Der paranoide Techniker im Maschinenraum des kulturellen Gedächtnisses

Wenn alles klappt, wird Basel ab 2017 zum zentralen Speicherort für geisteswissenschaftliche Forschung. Die Verantwortung für alle diese Daten trägt dann ein Mann: Lukas Rosenthaler.

Lukas Rosenthaler, DHLab

(Bild: Nils Fisch)

Wenn alles klappt, wird Basel ab 2017 zum zentralen Speicherort für geisteswissenschaftliche Forschung. Die Verantwortung für alle diese Daten trägt dann ein Mann: Lukas Rosenthaler.



Lukas Rosenthaler, DHLab

«Der digitale Archivar ist ein Paranoiker, der stets vom Schlimmsten ausgeht», sagt Lukas Rosenthaler, Leiter des Digital Humanities Lab an der Uni Basel. (Bild: Nils Fisch)

Manchmal wacht Lukas Rosenthaler mitten in der Nacht auf, schweissgebadet, mit flatternden Nerven. An Schlaf ist dann nicht mehr zu denken. Also schwingt er sich auf sein Fahrrad und pedalt bei Dunkelheit, bei Schnee und Sturm, in sein Büro. Dort rattert und blinkt der Grund seiner Aufregung. Hoffentlich. Wenn nicht, hat Rosenthaler ein Problem. 

Rosenthaler ist Professor an der Universität Basel, wo er dem sogenannten Digital Humanities Lab (DHLab) vorsteht. Der 55-Jährige hat sich der Archivierung geisteswissenschaftlicher Daten verschrieben; historische Bilder, Handschriften, Filme, komplexe Forschungsdatenbanken. Auf seinem Server im Bernoullianum lagern Millionen von Bytes, die ihm von Wissenschaftlern und Hochschulen anvertraut wurden.

Bei manchen dieser digitalisierten Objekte ist das Original längst verloren, oder es ist derart fragil geworden, dass die Forscher nicht mehr damit arbeiten können. Diese Verantwortung lastet schwer. Die Verlustangst ist des Sammlers treueste Begleiterin. Oder wie Rosenthaler sagt:

«Der digitale Archivar ist ein Paranoiker, der stets vom Schlimmsten ausgeht.»

Und doch will er mehr. Mehr Bytes, mehr Verantwortung, mehr Bundesgelder. Er will, dass das DHLab zur zentralen Sammel- und Speicherstelle wird für sämtliche geisteswissenschaftlichen Forschungsdaten, die Schweizer Hochschulen produzieren.

Rosenthaler will, dass sein Serverraum zum kulturellen Gedächtnis der Schweiz wird. Das Projekt mit dem sperrigen Namen «Data and Service Center for the Humanities (DaSCH)» liegt derzeit beim Parlament in Bern. «Wenn es die Räte unbeschadet übersteht, können wir ab 2017 loslegen», sagt er, «hoffentlich.»

Das Ziel ist gross, das Budget bescheiden. Von den ursprünglich angefragten zwei Millionen Franken hat Rosenthaler noch knapp 800’000 in Aussicht. So viel lassen sich Bund und Uni Basel die Ewigkeit kosten. Denn nichts weniger ist der Anspruch.

Wenn eine Historikerin heute die sozialen Verbindungen von Basler Persönlichkeiten im 15. Jahrhundert erforscht, sollen ihre Befunde auch in 400 Jahren weiterhin lesbar und wissenschaftlich verwendbar sein. Wenn ein Medienwissenschaftler heute einen Text mit Randnotizen versieht, sollen seine Gedanken auch im Jahre 2700 noch nachvollzogen werden können.



Mit dieser Apparatur lassen sich Objekte und Bilder dreidimensional fotografieren. So kann etwa die Materialität einer Textilie oder das Lichtspiel auf einer Mosaik eingefangen werden.

Mit dieser Apparatur lassen sich Objekte und Bilder dreidimensional fotografieren. So kann etwa die Materialität einer Textilie oder das Lichtspiel auf einem Mosaik eingefangen werden. Rosenthaler und sein Stellvertreter Peter Fornaro verbringen viel Zeit im Fotolabor. (Bild: Nils Fisch)

Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, stehen Rosenthaler neben einem interdisziplinären Mitarbeiterteam ein Serverraum, ein Keller voll digitalem und analogem Fotoequipment und eine riesige Maschine zur Digitalisierung von Fotos, Bildern und anderen Medien zur Verfügung.

Im DHLab wurde bereits einiges an Vorarbeit geleistet. So haben die Forscher zum Beispiel herausgefunden, dass sich der ganz und gar analoge Mikrofilm zur nachhaltigen Speicherung digitaler Daten am besten eignet.

Modernere Datenträger wie Magnetplatten oder DVD kommen nicht infrage, weil sie an eine bestimmte Technologie geknüpft sind. Wer besitzt denn heute zum Beispiel noch ein Diskettenlaufwerk? Die Mikrofilme werden im DHLab mit Mustern bedruckt, die jede Digitalkamera oder jeder Scanner lesen kann. Eine Software wandelt diese Muster in die ursprünglichen Daten um.

Mit der Speicherung alleine ist jedoch noch nichts gewonnen. «Digitale Daten bestehen auf unterster Ebene aus Nullen und Einsen, wer auch immer sie liest, muss wissen, worum es sich dabei handelt», sagt Rosenthaler. Geht diese Metainformation verloren, werden die Daten unbrauchbar. Eine Erfahrung, die selbst die US-Raumfahrtbehörde Nasa schon machen musste. Aus diesem Grund werden die Mikrofilme im DHLab mit einem kleinen, menschenlesbaren Text versehen, der dem Leser erklärt, worum es sich bei den gespeicherten Daten handelt.

Das sieht dann so aus:



Lukas Rosenthaler, DHLab

Die «Mona Lisa», sicher gespeichert für die nächsten 500 Jahre. Die grauen Flächen rechts stellen die Bilddaten dar, der Text links die menschenlesbare Beschreibung. (Bild: Nils Fisch)

Für seine Forschungsarbeit wurde Rosenthaler zusammen mit seinem Vorgänger beim DHLab mit dem Basler Wissenschaftspreis geehrt. Regierungspräsident Guy Morin verdankte in seiner Laudatio im Herbst 2013 den Beitrag der beiden Wissenschaftler zum Erhalt der Kulturgüter. Überhaupt hat das DHLab eine interessante Geschichte. So war das Institut ursprünglich bei den Naturwissenschaften angegliedert und für die Erforschung der wissenschaftlichen Fotografie zuständig.

Diese Vergangenheit zeigt sich auch in Rosenthalers Lebenslauf. Obwohl er sich heute um die Digitalisierung und Archivierung von historischen Dokumenten und Bildern bemüht, ist er ursprünglich Physiker. Ein Flair für die Geisteswissenschaften hatte er jedoch schon immer. «Um ein Haar hätte ich statt Physik Geschichte studiert, heute kann ich mich mit beiden Gebieten auseinandersetzen», sagt Rosenthaler.

Eine Digicam, die pro Aufnahme zwei Stunden braucht

Das damalige Institut für wissenschaftliche Fotografie investierte relativ früh viel Geld in eine Digitalkamera. Mit den heutigen, komfortabel im Mobiltelefon versorgten Mini-Kameras hatte dieses Ungetüm wenig zu tun. «Wir mussten sämtliche Treiber und Software für das Gerät selbst programmieren. Eine Aufnahme dauerte zwischen zwei und drei Stunden», erzählt Rosenthaler. Doch die Experimentierlust war bald erfolgreich. So gelang es den Foto-Tüftlern um Rosenthaler etwa, verblichene Fotografien am Computer zu restaurieren.

Die Geisteswissenschaftler wurden auf die neuen Möglichkeiten aufmerksam. Tat sich doch etwa den Historikern auf einen Schlag eine ganze Bandbreite neuer Quellen auf. Bilder, zuvor eine logistisch eher schwer handhabbare Quelle, waren plötzlich frei verfügbar. Es sei denn auch die Idee der Historiker gewesen, das Institut bei den Geisteswissenschaften anzugliedern, sagt Rosenthaler. Was dann 2001 zur Gründung des DHLab geführt hat. 

Erst durch die Auswahl werden Daten wertvoll. Erst durch das Vergessen gewinnt die Erinnerung an Wert.

Die Erfahrungen mit digitaler Fotografie und deren Archivierung hinterlassen ihre Spuren auch in Rosenthalers Privatleben. Zwar speichert er, wie wohl die meisten, seine Ferienfotos auf dem Computer. Doch nach einer besonders gelungenen Ferienreise zwingt er sich, diese Unmenge Bilder zumindest einmal komplett zu sichten.

«Wir nehmen zu Hause eine strenge Selektion vor und wählen aus den vielleicht 2000 bis 3000 Bildern die fünfzig schönsten Fotos aus.» Diese Auswahl werde dann ausgedruckt und in einem Fotobuch gesammelt. «Das sind die Bilder, die wir auch in 20 Jahren noch anschauen und herumzeigen werden», sagt Rosenthaler. Während die Fotos auf der Festplatte zwar gespeichert, doch trotzdem vergessen sind.

Rosenthaler fragt seine Studenten regelmässig, ob sie noch Babyfotos von sich selbst haben. Die meisten würden die Frage bejahen. Doch bei künftigen Generationen könnte dies nicht mehr so sein, befürchtet Rosenthaler. «Wir laden zwar heute täglich Fotos auf Facebook, doch ausserhalb des digitalen Nirwanas existieren diese Bilder kaum noch.» Er mache sich ernsthaft Sorgen, dass wir dadurch unsere gesamte Vergangenheit verlieren könnten.

«Wir laden zwar heute täglich Fotos auf Facebook, doch ausserhalb des digitalen Nirwanas existieren diese Bilder kaum noch.»
Lukas Rosenthaler 

Die grösste Herausforderung des Archivierens liegt denn auch nicht im Aufbewahren. Im Gegenteil: Erst durch die Auswahl werden Daten wertvoll. Erst durch das Vergessen gewinnt die Erinnerung an Wert.

Beim DaSCH soll die Selektion denn auch nicht durch Rosenthaler, sondern durch ein eigens bestelltes, interdisziplinäres Gremium geschehen. Im Maschinenraum des kulturellen Gedächtnisses will Rosenthaler Techniker sein, nicht Steuermann. Auch so wiege die Verantwortung schon schwer genug, sagt er. Wenig überraschend gibt es bei den Wissenschaftlern an anderen Hochschulen denn auch Vorbehalte gegen die Zentralisierung aller Daten in Basel.

Doch dank ihrem Wissensvorsprung sind Rosenthaler und sein Stellvertreter Peter Fornaro in einer guten Position, dereinst in Sachen digitaler Archivierung schweizweit den Ton anzugeben. «Bereits heute knüpft der Schweizerische Nationalfonds (SNF) seine Forschungsgelder an die Bedingung, dass ein Konzept für die digitale Nachhaltigkeit der Daten vorliegt», sagt Rosenthaler. Und wenn ab 2017 das DaSCH in Basel seinen Betrieb aufgenommen hat, wird es schweizweit wohl kaum eine bessere Alternative geben.

Wenn Rosenthaler mal nach einer Pause ist, wenn er sich für einige Stunden nicht den Kopf zerbrechen will über die Ewigkeit, das Vergessen und die kulturellen Schätze, die auf seinem Server lagern, dann setzt er sich mit Led-Zeppelin-Shirt, Cowboyhut und Sonnenbrille an seine Hammond-Orgel. Ein Ungetüm von einem Instrument, 50 Jahre alt, 200 Kilogramm schwer, voll analog. Zusammen mit seiner Band spielt er Hardrock, seit den 1980er-Jahren. Am liebsten ohne Noten. Improvisiert, aus dem Moment heraus, flüchtig.



Lukas Rosenthaler, DHLab

Sie werden ab 2017 im Maschinenraum des kulturellen Gedächtnisses an den Hebeln sitzen: Peter Fornaro und Lukas Rosenthaler. (Bild: Nils Fisch)

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