Der Ire Dr. Jonathan Swift verfasste 1729 sein berühmtes Pamphlet «A modest Proposal» («Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen»). Swift plädierte ganz trocken und rational dafür, 100’000 irische Kinder pro Jahr zu verkaufen. Zum Verzehr, versteht sich. Schliesslich herrschte grosse Hungersnot in Irland. Swift:
«Den Müttern muss man hierbei die Anweisung geben, das Kind im letzten Monat reichlich zu säugen, um es fleischig und fett für einen guten Tisch zu machen. Ein Kind kann bei einer Bewirtung von Freunden zwei Gerichte bilden: speist die Familie allein, so wird das Vor- oder Hinterviertel eine gute Schüssel abgeben und, mit Pfeffer und Salz gewürzt, sich noch am vierten Tage, besonders während des Winters, gut kochen lassen.»
Dass Swift trotz bissiger Satiren wie dieser bis ans Ende seiner Tage ein berühmter und geschätzter Gelehrter, Schriftsteller und Priester der Kathedrale von Dublin bleiben konnte, war nun nicht gerade eine Selbstverständlichkeit. Die berüchtigten «Drapier Letters», die Swift vor dem «Proposal» unter dem Pseudonym «Mr. Drapier» veröffentlichte, führten unter anderem zur Verhaftung eines Druckers und zum Aufruf der Regierung, man möge den Drapier outen. Es wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt.
Doch die Öffentlichkeit stand fest auf Swifts Seite. Niemand verriet ihn.
Vergangen oder nicht?
Solche Versteckspiele mit falschen Namen gehören zum Glück der Vergangenheit an. Längst können sich Intellektuelle und Geisteswissenschaftler öffentlich auch mal provokant, satirisch und politisch äussern, ohne um ihre Stelle fürchten zu müssen. Das hat inzwischen eine lange Tradition. Es gehört zu einer aufgeklärten und freien demokratischen Gesellschaft.
Oder etwa doch nicht? Auf einmal heisst die Frage nicht mehr bloss: «Was darf Satire?», sondern: «Wer darf Satire?»
Wissenschaftler offenbar nicht. Jedenfalls nicht für Philipp Gut, Stv. Chefredaktor der «Weltwoche», der sich schon länger an kritischen Historikern der Plattform «Geschichte der Gegenwart» abarbeitet. Dass er mit seinen Attacken vor Gericht vor allem Niederlagen einfährt (drei Mal wurde der «Weltwoche»-Vize innert eines Jahres verurteilt), scheint ihn nicht von seinem Tun abzubringen.
Fünf Tage lang verpuffte der Angriff der «Weltwoche» ohne Wirkung. Dann leistete die «Basler Zeitung» Schützenhilfe.
In Franziska Schutzbach, Soziologin, Genderforscherin und «Geschichte der Gegenwart»-Mitherausgeberin, hat Gut eine neue Projektionsfläche für seine Gedanken gefunden. Nach der Lektüre eines mittlerweile berühmten Blog-Eintrags vom Mai 2016 legte er los.
Und zwar so: «Niemand führt uns den Bankrott des liberalen Denkens und die Geringschätzung demokratischer Institutionen so plastisch vor Augen wie … Franziska Schutzbach». Ihr Text würde «an den Nazi-Slogan ‹Kauft nicht bei Juden› erinnern».
Hat Gut die unliebsame Kritikerin einmal als Faschistin abgestempelt, dann stellt er im nächsten Schritt ihre Anstellung infrage: «Ist es zulässig, dass Professoren und Dozenten – Schutzbach lehrt an der Uni Basel – sich derart rabiat gegen die freie Meinungsäusserung und die Demokratie stellen?»
Der Nachschlag
Fünf Tage lang verpuffte der Angriff ohne Wirkung. Dann leistete die «Basler Zeitung» Schützenhilfe. Unter dem Titel «Sprechverbot für Politiker: Basler Dozentin fordert radikale Massnahmen gegen Rechte» erzählte die BaZ die Geschichte der «Weltwoche» noch einmal, aber in doppelter Länge. Franziska Schutzbach habe «Mühe mit dem politischen Wandel in der Welt», behauptet die BaZ, sie präsentiere mit ihrem «Essay» eine passende «Lösung».
Neu am Artikel ist höchstens, dass er sich ausufernd mit der Gender-Thematik beschäftigt. Ohne jedoch zu beschreiben, was die Gender-Wissenschaft ausmacht. Ohne darauf einzugehen, warum Franziska Schutzbach gerne Antifeministen anstachelt. Obwohl sie das gut erklären kann.
Ansonsten sind die Vorwürfe dieselben. Und wiederum stellt die Zeitung die Frage, ob Franziska Schutzbach das denn dürfe, mit dem Beruf. Und fragt bei der Uni an. Antwort Uni Basel: «Frau Schutzbach äussert sich in ihrem Blog als Privatperson. Mitgliedern der Universität Basel steht es frei, ihre Meinung an solchen Orten zu äussern.»
Als wäre die Frage damit nicht geklärt, prangt neben dem Artikel die «Frage des Tages» zum Klicken: «Ist Dozentin Franziska Schutzbach für die Universität Basel noch tragbar?»
Die Autorin
Im «Weltwoche»-Artikel fehlt die Stimme der Autorin trotz massiver Vorwürfe ganz. Im BaZ-Artikel vom 15. November darf Franziska Schutzbach ganze drei Sätze sagen.
«Ich lese die komplett verzerrte Analyse meiner Gedanken – und meine ausführliche Antwort fehlt einfach», sagt Schutzbach zur «TagesWoche». Schon am Dienstag, am Tag vor der Publikation des BaZ-Artikels, habe sie die Fragen der Zeitung ausführlich beantwortet. Doch die BaZ habe diese nicht in den Text einbezogen.
«Wer meine Texte kennt, weiss genau, wie er das lesen muss», sagt Franziska Schutzbach.
Gemäss der Autorin hätte der Inhalt mit ihren Antworten «gar nicht mehr funktioniert». Schutzbach: «Aus meinen Antworten wurden drei Sätze herausgepickt. Damit war ich nicht einverstanden, ich habe die Sätze zurückgezogen.»
Am Donnerstag veröffentlichte die BaZ die ganze Antwort dann doch – so suggeriere man eine «Replik». Schutzbach dazu: «Da hätten sie mich nochmal fragen müssen. Nicht, weil ich ein Problem habe mit meiner Antwort. Aber nach dem Artikel hätte ich anders geantwortet», sagt die Dozentin. «Oder geschwiegen. Die Meinung der Zeitung war ja schon immer gemacht.»
Die Verdrehung
Hat Franziska Schutzbach auf ihrem Blog mit dem verfänglich doppeldeutigen Titel «Präzis und Kopflos» denn tatsächlich ernsthaft gefordert, den Rechten das Fliegen zu verbieten?
«Natürlich! Und ich habe auch ‹Beim nächsten Mal trinken wir Menstruationsblut› total unironisch gemeint. Nein!», antwortet sie.
Sie habe das in ihrem «typischen, ironischen, auch satirischen Stil» verfasst. «Wer meine Texte kennt, weiss genau, wie er das lesen muss.» Sie arbeite nun mal gerne mit lustigen und übertriebenen Bildern in ihren privaten Texten.
Beim Durchlesen erstaunt die Aufregung umso mehr: Es ist ein klares, explizit festgehaltenes «Was wäre wenn», ein «utopisches Gedankenspiel», wenn Parlamentarier «als Individuen» und Firmen aus Verantwortung sich den «reaktionären Kräften» mit «zivilem Ungehorsam» in den Weg stellen.
Der gemeine Schutzbach-Kritiker: Er erfüllt beim Schreiben einige der Tatbestände, die er von seinem Opfer behauptet.
Ebendiese Kräfte scheinen derart getroffen, dass sie mit voller Kraft gegen die Autorin anschreiben. So weit gehen, sie in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken. Ihr Demokratieunvermögen attestieren.
«Es ist eine Schmutzkampagne», sagt Franziska Schutzbach. «Gegen meine Person, gegen meine professionelle Reputation. Man trennt ja nicht einmal private Gedankenspielereien und professionelle Forschungsarbeit», sagt die Wissenschaftlerin.
Eine Schmutzkampagne, deren Autoren sich selbst entlarven. «Die Systematik, die da im Spiel ist, ist längst bekannt: Linke und sozialliberale Positionen bezeichnet man ganz einfach als Antidemokraten, als Faschisten», sagt Schutzbach. Gleichzeitig – und ohne sich der Ironie bewusst zu sein – wollen beide Autoren, dass die Frau schweigen soll, die da frei und zugespitzt ihre Meinung kundtut (niemand muss sie teilen). Dazu fragen beide Autoren beim Arbeitgeber – die BaZ auch beim Publikum – nach, ob Schutzbach noch tragbar sei.
Der gemeine Schutzbach-Kritiker: Er erfüllt beim Schreiben einige der Tatbestände, die er von seinem Opfer behauptet.
Schutzbach lässt sich nicht beeindrucken. Sagt aber, sie sei froh, dass die Uni Basel ihr den Rücken freihalte. Würde sie es heute wieder so schreiben? «Das war im Mai 2016. Eher schnell hingeschrieben. Ich habe mich relativ früh, noch vor Trump, mit dem autoritären Rutsch beschäftigt», antwortet sie. Und fügt an: «Heute würde ich wohl eine explizitere Satire, ohne angezogene Handbremse schreiben. Oder einen todernsten Text. Kein Zwischendrin.»
Zur Strategie der «Verkehrungen ins Gegenteil» der Reaktionären Rechten gibt es bei «Geschichte der Gegenwart» einen lesenswerten Beitrag.