Noch nie von «Prep» gehört? In der Schwulenszene sind die blauen Pillen ein heiss diskutiertes Thema. Sie versprechen ein befreites Sexualleben. Allerdings kann das Medikament nicht alle Risiken ausschliessen. Die Schweizer Gesundheitsbehörden sind skeptisch.


Stellen Sie sich vor, es gibt ein Wundermittel und niemand weiss davon. Eine Pille, so potent, dass sie einem lebensgefährlichen Monstervirus den Biss nimmt. Dieses Wundermittel gibt es und es nennt sich PrEP, kurz für «Prä-Expositionsprophylaxe».

Korrekt eingesetzt, schützt Prep als eine Art chemisches Kondom vor einer Ansteckung durch HIV, das Virus, das die Immunschwächekrankheit Aids verursacht.

Ein geheimes Wundermittel, ein Monstervirus: Diese Geschichte trägt die Züge eines Märchens. Und wie ein Märchen kommt auch diese Story nicht ohne Schrecken aus, nicht ohne Räubergeschichten und böse Gerüchte.

Es beginnt mit Hörensagen. Ein schwuler Bekannter erzählt von einem neuen, gefährlichen Hype in der Community. «Viele nehmen jetzt Prep statt Kondome.» Nicht nur führe dies dazu, dass sich mehr Männer mit herkömmlichen Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhoe und Chlamydien (STI, sexually transmitted infections) ansteckten. Durch den missbräuchlichen Gebrauch dieser Medikamente drohe auch die Entwicklung resistenter HI-Viren, raunt er.

Ist das der Anfang vom Ende der Aids-Epidemie?

Truvada, so heisst das Medikament, das zur Prep eingesetzt wird, ist ursprünglich Bestandteil der sogenannten PEP-Therapie. Damit kann sich vor einer HIV-Infektion schützen, wer sich einem Risiko ausgesetzt hat. Beispielsweise ein schwuler Mann, der an einer Sexparty unter Drogeneinfluss ungeschützten Analverkehr hatte.

Diese Post-Expositionprophylaxe sei hochwirksam, wenn sie spätestens 48 Stunden nach der Risikosituation begonnen wird, so die einhellige Meinung unter Infektiologen. Dazu müssen in der Regel während 30 Tagen drei verschiedene HIV-Medikamente eingenommen werden.

Im November 2010 kann ein Studie nachweisen, dass die Einnahme von Truvada nicht nur im Nachhinein das Einnisten des HI-Virus verhindert, sondern auch präventiv wirkt. Ein ungläubiges Raunen geht durch die Fachwelt. Ist das der Anfang vom Ende der Aids-Epidemie? Ein Wundermittel in Form einer kleinen blauen Pille?

«Zum ersten Mal kann ich meine Sexualität unbeschwert geniessen», sagt Yanis*.

In den USA wird Truvada 2012 als Prep zugelassen, die Weltgesundheitsorganisation WHO sowie die Europäische Aids-Gesellschaft folgen 2015. In der Schweiz ist Prep noch nicht offiziell zugelassen, darf gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) von Ärzten jedoch als sogenannt zulassungsüberschreitende Anwendung («off-label-use») auf eigenes Risiko verschrieben werden. Deshalb wird das Präparat auch nicht von der Krankenkasse übernommen. Truvada ist teuer, eine Monatspackung von 30 Tabletten kostet fast 900 Franken.

Deshalb hat sich Yanis* bis vor kurzem jeweils in Frankreich bei einer Apotheke in Saint-Louis eingedeckt, wo er die blauen Pillen für 400 Euro bekam, also für rund die Hälfte des Preises. Yanis, Anfang 50, Akademiker und im Gesundheitswesen tätig, ist seit knapp drei Jahren «auf Prep», wie er es nennt.

«Prep für alle, die es wollen und brauchen», lautet die Losung dieser Aktivisten in England.

Er zählt wohl zu den ersten Anwendern in der Schweiz. «Als ich meinem Arzt davon erzählte, war dieser zuerst skeptisch. Wir führten mehrere Diskussionen, machten uns zusammen schlau. Erst dann war er bereit, mir ein Rezept auszustellen.»

Yanis wollte Prep, weil sich bei ihm im entscheidenden Moment zu oft der Kopf einschaltete. Er liebt Sex, spontan, mit unterschiedlichen Partnern, in der Sauna, an Partys. Doch statt dass er das körperliche Zusammensein mit anderen Männern geniessen konnte, mahnte eine Stimme im Hinterkopf an die Risiken.

Grosse Euphorie in der Szene

Denn die Risiken bestehen weiterhin, auch wenn das Schreckgespenst HIV etwas aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sein mag. Noch immer stecken sich in der Schweiz jährlich rund 500 Menschen mit dem Virus an, gut die Hälfte dieser Neuinfektionen betrifft Männer, die Sex mit Männern haben.

Kommt hinzu, dass Yanis als passiver Partner beim Analsex besonders gefährdet ist. Die Darmschleimhaut ist empfindlicher als etwa diejenige der Vagina. «Ich entwickelte eine regelrechte HIV-Phobie. Kondome können reissen oder sind nicht zur Hand, wenns drauf ankommt.» Sex und Angst sind keine Freunde, die Lust wurde zur Last.

Prep nahm Yanis diese Last ab. «Zum ersten Mal kann ich meine Sexualität unbeschwert geniessen.» Ein wildes Wochenende in Barcelona? Ein spontanes Date nach Feierabend? Yanis kann endlich ausleben, was ihn reizt. Er ist überzeugt:

«Die psychologische Wirkung von Prep ist mindestens so wichtig wie die medizinische.»

Auf einschlägigen Facebookgruppen wird dieser Effekt von Prep ebenfalls hervorgehoben. Ein User schreibt zum Scherz: «Ich glaube, ich habe endlich das perfekte Antidepressivum gefunden!». Daneben ein Bild, das zwei Medikamentenschachteln nebeneinander zeigt. Links eine Packung Prozac, darüber steht «before». Rechts die Prep-Pillen, darüber «after».

Die präventive Wirkung von Truvada ist seit 2010 bekannt. Die Euphorie in der Szene ist gross. Trotzdem sollte es mehr als fünf Jahre dauern, bis sich im Januar 2016 die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG) zum Thema Prep äusserte.

In dieser «Empfehlung zur HIV Prä-Expositionsprophylaxe in der Schweiz» schlägt die EKSG vorsichtige Töne an. Prep sei nur «für begrenzte Zeiträume und nur für eine kleine Gruppe von Personen mit erheblichem HIV-Risiko» zu empfehlen. Es sei davon auszugehen, dass «nur bei einer Minderheit der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis vorliegt», nämlich bei denjenigen, die ein substantiell erhöhtes HIV-Risiko eingehen, etwa durch die Teilnahme an Sexpartys oder häufig wechselnde Geschlechtspartner.

Der Staat zögert, der Markt boomt

Die Kommission kommt deshalb zum Schluss, dass die Mittel zur HIV-Prävention weiterhin besser dort eingesetzt würden, wo es um Früherkennung und Therapie geht, als zur Finanzierung der teuren Prep. Die Erfahrungen mit dem Einsatz von HIV-Medikamenten zur Infektionsprophylaxe in der Schweiz seien mit einem geeigneten System «zu beobachten, zu dokumentieren und auszuwerten».

Besonders in England machen sich Aktivisten für eine breitere Anerkennung und staatliche Finanzierung von Prep stark.

Natürlich findet die abwartende Haltung der Schweizer Gesundheitsbehörden keinen Widerhall in der bestens vernetzten Community. Schwule Aktivisten tauschen sich über Grenzen hinweg aus, es gibt eigene Blogs und Onlinemagazine. Die verschiedenen Pride-Paraden im In- und Ausland sind beliebte Reiseziele und internationale Treffpunkte. Sobald Prep in den USA zum Thema wurde, wussten auch viele Schweizer Schwule Bescheid. Wird ein Wundermittel entdeckt, spricht sich das rum.

Soziale Medien trugen das Ihre dazu bei. «Truvada Whore», die ursprünglich abschätzige Bezeichnung für Prep-Nutzer, wurde von Prep-Aktivisten zum Hashtag umfunktioniert, auf T-Shirts und Transparente gedruckt.

Während also BAG und Schweizer Ärzteschaft abwarteten, entwickelte sich die Diskussion in der Szene rasant weiter. Wo der Staat schläft, entwickelt sich eine Schattenwirtschaft. Prep-Pillen wurden unter der Hand gedealt, gerade für die Kurzzeitnutzer. Denn auch das ist möglich: Prep für das Partywochenende in Berlin.

Die sogenannt intermittierende Anwendung (auch «event-based» oder «on-demand») funktioniert, wie eine grossangelegte Studie in Frankreich im Spätherbst 2014 zeigte. Dazu müssen spätestens zwei Stunden vor dem Sex zwei Tabletten aufs Mal, danach täglich eine eingenommen werden. Dies bis 48 Stunden nach dem letzten sexuellen Kontakt.

Für diesen Anwendungsfall dürfte die Nachfrage noch um einiges grösser sein als für die permanente Medikamentierung, weil sich damit die Gefahr von Nebenwirkungen weiter reduziert.

Prep – Nur in ärztlicher Begleitung eine gute Idee

Doch so simpel es klingt, event-based Prep ist riskant. Vor allem, wenn die Einnahme auf eigene Faust erfolgt. Denn unabhängig davon, wie regelmässig man die blaue Pille schlucke, sei die ärztliche Begleitung unabdingbar, erklärt Andreas Lehner von der Aidshilfe Schweiz. «Prep ist eine gute Sache, aber bevor jemand damit anfängt, muss er sich gründlich durchchecken lassen.»

Gefährlich wird es dann, wenn jemand Prep nimmt, der unwissentlich HIV-positiv ist. Nicht nur würde diese Person dadurch riskieren, weitere Menschen anzustecken, es steige auch die Gefahr von Truvada-resistenten HI-Viren, was schwerwiegende Folgen haben könnte. «Damit steht die Effektivität eines hochwirksamen Medikaments auf dem Spiel. Auch für die therapeutische Anwendung», mahnt Lehner. Es sei deshalb im Interesse der ganzen Community, Prep nur unter ärztlicher Aufsicht einzunehmen.

Es wäre also wünschenswert, dass die HIV-Präventionskampagnen neben dem Kondom auch über Prep informieren würden. Denn die Nebenwirkungen eines Zusammenspiels von Schattenwirtschaft und uninformierten Anwendern sind von weitaus grösserer Tragweite als diejenigen von Truvada.

Immerhin ist die Beschaffung von Prep in der Schweiz leichter geworden. Dies ist jedoch nicht auf entsprechende Bemühungen des Bundes zurückzuführen, sondern auf private Initiativen der internationalen Schwulen-Community. Die britische Website «iwantprepnow» führt eine ganze Liste vertrauenswürdiger Online-Shops, über die Prep zu erträglichen Preisen bestellt werden kann.

Eine Prep-Aktivistin bei einer Demo in England.

So bietet etwa Dynamix International einen Monatsvorrat des Truvada-Generikums Ricovir-EM für knapp 60 Dollar an. Ein Bruchteil der knapp 900 Franken, die das Originalpräparat hierzulande kostet. Seriöse Anbieter wie Dynamix verlangen von ihren Kunden ein Rezept, dieses kann einfach während des Bestellvorgangs hochgeladen werden.

Seit Ende März 2017 ist gemäss Swissmedic in der Schweiz das erste Generikum zugelassen (Emtricitabin-Tenofovir-Mepha). Es wird rund 280 Franken kosten. Tenofovir sei jedoch noch nicht auf dem Markt erhältlich, schreibt Swissmedic-Sprecherin Danièle Bersier.

Auch Sandoz soll an einem Generikum arbeiten, wann dieses eine Zulassung erhalten wird, ist jedoch noch nicht bekannt. Gilead, Lizenzinhaberin des Originalpräparates Truvada, ist bekannt dafür, Generika-Hersteller mit sämtlichen juristischen Mitteln auszubooten. So wurden zuletzt etwa in Irland und in Deutschland entsprechende Klagen eingereicht. Wegen seiner restriktiven Praxis wird der Pharmakonzern deswegen in der Szene auch «Kilead» genannt.

«Nichts für den Massenmarkt»

Private Parallelimporte bleiben also für Schweizer Prep-Anwender vorerst die einzige Möglichkeit, einigermassen günstig an ihre Pillen zu kommen. Swissmedic rät grundsätzlich davon ab, Arzneimittel aus «unbekannten Quellen im Internet» zu beziehen, «da auf diesem Weg häufig qualitativ schlechte und teilweise gefälschte Arzneimittel in die Schweiz gelangen.» Dennoch sei es möglich und legal, «kleinere Mengen für den Eigengebrauch» zu importieren.

«Das Kondom hat an Akzeptanz verloren»: Philip Tarr, Infektiologe am Bruderholzspital.

Philip Tarr ist Co-Chefarzt am Bruderholzspital, Infektiologe und HIV-Spezialist. Er ist kein Freund der verhaltenen Töne, die beim Bund in dieser Sache angeschlagen werden. In England und Frankreich werde Prep durch das staatliche Gesundheitssystem finanziert. «In der Schweiz wird befürchtet, dass sich Prep für die Krankenkassen zu einer teuren Sache entwickeln könnte.» Eine Angst, die Tarr für völlig übertrieben hält. «Prep ist nichts für den Massenmarkt, das zeigt die Praxis.»

Er gehörte in der Schweiz zu den ersten Ärzten, die sich mit Prep beschäftigten. «Als ich meinem Patienten Prep verschrieb, waren mir nur noch zwei andere Fälle hierzulande bekannt.» Dieser Patient ist bis heute sein einziger auf Prep. «Ich kenne niemanden, der mehr als drei, vier Prep-Patienten betreut», sagt Tarr. Die Zielgruppe besteht in seinen Augen aus Männern, die mehrmals pro Monat ungeschützten Analsex mit anderen Männern haben und dies womöglich mit wechselnden Partnern.

Was hält denn der Infektiologe vom Trend, beim Sex auf ein Kondom zu verzichten, in der schwulen Community «Bare Back» genannt? «Wir stellen schon länger fest, dass das Kondom an Akzeptanz verloren hat.» Dies zeige sich nicht zuletzt an den STI-Infektionszahlen, die nach der Jahrtausendwende wieder zugenommen haben.

Risiken und Nebenwirkungen

Besonders dramatisch ist der Anstieg bei der Gonorrhoe (Tripper), dieser betrug im Jahr 2015 mit fast 1900 Fällen satte 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Natürlich wäre das Kondom in der Theorie eine gleichermassen wirksame wie günstige Möglichkeit, sich vor Geschlechtskrankheiten und HIV zu schützen.

Doch Tarr hält Bare Back für eine Realität, die nicht wegzudiskutieren sei. «Mit Prep haben wir immerhin ein wirksames Präventionsinstrument für genau diese Fälle.» In einem Artikel für das «Swiss Medical Forum», einer Fachzeitschrift für Hausärzte, beschreibt Tarr Prep als eine

«wirksame Erweiterung der bestehenden Präventionsinstrumente. Sie ist darum so wertvoll, weil sie speziell jene Gruppen homosexueller Männer anspricht, die durch traditionelle Präventionsbotschaften nur schwer oder unzureichend erreichbar sind.»

Bleiben zwei Stichworte: Wirksamkeit und Nebenwirkungen.

Im gleichen Artikel schreibt Tarr auch:

«Bei motivierten MSM (regelmässige Medikamenteneinnahme) ist die Prep weit über 90 Prozent wirksam.»

Da Truvada bereits seit langem zur HIV-Therapie eingesetzt wird, sind dessen Nebenwirkungen gut erforscht. Besonders im Auge behalten sollten Prep-Nutzer deshalb ihre Nieren- und Leberwerte, ausserdem die Knochendichte. So können sich bei langjährigen Truvada-Patienten etwa eine Osteoporose bilden oder auch Nierenschäden entstehen.

Tarr hält die Gefahr von schweren Nebenwirkungen jedoch für überschaubar. «In der Regel verschlechtert sich beispielsweise die Knochendichte am Anfang tatsächlich, doch nach einem Jahr pendelt sich das ein.» Unbedingte Voraussetzung für eine Prep sei ohnehin die ärztliche Begleitung, die Regel seien vierteljährliche Check-ups. Darin werden die genannten Werte überprüft, ausserdem HIV- und STI-Tests durchgeführt.

«Prep-Patienten gehören zu den bestuntersuchten überhaupt, davon profitiert die sexuelle Gesundheit der ganzen schwulen Community», sagt Tarr. Denn würden Infektionen mit HIV und STI schnell bemerkt, hält sich auch das Risiko weiterer Ansteckungen in Grenzen. Die Kette wird durchbrochen.

Ein echter Fortschritt?

Wenn es jemanden gibt, der sich mit Nebenwirkungen von HIV-Medikamenten auskennt, dann Hans*. Wir treffen uns in einem Basler Gartencafé, lauschiger Nachmittag, hochpreisige Kaffeespezialitäten.

Hans ist ein Veteran aus der Anfangszeit der HIV-Epidemie. Er war in der Szene unterwegs, als im «Elle et Lui» fast im Wochentakt Stammgäste nicht mehr zum Feierabendbier auftauchten. Als «Todeslisten» geführt und im Spital die Betten von HIV-Patienten mit einem gelben Punkt markiert wurden. «Ich habe sicher etwa 100 Freunde und Bekannte an das Virus verloren. Auch ein Partner von mir ist daran gestorben.»

Hans hat Glück gehabt, er lebt noch. Und dies, obwohl er 1984 HIV-positiv getestet wurde. Doch was war das für ein Leben, fragt er sich manchmal. «Bei mir hat kaum ein Medikament angeschlagen und ich habe wirklich alles probiert.» Hans mailt mir eine Liste aller Medis, die er seit 1992 einnehmen musste. Es sind viele, sehr viele. Und Hans schreibt dazu, «es waren noch mehr, aber ich kann mich nicht an alle Namen erinnern.»

«Die Faustregel war: Ein Medikament zum Überleben, die anderen gegen die Nebenwirkungen.»

An ein besonders verheerendes Medikament erinnert sich Hans dafür umso besser. Er musste sich jeden Tag die Arznei selbst spritzen. An sieben verschiedenen Stellen am Körper, sodass er die Nadel täglich an einem anderen Ort ansetzen konnte. Sein ohnehin angeschlagenes Immunsystem kam mit den Einstichstellen nicht klar. An eine Verheilung der Wunden war nicht zu denken, stattdessen entzündeten sie sich, schwollen an. Es bildeten sich schmerzhafte Beulen. «Es war ekelhaft und ich völlig verzweifelt. Ich konnte das nicht mehr ertragen.»

Erst vor einigen Jahren hat auch Hans eine Therapie gefunden, die ihm ein einigermassen unbeschwertes Leben erlaubt. Zwar wird seine Virenlast wohl nie unter den Grenzwert fallen, ab dem er offiziell nicht mehr als ansteckend gilt. Aber die Zeit ist vorbei, als er vor lauter Nebenwirkungen die Lust am Leben verlor. Sich zuhause verkroch, einen Selbstmordversuch unternahm. Eine einsame, stigmatisierte Existenz voller Schuldgefühle führte, weil er sich fragte, ob am Ende er derjenige war, der seine Freunde ansteckte.

Mit diesen Erfahrungen im Gepäck hat Hans Mühe nachzuvollziehen, weshalb jemand freiwillig HIV-Medikamente einnehmen und damit das Risiko von Nebenwirkungen eingehen sollte. Nur um einen «Lifestyle» ausleben und ungeschützten, ausschweifenden Sex haben zu können. «Ich kenne Truvada, ich nehme es selbst. Aber nur, weil ich muss.»

Mit seinem langjährigen festen Partner benutzt Hans immer ein Kondom. Die Zeiten, als er auf Partys oder im Saunaclub rumzog, sind vorbei. «Heute interessiert mich das nicht mehr. Viel lieber gehe ich mit meinem Partner auf Kreuzfahrt», sagt er und schmunzelt, weil das so bieder klingt.

Viel zu diskutieren

Wir wechseln die Stadt und die Generation. Nicolas Cavalli, kurz Nico, steckt mitten in seiner wilden Phase. Er ist der Inbegriff eines jungen, urbanen schwulen Mannes. Typ griechischer Gott: athletische Figur, breite Schultern, Haar und Bart sitzen akkurat.

Als Nicolas Cavalli aus Zürich zum ersten Mal von Prep hörte, war er dagegen. Heute ist er ein Prep-Aktivist.

Heute lebt er in Zürich, geboren wurde er in Birsfelden, sein Dialekt trägt Spuren aus der Innerschweiz. Kennengelernt habe ich ihn über PlanetRomeo, eine Datingsite für Männer, die Sex mit Männern suchen. In seinem Profil stand «Neg on PrEP», HIV-negativ auf Prep.

Auch wenn Nico seit zehn Jahren in einer festen Partnerschaft lebt und vor zwei Jahren seinen Freund geheiratet hat, erlauben sich die beiden Männer sexuelle Abenteuer. Sie besuchen beispielsweise Sexpartys, manchmal gemeinsam, hin und wieder auch ohne den anderen. «Wir nennen es Voucher-System», sagt der 34-Jährige lachend. «Wenn er darf, darf ich auch. Und umgekehrt.»

Nico ist ein Konvertit. Als er zum ersten Mal von Prep gehört hat, war er strikte dagegen. Mit einem Freund diskutierte er stundenlang darüber, bis er feststellte, dass er moralisch argumentierte. Ja, sogar ein wenig eifersüchtig war auf die neu gewonnene Freiheit des Bekannten. «Bare Back ist halt schon geiler», sagt Nico.

Also begann er sich einzulesen. Als medizinischer Consultant lag ihm die Thematik nahe. Auch sein Mann kommt aus der Branche und nach mehrmonatiger Bedenkzeit entschlossen sich die beiden zum Selbstversuch.

«Wir nehmen es jetzt seit etwas mehr als einem halben Jahr», sagt Nico. Die Erfahrungen seien gut, der Sex entspannter. Prep zu nehmen, bedeute Selbstbestimmung beim Schutz vor HIV, aber auch, Verantwortung für sich selbst und den Partner zu tragen.

«Es ist doch so: Den Entscheid, diese Pille zu nehmen, fälle ich täglich bei bestem Bewusstsein. So bin ich safe, wenn die Umstände mal weniger klar, wenn Alkohol, Drogen oder unbändige Lust im Spiel sind.»

Nico kommt eben von seinem zweiten Vierteljahrescheck, seine Werte sind unauffällig. Die Pillen bestellt er bei einer Online-Apotheke in Swasiland, sie kommen meist in unter einer Woche bei ihm an und kosten rund 50 Franken pro Monat.

Trotz Prep benutzt Nico bei seinen sexuellen Ausflügen manchmal noch Kondome. «Ich kenne Leute auf Prep, die machen nur noch Bare Back. An Männern, die auf Kondomen bestehen, haben sie kein Interesse mehr. Soweit bin ich nicht. Vielleicht ändert sich dies jedoch in der Zukunft.»

Keine Angst vor anderen Geschlechtskrankheiten?

«Die Zunahme der Ansteckungen bei den STI hat mit dem Aufkommen von Prep nichts zu tun. Angefangen hat das ja bereits um die Jahrtausendwende, Prep gibts aber erst seit 2012», sagt Nico.

Ausserdem sei man auch mit Kondom nicht sicher vor diesen Geschlechtskrankheiten. Im Primärstadium einer Syphilisinfektion etwa laufe man schon Gefahr, sich beim Küssen anzustecken.

Es wird klar, Nico nimmt Prep, weil er seine Sexualität damit besser ausleben kann. Ein egozentrischer Hedonist ist er deswegen noch lange nicht. Die sexuelle Gesundheit der schwulen Community ist ihm wichtig. Nico beteiligt sich aktiv an der Aufklärung zum Thema. Er tritt an «Prep-Talks» auf, verbringt Stunden damit, im Chat Fragen zu beantworten. Zusammen mit den «Love Lazers», einer Aktivistengruppe aus Berlin, stellt er Aktionen auf die Beine und verfasst Infoflyer.

Nico will eine offene Diskussion über Prep, ohne Vorurteile, ohne moralischen Mahnfinger.

Auch für Heterosexuelle ein Thema

Auch wenn es selbst innerhalb der Schwulenszene zuweilen noch an Informationen mangelt, da und dort jemand auf Prep noch als «Truvada Whore» bezeichnet wird, ist die Diskussion doch bei den Leuten angekommen.

Ganz anders sieht es bei den Heteros aus. Vom Wundermittel Prep hat dort noch kaum jemand etwas gehört, das zeigten viele Gespräche, die ich während dieser Recherche geführt habe. Doch HIV ist kein Schwulenthema. 2015 haben sich knapp 220 Menschen über den sogenannt heterosexuellen Ansteckungsweg mit dem Virus infiziert. Das ist die Hälfte aller Neuansteckungen.

Offensichtlich steht es also auch bei heterosexuellen Menschen in Sachen Kondombenutzung nicht zum Besten. Einer im Auftrag der Aidshilfe Schweiz durchgeführten Studie zufolge wird gerade beim Gelegenheitssex oder beim Fremdgehen gerne auf den Gummi verzichtet. Vielleicht wäre es also an der Zeit, dass auch Heteros das Wundermittel aus der Schwulenszene entdecken.

Mehr zum Thema

https://tageswoche.ch/form/kommentar/wer-die-hiv-pille-nimmt-lebt-durchaus-eine-reflektierte-sexualitaet/
https://tageswoche.ch/gesellschaft/pille-gegen-hiv-soll-erschwinglich-werden/

*Name geändert

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