Wir kommen zu euch aufs Land (Teil III): Im Schlafnest der Städter

Wir haben uns zu denen gewagt, die uns Städter am meisten ablehnen: die Baselbieter Gemeinden Hersberg, Tschoppenhof und Pfeffingen. Warum? Weil wir sie endlich verstehen lernen wollen. Heute sind wir in Pfeffingen. Endstation.

So einheitlich wie sich das Dorf präsentiert, ist es überhaupt nicht: Pfeffingen. (Bild: Alex Preobrajenski)

In der Ferne der Rotturm, der Belchen, der Roche Tower. Erich Kaiser, der selbstständige Maurer, den sie auch «Böbs» nennen, steht auf dem Feldweg, hinter ihm die Ruine, das Wahrzeichen hoch über Pfeffingen, und redet auf sein Dorf hinunter, zeigt und teilt auf. So einheitlich, wie sich Pfeffingen präsentiert, ist es gar nicht. «Hier am Waldrand leben die Städter», sagt der 60-Jährige, grau seine Haare, sonnig sein Gemüt. «Und dort im Dorfkern die Pfeffinger.»

Böbs Kaiser wohnt ebenfalls bei den Städtern, weil er hier Land von seinen Eltern geerbt hat. Dennoch fühlt er sich den Einheimischen näher. «Ich bin nicht so ein Stadtfan», sagt er. Das beschauliche Land ist ihm lieber als die grossen Baukästen in der Stadt.

Städter hier, Pfeffinger da: Das ist charakteristisch für das Dorf. Früher kamen die Leute von der Stadt her, schlittelten im Winter den Hang hinunter und fuhren abends wieder heim. Heute kommen sie aus Basel oder aus anderen Orten, um in Pfeffingen zu bleiben, zu schlafen und tagsüber auswärts zu arbeiten.

Sie sind der unerschütterliche Kern des Dorfes: Heinz Gasparoli, Daniel Kaiser und Erich «Böbs» Kaiser (von links nach rechts).

Seit 1960 hat sich die Dorfbevölkerung in Pfeffingen laut Statistischem Amt Baselland mehr als vervierfacht, von 515 auf aktuell 2369 Männer, Frauen und Kinder. Und es werden immer mehr. Knapp die Hälfte der Einwohner ist erwerbstätig, davon pendeln 37 Prozent nach Basel, mit ÖV oder Auto rund 30 Minuten hin und gleich lange zurück. Lediglich 13,8 Prozent arbeiten in Pfeffingen selbst.

Dabei suchen die Pfeffinger eher die Distanz zu Basel. Vor drei Jahren wollte keine Gemeinde im Bezirk Arlesheim mit dem Kanton Basel-Stadt fusionieren. Pfeffingen stimmte mit knapp 68 Prozent mitunter am deutlichsten dagegen.

Das Dorf gehört auch der Stadt

Böbs Kaiser hatte sich wenige Tage nach einem Aufruf der Tageswoche gemeldet, um uns sein Dorf zu zeigen. Deswegen wollen wir an diesem Donnerstagnachmittag von ihm und seinen beiden Freunden wissen, was Pfeffingen bewegt und was es mit der Stadt Basel verbindet. Es ist mehr, als vielen lieb sein mag.

Da ist zum Beispiel der dichte Wald, der den Grat des Blauen oberhalb von Pfeffingen bedeckt: Mehr als die Hälfte gehört der Stadt Basel. Und da ist auch die Waldschule, welche die Stadt seit 1941 besitzt: ein weitläufiges Landgut mit englischem Garten hinter einem grossen Eisentor etwas unterhalb der Ruine.

Das Haupthaus der Waldschule: das von Rudolf Vischer-Burckhardt erbaute Herrenhaus.

Es ist 14 Uhr. «Ein interessantes Gebäude, nicht wahr?», ruft einem Heinz Gasparoli, der 72-jährige pensionierte Werkzeugmacher, mit tiefer Stimme entgegen. Er steht auf dem grossen Platz vor dem Hauptgebäude, einem Herrschaftshaus. «Vom Basler Rudolf Vischer-Burckhardt gebaut», sagt Daniel Kaiser, der daneben steht. Er, 55 Jahre und selbstständiger Treuhänder, ist entfernt mit Böbs Kaiser verwandt, ihre Väter sind Cousins.

Die beiden sind nicht oft hier, Böbs Kaiser dagegen schon. «Ich lege hier manchmal Platten», sagt er, der Kundenmaurer. Sonst haben die drei Männer aber viel gemeinsam. Sie sind in Pfeffingen aufgewachsen, geblieben – oder wie Heinz Gasparoli in die Stadt gezogen und später zurückgekehrt. Ihre Mütter haben noch deren Mütter gekannt. Und umgekehrt. Die drei Männer verbindet besonders auch die Zukunft des Dorfes. Doch dazu später mehr.

Obwohl das Waldhaus der Stadt Basel gehört, wird die Sonderschule von einem Pfeffinger geleitet, vom Gemeindepräsidenten nämlich. Er wohnt sogar auf dem Anwesen, im Haus gleich neben dem Eingangstor.

Die Ruine ist das Wahrzeichen von Pfeffingen. Sie wurde fünf Jahre lang saniert und Mitte August wiedereröffnet.

1892 hatte der Basler Bandfabrikant, Rudolf Vischer-Burckhardt, das Gut gekauft, das bestehende Haus abgebrochen und eines im neubarocken Stil errichtet. «Und dann hat es der Vischer verkauft», sagt Heinz Gasparoli. Der neue Besitzer verlor sein Vermögen in den 1930er-Krisenjahren.

Später kaufte die Stadt Basel das Landgut, errichtete eine Bleibe für erholungsbedürftige Kinder und es ist inzwischen eine Sonderschule für 21 Mädchen und Buben im Alter von bis zu 16 Jahren, die Lern- und Verhaltensschwierigkeiten haben. «Im Gegensatz zu früher kommen heute nicht nur Baselstädter her, sondern auch Jugendliche aus Baselland», sagt Daniel Kaiser hinter dem Haupthaus. Dort öffnet sich ein grosser Park mit Brunnen, einem kleinen trüben Teich, bunten Blumenbeeten und drei Gewächshäusern, in denen grüne und rote Tomaten wachsen.

Auf der anderen Seite stehen zwei Rösser, eine Frau kümmert sich gerade um sie. Sonst ist niemand zu sehen: Die Heimkinder haben Sommerferien. Doch es erinnert viel an sie. «Sehen Sie dort das kleine Häuschen», sagt Böbs Kaiser und zeigt an einer Kinderschaukel vorbei auf eine unscheinbare Holzhütte gleich neben einer silbernen Rutschbahn.

Das Häuschen, das Rudolf Vischer-Burckhardt für seine Tochter Valerie bauen liess.

«Die hat der Vischer extra für seine Tochter gebaut.» Die einen sagen, dass sie krank gewesen sei, die anderen, dass sie gesund war. Man weiss es nicht genau. «Im Holz steht ihr Name», sagt Böbs Kaiser und rennt jetzt über den Rasen in die Richtung. Nach wenigen Minuten kommt er zurück. «Valerie hiess sie.»

Heinz Gasparoli zündet sich eine Gauloise an. Die Männer wollen weiter, ins Dorf. Und dann an ihren Stammtisch.

Hin zum Dorf für Reiche

Im schwarzen Mercedes fahren wir fünf Minuten und halten auf dem Bauernhof, der früher zur Waldschule gehörte. Männer bauen dort gerade ein Zeltgerüst ab. «Hoi Sepp», grüsst Böbs Kaiser den Landwirt von Weitem und sagt: «Früher haben wir hier als Kinder noch Kartoffeln aufgelesen und uns ein Sackgeld verdient.» Doch der Hof sei heute kleiner, vieles verkauft worden. «Um das Gebäude zu unterhalten, muss man ein paar Liter Milch verkaufen», sagt Heinz Gasparoli und setzt sich auf den Rand eines Brunnens. Die Scheune vermieten sie für Anlässe, die Bauern müssen auch hier kreativ sein.

Der Bauernhof gehörte früher zum Waldhaus. Heute muss der Landwirt kreativ sein, damit dieser Hof nicht auch noch verschwindet.

In Pfeffingen gibt es noch drei Bauernhöfe, früher waren es noch deren zwölf; sie sind Bauland und Wohnhäusern mit Umschwung gewichen. Die Gemeinde hat mit 85 Prozent Wohneigentum einen der höchsten Anteile im Baselbiet und kaum Mietwohnungen, die sich auch Arbeiter und Handwerker leisten könnten.

«Es ist überall dasselbe», sagt Heinz Gasparoli. Er zog in den 1970ern nach Basel ins St.-Johann-Quartier, weil er damals in Pfeffingen keine günstige Mietwohnung fand. Aber auch, weil es ihm zu eng wurde im Dorf. «Ich bin halt ein 68er und wollte mehr Freiheiten», sagt er. Trotzdem riss der Kontakt zu Pfeffingen nie ganz ab. Und dann irgendwann zog er wieder ganz ins Dorf.

«Sehen Sie», sagt Daniel Kaiser am Steuer in Richtung Dorf, «dort ist ein Haus eingezäunt, das noch gar nicht so alt ist – vielleicht 25 Jahre.» Es werde jetzt abgerissen, neue Eigentumswohnungen gebaut. Wer im Dorf wohnt, hat Geld oder geerbt.

Viel wird gebaut, einige Mehrfamilienhäuser stehen bereits, weitere sind geplant und ausgesteckt. Der Höchstpreis für einen Quadratmeter hat sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt und liegt heute bei 1500 Franken. «Leute kaufen hier Eigentum für 1,5 Millionen», sagte Heinz Gasparoli, «denn hier zahlen sie kaum Steuern.» Der Steuerfuss in Pfeffingen liegt bei 45 und ist einer der tiefsten der Region.

Gegen die Langeweile

Wir halten vor dem Gemeindehaus, das Dorf liegt müde da wie eine schnurrende Katze, die Sonne drückt auf Häuser und Gärten. Wenige Autos schnellen die Hauptstrasse hoch, eine Frau hinter dem Fenster zieht den Vorhang.

Obschon immer mehr herziehen, Familien mit Kindern, die hier Ruhe und Eigentum finden, lebt Pfeffingen kaum. «Alles im Dorf passiert auf private Initiative», sagt Böbs Kaiser, also auch das Herbstfest am Tag, wenn auf Winterzeit umgestellt wird. Die Schnitzelbänke am Schmutzigen Donnerstag. Das Kirschenstein-Spucken, das diesen Juni allerdings ausfiel – die Blüten der Früchte sind im Frühjahr erfroren.

Der Dorfkern: Damit hier etwas Leben aufkommt, dafür müssen die Pfeffinger schon selber sorgen. 

Dann sind da noch die Vereine, darunter die Männerriege, der Gesangsverein, der Schützenverein. «Das Angebot ist zwar gross», sagt Böbs Kaiser, «aber die Jungen wollen nicht mehr mitmachen.»

An der Strassenecke steht das Restaurant Blume leer, es wurde verkauft und wird bald abgerissen. Von den drei Wirtschaften, die es in Pfeffingen mal gab, bleibt nur noch der «Rebstock». Ihm gegenüber ist der Stammtisch von Böbs Kaiser, «Böb’s Dorfschür», der dann abends öffnet, wenn der «Rebstock», wie jetzt, geschlossen hat. «Wer will, findet schnell Anschluss bei uns», sagt Heinz Gasparoli, «aber die Leute haben manchmal Berührungsängste.»

Wenn das Restaurant Rebstock gegenüber zu hat, trifft sich der Stammtisch bei «Böb’s Dorfschüre».

Kürzlich sei ein Mann an seinem Stammtisch vorbeigelaufen, sagt Böbs Kaiser, und habe ihn gefragt, was das hier sei, er habe es noch nie gesehen. Seine Scheune gibt es seit 12 Jahren, der Mann lebt seit 16 Jahren in Pfeffingen. Einer, der zugezogen ist.

Vor uns stehen jetzt das unbewohnte Pfarrhaus, daneben die katholische Kirche St. Martin und sein Friedhof. «Den Pfarrer haben wir auch nicht mehr», sagt Böbs Kaiser. Er wurde pensioniert. Und jetzt teilen sie sich einen mit drei anderen Gemeinden.

Doch nicht nur der Pfarrer ist gegangen. «Früher hatten wir mit 500 Einwohnern das Konsum und die Post», sagt Böbs Kaiser. «Heute fehlt beides.» Dafür gibt es seit fünf Jahren eine Bushaltestelle, an der gerade niemand wartet. Auch die gäbe es nicht, sagen die Männer, hätte nicht ein pensionierter Buschauffeur sie initiiert. Der Bus nach Dornach kommt in 20 Minuten, zeigt die digitale Anzeigetafel. «Obwohl wir abgelegen liegen», sagt Böbs Kaiser, «sind wir mit ÖV sehr gut erschlossen.»

Der einzige Briefkasten im Dorf ist seit letztem September auch die einzige Poststelle.

Heinz Gasparoli zeigt auf den Briefkasten gleich daneben. «Das ist der Ersatz für die Poststelle», sagt er noch immer empört; sie schloss letzten September. «Wir legen übrigens unser Geld unter das Kopfkissen», sagt er und lacht, im Dorf gibt es keinen Bankomaten.

Am Stammtisch vereint

Es ist 16 Uhr. Draussen in «Böbs Dorfschür» tischt Böbs Kaiser Bier und Mineralwasser auf und zeigt drinnen die Räume, die er innert zehn Jahren, kurz nach seinem 40. Geburtstag, selbst umbaute. Es riecht nach Arvenholz, an den Wänden hängen Fotos vom alten Pfeffingen – von vor 70 Jahren.

Die Scheune können andere mieten, er selbst veranstaltet auch manchmal Feste. «Im Gegensatz zu den Jungen wollen wir in unserem Alter nicht mehr so weit weg, um ein Bier zu trinken», sagt er.

Mehr Autos fahren jetzt die Strasse hoch, ein Mann mit Hörgerät bleibt stehen. «Jetzt macht ihr bereits am Nachmittag auf?», fragt er und setzt sich auf die hintere Bank. Normalerweise öffnet Böbs Kaiser erst um 17 Uhr. Es ist der Mann, der die Bushaltestelle initiiert hat, an der nun die Jungen an den Wochenenden warten, um nach Basel in den Ausgang zu fahren.

Sie alle, der unerschütterliche Kern, schaffen dagegen, dass Pfeffingen ganz einschläft. Die Männer grenzen niemanden aus, sagen sie selbst, auch Expats nicht, die in der Basler Chemie arbeiten, nach Pfeffingen kommen und dann, kurz später, wieder gehen.

Doch so wie das ganze Dorf einst zusammenhielt, wird es wohl nie mehr sein. Und Basel, auf das man auch vom Stammtisch aus blickt, ist unaufdringlich, aber immer präsent.

Heissen alle am Stammtisch willkommen: Die Männer versuchen, den Pfiff in Pfeffingen aufrechtzuerhalten.

Verbindet die Männer, die früher in Basel wohnten, arbeiteten und ihr Bier tranken, überhaupt noch etwas mit der Stadt?

«Früher schon, aber heute nicht mehr», sagt Daniel Kaiser. Seine volljährigen Kinder dagegen geniessen in der Stadt die Zerstreuung, die sie in Pfeffingen nicht finden.

«Mich verbindet nichts mehr», sagt auch Heinz Gasparoli. «Ich gehe nur nach Basel, wenn ich muss.» Die Stadt habe sich sehr verändert, sei hektischer und anonymer geworden. Ausserdem stehe Basel politisch links, und in der Runde auf dem Land plädiert Heinz Gasparoli für etwas mehr Eigenverantwortung. «Wir wollen hier keine Sozialisierung der Gesellschaft», sagt er.

Böbs Kaiser schweigt und lächelt. Er braucht auch gar nichts zu sagen. Sein Platz ist hier an seinem Stammtisch, an dem er jeden begrüsst. Baselbieter. Und Basler.

Dossier Baselbiet für Anfänger (also Städter)

Wer das Baselbiet verstehen will, sollte vielleicht einfach mal dahin fahren. Genau das haben wir getan.

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