«Er las immer ‹Agamemnon› statt ‹angenommen›, so sehr hatte er den Homer gelesen», lautet ein Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Solche «Leseprobleme», die wohl schon im 18. Jahrhundert untypisch gewesen sind, könnten als Indiz für humanistische Bildung herangezogen werden. Aber das ist unwahrscheinlich. Vielmehr hat man sich daran gewöhnt, Bildung mit Bildungsabschluss gleichzusetzen.
Zurzeit erreichen in der Schweiz rund 38 Prozent einen Maturitätsabschluss (gymnasiale Maturität, Fachmaturität und Berufsmaturität zusammengefasst) – im Kanton Basel-Stadt sind es 44,8 Prozent. Dabei weisen die jungen Frauen gegenüber den jungen Männern in allen Kantonen und allen Maturitätstypen einen deutlichen Vorsprung auf. Wie diese Zahlen und Quoten zu bewerten sind, ist – teilweise heftig – umstritten. Wahrscheinlich ist der Streit aber sinnlos. Jedenfalls kann er nicht mit Argumenten oder wissenschaftlichen Befunden zur Wirkung quantitativer Veränderungen im Bildungssystem beigelegt werden.
Wer sich auf die Tradition des humanistischen Gymnasiums beruft – gerade in Basel, das sich schon im 15. und 16. Jahrhundert zu einer der kulturellen Hauptstädte in Europa zählen durfte –, wird einen Abschluss im Rahmen des humanistischen Gymnasialzweigs, der immer noch auf dem Sockel der klassischen Sprachen (Latein, Altgriechisch) steht, vielleicht nicht mit einer Berufsmaturität gleichsetzen wollen.
«Wahre» Bildung wird in bildungsbürgerlichen Kreisen – die allerdings sehr schnell altern und vom Aussterben bedroht sind – immer noch mit humanistischer Bildung gleichgesetzt. Gemäss dieser ist der «grösste» Bildungsgehalt in den Sprachen (heute auch den modernen Sprachen), der Philosophie, in den Künsten und der Geschichte zu erwarten.
Kein Latein? Bildungslücke! Mit Physik auf Kriegsfuss? Sympathisch
Hat jemand in seiner schulischen Karriere keinen Lateinunterricht absolviert, so galt das bis vor Kurzem als Bildungslücke, die man vielleicht kaschieren wollte. Für sogenannte humanistische Fachinhalte gilt das noch heute, während man locker-freimütig erklären kann, man habe mit Mathematik und Physik schon immer auf Kriegsfuss gestanden. Denn es darf erwartet werden, dass mathematische Untauglichkeit und Desinteresse an Physik sozial nicht als Bildungslücke gewertet werden, sondern vielmehr als Indizien dafür, man werde als «sympathischer Typ» wahrgenommen.
Tatsächlich sind alle Menschen voller Bildungslücken. Meist handelt es sich sogar um offen klaffende Kulturlöcher.
Aus dieser scheinbar kulturell gebildeten Perspektive wirkt beispielsweise Kunstgeschichte eindeutig sympathischer als Chemie und diese immer noch sympathischer als etwa Betriebswirtschaft. Was man aber von Polymechanikern halten soll oder von Menschen, die einen Abschluss in Facility Management vorzuweisen haben, bleibt im liberal-humanistischen Milieu zunächst einfach nur rätselhaft …
Tatsächlich sind alle Menschen – ausnahmslos – voller Bildungslücken. Diese sind sogar so gross, dass das Wort Lücke einen Euphemismus darstellt, handelt es sich doch meist um offen klaffende Kulturlöcher. Im günstigen Fall geht damit ein Bewusstsein für das eigene Nichtwissen einher, das dann wie ein Universum stetig zu expandieren beginnt.
Wer sich dies eingesteht, hat etwas begriffen und könnte auf dem Weg der Bildung sein. Wer aber so stolz auf seine kleinen kulturellen Einblicke und Wissensklötzchen ist, dass er meint, sich von seinen Nebenmenschen damit abheben zu müssen, befindet sich wohl eher in einer Sackgasse seiner Entwicklung. Sein eitles Selbstverständnis wird ihn dauerhaft davon abhalten, sich dem Wunder des Lernens und vor allem der Mühe des Umlernens und Neudenkens zu öffnen.
Das Gegeneinandersetzen von «hoher» Kultur und «blosser» Zivilisation hat eine lange bildungsbürgerliche Tradition, die historisch mit einer Unterschätzung und mitunter Geringschätzung des Bildungswertes von Technik, Ökonomie und Politik einhergegangen ist. Doch bekanntlich hat das humanistisch geschulte und in einer apolitischen Bubble abgeschottete Bildungsbürgertum die schlimmste Barbarei der Geschichte – ausgehend vom Land der Dichter und Denker – nicht im Geringsten verhindern können.
Das könnte bis heute Anlass genug sein, um die formale Bildung – also die institutionell erworbenen Bildungsabschlüsse – in ihrer Bedeutung für das menschliche Zusammenleben nicht zu überschätzen.
Es wird mehr gedacht, als man denkt
In der Bildung geht es weniger darum, was das Leben und die Welt aus dem Menschen gemacht haben und machen. Vielmehr geht es darum, was er aus dem macht, was das Leben und die Welt aus ihm gemacht haben und noch machen. Das hat mit Nachdenken zu tun. Nachdenken kommt immer erst spät, daher heisst es Nach-Denken. Nachdenken ist eine Praxis, das heisst, man kann es tun oder lassen.
Denken hat mit Intelligenz oder formalen Bildungsabschlüssen überhaupt nichts zu tun. Es ist abwegig zu glauben, dass im Gymnasium oder in der Universität mehr nachgedacht werde als etwa in der Mechanikerlehre oder auf dem Bauernbetrieb. Denken ist unsichtbar, und wohl hatte der Philosoph Helmuth Plessner mit seiner Formulierung recht, wonach mehr gedacht wird, als man denkt.
Dass Schule immer auch Denkschule sei, ist ein verbreiteter Irrtum.
Dennoch: Manche Menschen sind intelligent, scheinen aber nicht oder kaum über ihr Leben und Tun nachzudenken. Andere sind vielleicht wenig intelligent, denken hingegen über sich und die Welt nach. Zum Nachdenken regen meist die Anderen an und oft gelingt das nur auf störende Art und Weise. Häufig sind es zu lösende Probleme, die uns zu denken Anlass geben. Dass Schule immer auch Denkschule sei, ist hingegen ein verbreiteter Irrtum.
Denken kann man nur allein, es ist gewissermassen ein einsames Geschäft, denn es führt aus der Erscheinungswelt fort (und man gehört dann kurz oder lang nicht mehr dazu). Meistens ist denken auch nicht produktiv. Zu seinem eigenartigen Wesen gehört, dass das Unsichtbare verschwindet, wenn man zu denken aufhört, wie Hannah Arendt meinte. Da dies nicht weiter schlimm erscheint, wird das Denken gerade in den täglichen Routinen der institutionellen Bildungspraxis, auch auf der Gymnasialstufe, von den meisten gar nicht vermisst. Das Gegenteil wird zwar immer wieder behauptet, aber zu trauen ist solchen Äusserungen meist nicht.
Die gymnasiale Bildung steht für Allgemeinbildung. Diese setzt sich von der sogenannten besonderen oder speziellen Bildung – insbesondere der Berufsbildung – ab. Die institutionelle Trennung und die damit verbundene gesellschaftlich unterschiedliche Gewichtung der Abschlüsse sind aus einer demokratietheoretischen Perspektive kritisch zu betrachten. Auch aus bildungstheoretischer Perspektive ist diese Unterscheidung letztlich problematisch.
Neben der Allgemeinbildung und der besonderen Bildung gibt es aber die sie verbindende allgemeine Menschenbildung. Allgemeinbildung ist nicht automatisch allgemeine Menschenbildung, und Berufsbildung ist nicht und nie von allgemeiner Menschenbildung abgetrennt.
Der britische Philosoph Alfred North Whitehead hat die Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Bildung schon vor über 100 Jahren kritisiert:
Es gibt nicht ein Studium, das ausschliesslich allgemeine Kultiviertheit vermittelt, und ein anderes, das Spezialwissen vermittelt. Die Fächer, denen man um einer Allgemeinbildung nachgeht, sind spezielle Fächer, die speziell studiert werden. Und andererseits besteht einer der Wege, allgemeine geistige Aktivität zu bestärken, darin, eine spezielle Hingabe zu fördern. (Whitehead 1912/2012, S. 51f.).
Die Trennung von allgemeiner Bildung und spezieller Bildung ist analytisch sinnvoll, sie dient dem Verständnis von Lernen und Bildung. Doch das heisst nicht, dass Allgemeinbildung und Spezialbildung inhaltlich klar zu unterscheiden wären. Es ergibt wenig Sinn zu behaupten, das Wissen, welches die Hauptstadt von Italien sei oder wie die Könige im alten Ägypten genannt wurden, gehöre zur Allgemeinbildung, während etwa die Fragen, was ein Kniehebelverschluss sei, wie eine Kardanwelle funktioniere oder wozu man Polyethersulfon verwenden könne, besondere Wissenstypen beträfen.
Entscheidend ist nicht der Beruf, sondern der Sinn darin
Im Kanton Glarus besuchen nur knapp 10 Prozent der Jugendlichen das Gymnasium, in St. Gallen bloss 12,5 Prozent. In anderen Kantonen, vor allem in der Romandie und im Tessin – aber auch in Basel-Stadt –, sind es viel mehr. Wahrscheinlich denken die Glarner und St. Galler zu wenig nach, oder die Basler und Neuenburger sind einfach intelligenter als der Rest. An der Zürcher Goldküste besucht weit mehr als die Hälfte aller Jugendlichen das Gymnasium. Das dürfte ein Indiz dafür sein, wie positiv sich der Einfallswinkel der Sonnenbestrahlung auf die Intelligenz- und Begabungsentwicklung der privilegierten Kinder an diesem Seeufer auswirkt. Goldig.
Maturität mit Maturität gleichzusetzen, ist vor allem eine politisch-korrekte und kontra-faktische Unterstellungshaltung.
Interessanterweise werden die vehementen kantonalen Unterschiede in der bildungspolitischen Öffentlichkeit kaum als rechtfertigungswürdig diskutiert bzw. überhaupt als «ungerecht» betrachtet. Alle lieben halt ihren Kanton und sind zufrieden mit dem, was sie haben. Das ist möglicherweise ein Indiz für wahre Bildung.
Die Unterschiede der schulischen Leistungen in einem Fach variieren aber auch innerhalb der Gymnasialstufe zwischen den Kantonen massiv. Maturität mit Maturität gleichzusetzen, ist also vor allem eine politisch-korrekte und kontra-faktische Unterstellungshaltung. Gebildet halt. Vielleicht wirklich gebildet. Offenbar haben diese Unterschiede im beruflichen und ausserberuflichen Lebenslauf der allermeisten dann nicht derart störende Auswirkungen, dass sie ihre Bildungskarrieren im Nachhinein als ungerecht empfinden.
Ob ein Mensch über Stunden, Tage und Jahre am Schreibtisch sitzen, an der Hobelbank oder hinter einem Schalter einer Behörde stehen wird, hat viel mit der institutionellen Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung zu tun. Ob er aber in seinem Tun auch Sinn finden kann, ist eine Wirkung der anderen Bildung, seiner allgemeinen Menschenbildung. Am Ende entscheidet diese andere – völlig unterschätzte – Bildung über den kulturellen Zustand einer Gesellschaft.