«Meine Mutter schämte sich» – Knackeboul über Kürzungen in der Sozialhilfe

Wer Unterstützung vom Staat braucht, ist kein fauler Sack. Unser Kolumnist schreibt an Mitbürger, die bei den Ärmsten sparen wollen.

«Selber schuld.» Wer sich und seine Familie nicht selber durchbringt, trägt das Stigma des Versagers. (Bild: Getty Images (Symbolbild); Montage Nils Fisch)

Während die Schweiz sich überlegt, Kampfjets für acht Milliarden Franken zu kaufen und immer wieder millionenschwere Steuergeschenke an Superreiche und Grosskonzerne verteilt, wird gleichzeitig kräftig gespart bei den Ärmsten im Land.

In Zürich wurde neulich per Volksabstimmung das Sozialhilfegesetz zulasten von vorläufig aufgenommenen Ausländern verschlechtert. Auch Basel kürzt die entsprechenden Leistungen, wenn auch weniger drastisch. Soweit betrifft es «nur» Ausländer. In Bern hingegen kommen alle Sozialhilfeempfänger dran. Ihnen will Regierungsrat Pierre Alain Schnegg von der SVP die jetzt schon geringen Zahlungen um zehn Prozent kürzen.

Ich kenn mich mit den Kämpfen eines Sozialhilfeempfängers aus. Ich war selbst mal einer.

Seit ich denken kann, wird die Sozialhilfe immer wieder von rechts angegriffen. Ich halte sie neben der Bildung und einem gebührenfinanzierten Radio und Fernsehen für eine der wichtigsten Säulen unserer Demokratie. Ich äussere mich bekanntlich immer wieder zu politischen Themen, aber dieses hier geht mir besonders nah.

Ich kenn mich mit den Kämpfen eines Sozialhilfeempfängers aus. Ich war selbst mal einer. Deshalb hier ein Brief an den Schweizer Bürger, der so gerne «Zuerst den Menschen im eigenen Land helfen!» schreit, aber bei der Sozialhilfe sparen will:

Liebe Mitbürgerin, lieber Mitbürger

Lassen Sie mich meine Hauptkritik gleich am Anfang anbringen. Es geht um eine Annahme Ihrerseits, bei der ich hoffe, dass sie nur ein Denkfehler ist, sonst wäre sie nämlich der Hohn. Sie vertreten die Meinung, Leute würden nur Sozialhilfe beziehen, weil dies so attraktiv sei. Wieso sollte man arbeiten gehen, wenn man Geld für das Nichtstun kriegt?

Sie unterstellen damit Sozialhilfebezügern Faulheit und gleichzeitig Kalkül. Sie leiden unter dem Gölä-Syndrom, das sich äussert in Sätzen wie: «Wir fleissigen Büezer krampfen uns ab und diese faulen Säcke machen sich mit unserem Geld ein schönes Leben.» Fehlt nur noch: «Früher hat man sich noch geschämt, wenn man aufs Sozialamt musste.»

Für meine Mutter bedeutete es jedesmal eine Qual, aufs Sozialamt zu gehen.

Das meine ich mit Hohn. Denn ja, meine Mutter schämte sich wirklich, wenn sie aufs Sozialamt musste. Sie hat Tag und Nacht gearbeitet, um uns Kinder durchzubringen, und trotzdem hat es nicht gereicht. Sie hat geputzt, gebügelt, andere Kinder gehütet und später lange Schichten als Verkäuferin gestemmt.

Wir wohnten zu sechst zuerst in einer Viereinhalbzimmerwohnung und zogen später – von der Gemeinde verordnet – in eine Vierzimmerwohnung. Meine Mutter schlief im Wohnzimmer. Kleider kriegten wir aus der Kleidersammlung. Alle Kinder hatten in den Ferien Ferienjobs. Ausflüge, Skilager und manchmal sogar ein gefüllter Kühlschrank waren für meine Mutter eine Riesenherausforderung. Irgendwie hat sie es geschafft.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir Kinder waren meistens glücklich, wenn wir einfach mit den anderen spielen und zur Schule gehen konnten. Aber für meine Mutter, die bürgerlich erzogen worden war, bedeutete es jedesmal eine Qual, aufs Sozialamt zu gehen. Denn an diesem Gang klebten die Begriffe «Versagerin», «Schmarotzer», «Selbst schuld» und «faul».

Ich weiss, Sie wollen mir jetzt damit kommen, dass ja «die, die arbeiten wollen» nicht gemeint seien, sondern nur die Faulen. Dann zeigen Sie mir bitte die Gruppe der Faulen. Und ich spreche nicht von Einzelfällen. Von denen wird genug in reisserischen Schlagzeilen geredet. Nein, zeigen Sie mir die vielen Faulen, die momentan nur Sozialhilfe beziehen, weil sie nicht arbeiten wollen.

Wer in diesem Land keinen Job und kein Geld hat, trägt das Stigma des Versagers und kann wenig aus sich machen.

Wenn es nicht meine Mutter ist, wer ist es dann? Sind es die alten Männer, sind es junge Frauen, sind es vielleicht die Ausländer? Wer sind diese faulen Schmarotzer und Taugenichtse? Ich kenne selbst keine.

Ich kenne Menschen die eine schlechte Ausbildung oder einen schlechten Job haben und deshalb immer wieder den Job wechseln müssen oder wollen. Ich kenne erfolgreiche Menschen mit Geld und ich kenne sogar den einen oder anderen Lebenskünstler, der sich in diesem System nicht zurechtfindet. Ich kenne Menschen vieler Nationalitäten und gesellschaftlicher Schichten.

Sie haben alle etwas gemeinsam: Sie wollen etwas machen, sie wollen sich verwirklichen, sie wollen die Gesellschaft mitprägen, sie wollen arbeiten. Ja, einige sind abgelöscht und frustriert, aber das hat oft mit gesellschaftlicher Ächtung zu tun. Wer in diesem Land keinen Job und kein Geld hat, trägt das Stigma des Versagers und kann wenig bis nichts aus sich machen.

Wenn wir noch mehr Familien in die Armut drängen, züchten wir eine ganze Generation am Rande der Gesellschaft heran.

Wenn Sie diesem Land wirklich helfen wollen (auch beim Sparen), dann investieren Sie in eine starke Sozialhilfe! In eine starke Bildung. Denken sie auch über ein bedingungsloses Grundeinkommen nach. Dann könnte unser Land für die Zukunft gewappnet sein. Die Zukunft liegt in der Bildung. Im Wissen. In der Forschung. Und in einer gesunden Gesellschaft, in der auch schlechter Ausgebildete und Verdienende würdig am Alltag teilhaben dürfen.

Sparmassnahmen bei der Sozialhilfe führen zu Frustration und sehr viel Leid bei Tausenden von Kindern und Erwachsenen in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt.

Wenn wir noch mehr Familien in die Armut drängen, züchten wir eine ganze Generation am Rande der Gesellschaft heran. Und das wird uns spätestens in ein paar Jahren viel teurer zu stehen kommen als anständige Sozialversicherungen heute.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/wenn-es-im-reichen-basel-nur-fuer-billig-essen-reicht/

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