Giftiger Verteilkampf um eine warme Mahlzeit

Basel ist die reichste Stadt der Schweiz. Gleichwohl kämpfen Tausende Menschen jede Woche um Lebensmittelspenden. Die Helfer sind am Anschlag.

Basel ist eine Stadt mit massiven sozialen Problemen. Sie scheinen nicht durch, wenn mal wieder von Rekordüberschüssen die Rede ist oder teuren Bauprojekten. Doch das Geld fürs Nötigste fehlt an vielen Orten. So lebt zum Beispiel jedes fünfte ausländische Kind in Basel-Stadt von der Sozialhilfe, also am Existenzminimum. Tendenz: klar steigend.

Auch die Gesamtquote an Sozialhilfeempfängern nimmt wieder zu. Mit 7,4 Prozent im Stadtgebiet weist Basel eine der höchsten Quoten der Schweiz auf. Gleichzeitig gibt es keinen Kanton in der Schweiz mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen. Aktuell sind es im Durchschnitt knapp 170’000 Franken im Jahr. Wie passt das zusammen?

Dass im sozialen Gefüge dieser Stadt etwas nicht stimmt, bleibt der breiten Öffentlichkeit meist verborgen. Bettler finden sich kaum im Stadtbild, den meisten Menschen sieht man die Notlage nicht an. Aber es gibt Orte, an denen die Friktionen zutage treten.

Unter der Woche im Kleinbasel, 14 Uhr: In einer schmalen Gasse zwischen Riehenstrasse und Rosentalstrasse hat sich eine Schlange gebildet. 50, vielleicht 60 Leute, manche von ihnen warten schon lange. Es sind ältere Männer da, auch ein paar junge, sowie Frauen jeden Alters, von denen viele ein Kopftuch tragen. Auch ein paar Kinder sind mitgekommen. Fast alle sind mit einem Einkaufstrolley ausgestattet.

Es ist eine Essensausgabestelle, vor der diese Menschen anstehen. Bald geht das Verteilen los. Hinter der Aktion steht der gemeinnützige Verein «Dienst am Nächsten» (DaN). Über 200 Plastiksäcke voller Essen verteilt er wöchentlich an Bedürftige, den sogenannten «Heiland Sack». Registriert haben sich rund 500 Menschen für diese Ausgabe. Voraussetzung ist ein Nachweis, der die Bedürftigkeit belegt, beispielsweise ein Caritas-Ausweis, eine KulturLegi oder ein FamilienpassPlus.

Allein ins ehemalige Kino Royal kommen 200 Menschen pro Woche, um einen Sack Essen zu holen.

«Die Nachfrage ist noch viel grösser», sagt Leiter Michel Fischer, «aber mehr haben wir nicht zu verteilen.» Manche stünden schon ab elf Uhr bei der Ausgabestelle an, warten stundenlang. «Vor allem Geflüchtete», sagt Fischer. Andere kämen erst auf die drei oder halb vier, dann habe es keine Schlange mehr.

Die Essensausgabe befindet sich im ehemaligen Kino Royal, das jetzt von der Freikirche Vineyard gemietet wird. Fischer ist dort Pastor und hat vor elf Jahren den «Heiland Sack» ins Leben gerufen. Anfänglich bekamen fünf Personen einen Sack Essen nach Hause geliefert, inzwischen kommen wöchentlich im Schnitt über 200 Menschen.

Vor drei Jahren wurde der gemeinnützige Verein DaN gegründet. Im Zentrum steht die Absicht, Menschen Gutes zu tun – egal, welcher Religion sie angehören. Das Essen kommt zu 90 Prozent von der Schweizer Tafel. Sie holt die Nahrungsmittel bei Grossverteilern ab. Der restliche Teil ist Privatspende.

Cindy und Ibrahim

Im Saal rücken knapp zwei Dutzend Mitarbeitende die vollen Kisten zurecht und plaudern. Es ist ein bunt gemischtes Team aus Männern und Frauen. Sie sind alle selbst Bezüger, die früher oder später einfach den Wunsch hatten, selbst ehrenamtlich mitzuarbeiten.

14.15 Uhr: Die ersten Gäste kommen mit ihren Einkaufstrolleys rein. Zuerst gehen sie an den Kisten vorbei. «Magst du einen Joghurt?», fragt Cindy. Die schwarzhaarige, tätowierte Frau ist seit 2015 im Team. «Ich bin Taxifahrerin», erzählt sie. Sie sei alleinerziehend, habe zwei Töchter. «Und vor drei Jahren ist mein Umsatz wegen Uber so eingebrochen, dass ich Ergänzungsleistungen beantragen musste.»

Cindy kam damals zur Essensausgabe und entschied schon beim ersten Besuch, dass sie mitarbeiten möchte. Es macht ihr sichtlich Freude.

«Ist gut für Kinder?», fragt ein Mann in gebrochenem Deutsch und zeigt auf einen Pudding. Cindy liest vor: «Protein-Pudding.» Nein, das sei eher für Erwachsene, antwortet sie dem Mann und muss lachen: «Für den Muskelaufbau!»

Neben Cindy steht Ibrahim. Der Syrer kam vor dreieinhalb Jahren in die Schweiz. Er hat keine Arbeitsstelle, aber vier Kinder zu versorgen. So kam er zum «Heiland Sack». Erst als Bezüger, später als ehrenamtlicher Mitarbeiter. «Ich mag gerne Leuten helfen», sagt er.

Mangel an Bezugskarten

Yvonne Bürgin verantwortet für die Sozialinstitution Schwarzer Peter die Verteilung von Essenskarten der Organisation Tischlein deck dich.

Bürgin ist besorgt über die Situation mit den Essensverteilungen in Basel. Und auch zunehmend verärgert: «Es ist ein Chaos, es gibt keine Transparenz, wer eine Essenskarte bekommt und wer nicht», sagt die Gassenarbeiterin. Sie hat vor ein paar Tagen einen Notruf auf Facebook platziert:

Genügend Essen auf dem Tisch ein Lottogewinn? Bürgin sagt, es gebe deutlich zu wenige Lebensmittel, die verteilt werden könnten und entsprechend wenig Bezugskarten. Der Schwarze Peter hatte bis vor Kurzem nur drei Karten, jetzt sind es immerhin sechs. Der Bedarf sei jedoch ein Vielfaches davon. Eben erst musste Bürgin ein Pärchen wieder heimschicken. «Die sind in Tränen ausgebrochen, als ich ihnen keine Karte geben konnte», sagt sie.

Bürgins Klienten sind oft alleinerziehende Mütter. Aber auch ältere Menschen, die von einer minimalen AHV- oder Witwenrente leben. Und dann gibt es noch solche, die sich ohne Sozialgelder durchzuschlagen versuchen – aus Scham, auf den Ämtern vorstellig zu werden.

«Wenn wir zehn Menschen helfen, enttäuschen wir zugleich neunzig andere.»

Alex Stähli, Geschäftsführer von Tischlein deck dich

Bürgin macht die Situation zu schaffen. Weil sie keine Antwort hat auf die verzweifelte Lage ihrer Klienten. Und weil die Knappheit zu einem vergifteten Verteilkampf führt. Kartenbezüger werden des Missbrauchs bezichtigt, bei Ausländern heisst es schnell, sie würden Schweizer aus der Notvorsorge verdrängen.

Der Geschäftsführer der Organisation Tischlein deck dich, Alex Stähli, kennt das Problem nur zu gut, dass nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden können. Er sagt: «Wenn wir zehn Menschen helfen, enttäuschen wir zugleich neunzig andere.» Die Organisation behilft sich mit einem Rotationsprinzip. Jeweils nach maximal zwölf Monaten müssen die Sozialinstitutionen eine Neubeurteilung vornehmen und die Karten an andere Bezüger weiterreichen. «Es gibt kein Gewohnheitsrecht», sagt Stähli.

Yvonne Bürgin vom Schwarzen Peter hält wenig von dieser Regelung. «Natürlich ist das hochproblematisch», sagt Bürgin. Armut verschwinde ja nicht einfach mit dem Jahreswechsel. Aber was wäre eine fairere Lösung des Problems? Solange die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches übersteigt, bleiben viele Verlierer zurück.

Es wäre genügend Essen für leere Tische da

500 Bezugskarten verteilt Tischlein deck dich in Basel, die Zahl hat sich leicht erhöht im laufenden Jahr. Doch dem Wachstum sind Grenzen gesetzt. Derzeit erreicht die Organisation 19’000 Menschen in der ganzen Schweiz. Mehr liegt vorerst nicht drin. Die letzten beiden Jahre schrieb man Verluste und auch im laufenden Geschäftsjahr rechnet Stähli mit einem «substanziellen Fehlbetrag». Also werden keine neuen Projekte gestartet, wird erstmal der laufende Betrieb konsolidiert.

Eine zweite Grenze wird durch die Zahl der Lebensmittelspenden gezogen. Während diese bei den Grossverteilern wie Migros und Coop stabil bleibt, sind die Abgaben von Lebensmittelproduzenten rückläufig und müssen mit Neuakquisitionen kompensiert werden.

Für Stähli ist das allerdings kein schlechtes Signal. Denn seine Organisation richtet sich primär gegen Foodwaste und setzt sich nur in zweiter Linie für die Versorgung von Bedürftigen ein. «Wenn Firmen weniger Ausschuss produzieren, werten wir das als Erfolg unserer Bemühungen», sagt Stähli.

Dass die Bedürfnisse der Umwelt vor jenen der Menschen stehen, wirkt nur auf den ersten Blick problematisch. Denn zwei Millionen Tonnen Lebensmittel landen in der Schweiz jedes Jahr im Müll. Der grösste Gratisverteiler, die Schweizer Tafel, rettet davon gerade mal 4000 Tonnen, um sie an Bedürftige abzugeben. Es fehlt also nicht an Essen für leere Tische. Es fehlt an der Infrastruktur, an staatlicher Unterstützung, letztlich am Geld.

Die Scham steht vielen im Weg

Im ehemaligen Kino Royal geht der Besucherstrom derweil kontinuierlich weiter. Nach der losen Ware kommen die abgepackten Säcke. Es habe sich bewährt, diese vorab zu packen – möglichst ausgewogen, «so dass es von allem etwas hat», sagt Abgabeleiter Michel Fischer. Sonst hätten diejenigen, die später kommen, Sorge, das Gute sei schon weggeschnappt.

Einen Tisch weiter packen die Leute die Ware um in ihre Trolleys. Was sie nicht mögen, landet in einem dafür vorgesehenen Korb, die «Tauschbörse».

 «Leider getrauen sich viele Schweizer gar nicht her», sagt Walter, der seit zehn Jahren mithilft.

15 Uhr: Der Raum hat sich gefüllt. Gespräche hier und dort. Arabisch, vielleicht türkisch, deutsch. Zwei Mädchen, um die acht, neun Jahre alt, sitzen auf Holzbrettern am Rand und essen Cracker, die sie gerade bekommen haben. Rund um die Tauschbörse schauen ein paar Besucher, ob sie noch etwas Feines ergattern können.

Die meisten Menschen haben Migrationshintergrund, einige sind geflüchtet, berichtet Fischer. Einzelne sehen schweizerisch aus. «Leider getrauen sich viele Schweizer gar nicht her», sagt Walter, der seit zehn Jahren mithilft. «Die Scham und die Hemmschwelle sind gross», sagt er. Er ist im Rentenalter und findet es super, bei einer guten Sache mitzuhelfen.

Tausende wären bedürftig

Auch das versuchen Michel Fischer und sein Team aufzubrechen. Sie wollen mit ihren Gästen ins Gespräch kommen, sie auch aus der inneren Not holen. Es gelingt nicht oft, und auch wenn es klappt, bleibt das Engagement des Vereins bescheiden angesichts des Ausmasses der sozialen Notlage.

Die angefragten Abgabestellen gehen von einem Faktor zehn an Bedürftigen aus. Das heisst, dass Tausende Baslerinnen und Basler Lebensmittelspenden wollen, aber keine erhalten.

Das weiss auch Michel Fischer. Zum Schluss bittet er, den Wochentag der Abgabe in der Reportage nicht zu erwähnen. Nicht weil er nicht mehr helfen will, sondern schlicht nicht mehr Menschen helfen kann.

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https://tageswoche.ch/gesellschaft/wenn-es-im-reichen-basel-nur-fuer-billig-essen-reicht/

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