, protestiert kurz, muss dann aber was am Handy tippen, und überhaupt sei Diego der Letzte, der was zu melden habe, er sei schliesslich link. «Du Linker», sagt Eren zu Diego und meint damit, dass Diego bei allem mitmache, wenn es dafür Geld gebe.
«Schau dir den Bart an, der sieht aus wie ein Araber, aber der ist imfall Schweizer, Alter.»
Der soziale Status wird in dieser Gruppe in der Währung halbernst gemeinter Beleidigungen verhandelt. Auch dass die Eltern von Eren, Diego und der anderen beiden aus verschiedenen Ländern kommen, wird oft thematisiert.
«Schau dir den Bart an», sagt Diego über Adam, «der sieht aus wie ein Araber, aber der ist imfall Schweizer, Alter.» Eren lacht, Adam lacht, Diego, der keinen Bartwuchs hat, lacht nicht, er giesst Wodka mit Schweppes in den weissen Plastikbecher, seinen Becher. Er hat ihn schliesslich selber betankt. Er sei ja nicht schwul.
Auch das ist Teil des Strassenjargons. Ist etwas nicht gut, ist es halt gay, fällt jemand auf, ist er halt schwul. Die Türsteher auf dem Theaterplatz tragen zwar keine Lederjacken, aber sie sind präsent. Sie stehen zwischen den Zeilen.
22.40 Uhr: Ankunft des «Einsatzelements Brennpunkt»
Als sich am Steinenberg die Schiebetüren der beiden VW öffnen, gehen am andern Ufer des Brunnens vier Lautsprecher in den Standby-Modus. Vier Uniformierte bleiben bei den Autos, während fünf andere den Platz betreten. Vor Jahresfrist eskalierte eine Intervention der Polizei beim Versuch, eine Prügelei unter Jugendlichen zu beenden. Flaschen flogen, zum Einsatz kamen auch Reizgas und der «gerade Einsatzstock» der Beamten. Solche Szenen hinterlassen Spuren, auf beiden Seiten.
Von derlei aggressiven Eruptionen ist die Stimmung an diesem Freitagabend weit entfernt. Der Einsatzleiter manövriert seine Leute betont gelassen durch das Spalier junger Menschen, grüsst höflich, erhält ein paar Grussfloskeln zurück und erntet noch mehr Schweigen.
Auch Ada zuckt nur mit den Schultern. «Die Polizei kommt hier immer wieder vorbei, wir sind das gewohnt.» Sie sitzt jetzt abseits der Clique von vorhin bei zwei ihrer Freundinnen, alle 17 Jahre alt, und raucht Zigaretten mit Mintzusatz. «Willste eine?»
Der soziale Raum funktioniert hier nach seinen eigenen Gesetzen.
«Im Sommer gibt es öfters Schlägereien, wenn jemand zu viel getrunken hat, dann steht auch immer schnell die Polizei auf der Matte.» Wer die Beamten ruft, weiss sie nicht, aber dass da jemand kommt, sei schon okay so. Ada und ihre Freundinnen mögen den Theaterplatz eigentlich gar nicht so sehr. «Aber, keine Ahnung, hier sind einfach alle. Man braucht sich nicht zu verabreden.»
Die soziale Topografie des Raums funktioniert hier nach ihren eigenen Gesetzen, von aussen ist nicht nachvollziehbar, wer wen kennt oder nicht kennt. Auffällig ist indes, wie einfach Ada von einer Gruppe zur nächsten tingeln kann und dort sofort Anschluss findet, hier eine raucht und da auf der Snapchat-Story einer Freundin, einer Art digitales Tagebuch, landet.
Die Snaps, diese Videoschnipsel mit beschränkter Lebensdauer, spannen eine Art unsichtbares Netzwerk über den Platz und zerstäuben alle möglichen Mikroereignisse. Wie ein digitaler Sprühregen rieseln sie auf die Handys der Jugendlichen. Blerim hat zum Beispiel die Ankunft der Busse gesnappt, aber sein Kumpel, der oben an der Theatertreppe sitzt, weiss schon Bescheid.
Sein Snap, den er Blerim zurückschickt, ist zwar verwackelt, aber da sind dieselben Busse zu erkennen. Aschgrau, T6, getönte Heckscheiben, dazu die Worte «chill Eier Mann» und ein lachendes Smiley mit Tränen in den Augen.
Fünfzehn Minuten später, der Blick des Einsatzleiters schweift über den Platz. Alles ruhig. «Aber nicht die ganze Flasche alleine trinken», flachst er noch in Richtung einer jungen Frau mit einem grellgrünen Getränk in der Hand, «nein, nein», sagt sie. Dann zieht das «Einsatzelement Brennpunkt» die Schiebetüren der Busse hinter sich zu.
Es wird an diesem Abend bei dem einen Besuch bleiben.
«Start from the audience perspective», Fahrradhelm
Gegenüber des Platzes gehen gleichzeitig die Tore auf, 23.00 Uhr, auf der kleinen Bühne des Theaters wurde der «Science Slam» geboten. Paare in Bügelfalten und halbhohen Absatzschuhen schlendern die Treppen hinunter, in die wieder lauter werdende Musik mischen sich englische Satzfetzen.
«You should always start from the audience perspective», sagt sie zu ihm. Er nickt, an der Umhängetasche baumelt ein Fahrradhelm.
«He, willste Bier?» Ein junger Mann hält dem Herrn mit der Bügelfalte die Büchse hin, der lehnt dankend ab und macht eine Geste. Daumen hoch. Ein flüchtiger Augenblick des Kontakts zwischen Theaterbesuchern und Jugendlichen.
Hier greift ein besonderes Räderwerk ineinander.
Aus der Gasse zwischen Elisabethenkirche und Theater tritt nun wieder Akash aus Bangladesh, der Rosenverkäufer mit Ingenieurdiplom. Fünf Franken kostet bei ihm eine Blume, gelbe, weisse, rote, von denen hat er am meisten. Dass er hier etwas verkaufe, komme immer wieder mal vor, wobei es in der Steinenvorstadt schon leichter sei. Aber wenn einer Geburtstag habe, oder wenn jemand verliebt sei, «kauft er manchmal den ganzen Strauss». Akash macht dann einen guten Preis.
Eigentlich ist es ihm zu blöd, die Leute wegen der Rosen anzusprechen, viel lieber hätte er, dass er angesprochen würde. «Wer braucht denn schon keine Rosen, right?»
Aber Akash hat heute nicht viel verkauft und darum geht er jetzt doch noch zum Brunnen und versucht sein Glück im Reigen der sich ausdünnenden Schatten.
Im Wasser rattern, wackeln, heben und senken sich derweil die Skulpturen Jean Tinguelys, die der Künstler 1977 aus Teilen der alten Bühnenausstattung des Theaters zusammenschweisste und damit Komponenten, die eigentlich nie zusammengehörten, miteinander verzahnte.
Es ist ein besonderes Räderwerk, das hier ineinandergreift.
* Alle Namen geändert.