Nach dem Streit ist vor dem Streit

Die Einigung in der Flüchtlingsfrage beim EU-Sondergipfel wird den tiefen Riss zwischen Ost und West kaum kitten können. Im Gegenteil. Sie könnte Populisten an die Macht spülen.

Flüchtlinge sitzen am Freitag, dem 18. September 2015, am Bahnhof von Tovarnik. Ab dem 15. September 2015 erreichten tausende Flüchtlinge Kroatien auf ihrem Weg nach Zentraleuropa, die kroatische Polizei war damit völlig überfordert.

(Bild: Philipp Breu)

Während einige Politiker in der Verständigung auf die Verteilung von 120’000 Flüchtlingen in der EU nur einen ersten Schritt sehen, ist für andere damit das Ende der Fahnenstange erreicht. Der nächste Streit ist vorprogrammiert.

Ist nun alles wieder gut in Europa? Keineswegs. Der EU-Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage hat die Wogen zwischen Ost- und Westeuropa zwar vorerst geglättet. Doch der Sturm ist keineswegs schon vorübergezogen. Im Gegenteil: Der ganz grosse Krach steht noch bevor. Denn worin die einen erst den Anfang sehen, darin erkennen die anderen bereits das äusserste Ende der Fahnenstange.

Zum Beispiel Angela Merkel. Die Kanzlerin erklärte am Donnerstag im Bundestag in Berlin: «Die Verständigung der Innenminister (auf die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen in der gesamten EU) kann nur ein erster Schritt sein. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Europa ein ständiges Quotensystem braucht.» Gut 500 Kilometer weiter östlich, in Warschau, gab die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz zu Protokoll: «Einem Automatismus werde ich niemals zustimmen.»

Klagen über «EU-Diktat»

Doch damit nicht genug. Kopacz und die polnische Regierung gehörten bei den Beratungen in Brüssel zu den kompromissbereiten Osteuropäern. Ganz anders Robert Fico. Der linkspopulistische slowakische Premier hatte bereits im Vorfeld des Spitzentreffens von einem «EU-Diktat» gesprochen und angekündigt, «lieber in ein Strafverfahren» zu gehen als Quoten zu akzeptieren. Daran hält er auch nach dem wogenglättenden Gipfel vom Mittwoch fest, ebenso wie der Ungar Viktor Orban, der seine Baupläne für weitere Grenzzäune vorantreibt.

Mehr zu den Wahlen in Polen in unserem Hintergrund: Droht Europa ein neuer Problemstaat?

Selbst die liberale Polin Kopacz wird ihre vergleichsweise moderate Position kaum aufrechterhalten können. In Polen hat die heisse Phase des Wahlkampfes begonnen. In gut vier Wochen entscheiden die Bürger im grössten und mächtigsten osteuropäischen EU-Staat über eine mögliche Rückkehr des Rechtspopulisten Jaroslaw Kaczynski an die Macht. Seine Partei PIS führt in allen Umfragen klar. Und in der Flüchtlingsfrage ist Kaczynski so unmissverständlich wie Fico und Orban. Die Einführung eines Quotensystems «würde bedeuten, dass Polens Souveränität unter dem Stiefel der Kanzlerin zertreten wird», tönt er.

Innenpolitischer Druck in Polen

Kaczynski tritt zwar am 25. Oktober nicht persönlich gegen Kopacz an. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass er es ist, der in der PIS die Fäden zieht. Mit Blick auf den Beschluss der Innenminister, dem Polen zugestimmt hat, verkündete Kaczynskis Spitzenkandidatin Beata Szydlo am Donnerstag: «Das war ein grosser Fehler. Unsere Regierung hat unsere Freunde im Osten Europas verraten.» Zuvor hatte bereits der im Mai gewählte Präsident, der PIS-Politiker Andrzej Duda, Innenministerin Teresa Piotrowska einbestellt, weil er ein «Diktat aus Brüssel oder Berlin» witterte.

Sicher ist, dass sich eine mögliche PIS-Regierung in Warschau ab November in die Front der osteuropäischen «Flüchtlingsverweigerer» einreihen oder diese sogar anführen würde. Für den 11. November, den polnischen Unabhängigkeitstag, erwarten Beobachter den Aufmarsch von mehreren Zehntausend Ultranationalisten. Bereits für diesen Samstag hat das kürzlich gegründete Rechtsbündnis «Polen gegen Immigranten» zu einer Kundgebung im Herzen von Warschau aufgerufen.

Gerade vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, ob sich die beschlossene Verteilung von Flüchtlingen in der Realität durchsetzen lässt. Kommentatoren in osteuropäischen Medien fragen immer wieder: «Wie soll das in der Praxis funktionieren?» Der tschechische Premier Bohuslav Sobotka glaubt: «Gar nicht!» In Wirklichkeit gehe es um etwas anderes: «Der Beschluss der Innenminister war eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit in jenen Ländern, die zu Zielgebieten des aktuellen Flüchtlingsstroms geworden sind.»

Nächster Artikel