Sans-Papiers – unser Umgang mit «inexistenten Existenzen»

Kinder verpfeifen, kein Zugang zur Krankenkasse – ein Vorstoss im Nationalrat will Papierlose härter anpacken. Doch ein solches «Durchgreifen» ist weder sozial noch rechtsstaatlich sinnvoll.

Mit einer Besserstellung der Sans-Papiers könnte eine Zone der Rechtlosigkeit eingeschränkt werden.

Die meisten der darauf angesprochenen Bürger und Bürgerinnen wollen sich nicht auch noch darum kümmern müssen. Es ist nicht ihr Problem. Und doch ist es auch unser Problem. Illegale Daueraufenthalter haben Probleme und sie machen sich auch zu unserem Problem, um das wir uns kümmern sollten.

Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Privatpersonen und Privatorganisationen können den Sans-Papiers, um die es hier geht, beistehen, und Behörden können sich entweder restriktiver oder kulanter verhalten.

Pioniere in Basel

Es gibt Organisationen und Institutionen, die sich mit mehr oder weniger Erfolg seit Jahren um die Sans-Papiers kümmern. Die Anlaufstelle für Papierlose in Basel ist 2002 als erste Organisation dieser Art der Deutschschweiz gegründet und mit privaten und halböffentlichen Spendengeldern finanziert worden. Hauptzweck ist die beratende Begleitung.

2009 kam die Unterstützung durch das Hilfswerk Heks hinzu. Und die Christoph Merian Stiftung hat mittlerweile für die Zeit von 2009 bis 2020 aus verschiedenen Töpfen den stolzen Betrag von rund 2,5 Millionen Franken zur Verfügung gestellt. Anfänglich stiess dies bei der politischen Rechten auf Unverständnis und löste entsprechende Verärgerung aus.

Auf eidgenössischer Ebene muss sich das Bundesamt für Migration mit diesen Menschen befassen. Vor Kurzem hat sich die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) mit ihnen beschäftigt und mit 17:8 Stimmen auf Lösungen gedrängt, die das Leben der Sans-Papiers paradoxerweise prekärer machen und deren Gesundheit gefährden.

Die Motion hätte in dieser Session behandelt werden sollen, das Geschäft wird aber verschoben, weil die von Kurt Fluri (FDP) präsidierte Staatspolitische Kommission (SPK) ihren Mitberatungsanspruch angemeldet hat, wohl aus dem einfachen Grund, dass sie mit der angebahnten Stossrichtung nicht einverstanden ist.

Die Umsetzung der Motion würde die Gesundheitsversorgung der Sans-Papiers beeinträchtigen und den Schulbesuch der betroffenen Kinder infrage stellen.

Die Motion der SGK will gegen den Willen des Bundesrats diesen beauftragen, die Papierlosen von den Sozialversicherungen (namentlich AHV und Krankenversicherung) auszuschliessen. Weiter will sie Schulen verpflichten, Kinder nicht angemeldeter Eltern zu melden, und sie verlangt eine härtere Bestrafung für Arbeitgeber,  Arbeitsvermittler und Vermieter von Sans-Papiers.

Und schliesslich will die Kommission, was auch gut gemeint sein könnte, jedoch bereits eingeleitet worden ist, eine Konkretisierung der Härtefallkriterien für langjährig anwesende, «integrierte» (d.h. erwerbstätig, nicht sozialhilfebedürftig und nicht straffällige) Sans-Papiers, insbesondere für Familien mit Kindern in Ausbildung.

Die Umsetzung der Motion würde die Gesundheitsversorgung der Sans-Papiers beeinträchtigen und den Schulbesuch der betroffenen Kinder infrage stellen. Die Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) hat sich wiederholt dagegen ausgesprochen, dass Kinder mit irregulärem Aufenthaltsstatus von den Lehrkräften an die Migrationsämter gemeldet werden müssen

Ob es uns gefällt oder nicht, die Papierlosen sind ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft.

Diese scheinbar inexistenten Existenzen, wie viele sind es eigentlich? Klandestine sind naturgemäss schlecht zu quantifizieren. Schätzungen gehen für die ganze Schweiz von 60’000 bis 300’000 aus.

Ob es uns gefällt oder nicht, die Papierlosen sind ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Darum hat sich auch die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen vertieft mit ihnen auseinandergesetzt.

Die Illegalität führt nicht, wie einige vielleicht meinen, zwangsläufig in die Kriminalität. Die Papierlosen sind gezwungen, sich besonders korrekt zu verhalten: keine Schwarzfahrten im ÖV, selbst als Fussgänger keine Missachtung roter Ampeln.

Sie sind aber auch ausbeutbarer, weil sie sich nicht wehren und sich nicht an öffentliche Stellen wenden können, wenn Arbeitgeber den Lohn nicht bezahlen, wenn sie wuchernden Mietforderungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt sind.

Es besteht ein gesellschaftliches Interesse, dass Zonen der Rechtlosigkeit eingeschränkt werden.

Eine Besserstellung dieser Menschen liegt nicht nur in deren Interesse, sondern es besteht ein allgemeines gesellschaftliches Interesse, dass Zonen der Rechtlosigkeit eingeschränkt werden.

Papierlose sind in der Regel keine Menschen ohne Papiere, wie das bei Flüchtlingen oft der Fall ist, sondern Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis, zum Beispiel mit einem nach drei Monaten abgelaufenen Touristenvisum und einem schwarzen Aufenthalt seit Jahren. Diese Menschen bilden keine homogene Gruppe, sie verfügen über unterschiedliche Berufsqualifikationen, arbeiten aber mehrheitlich in niedrigqualifizierten Jobs.

Eine Verbesserung für die Gesellschaft

Der Staat kann das nicht einfach billigen oder mit freizügiger Anerkennung honorieren. Er kann aber auch nicht einfach die Augen verschliessen vor erdauerten Realitäten, und er kann in der Regularisierung des Aufenthalts auch für sich selber, für die Gesellschaft, eine Verbesserung sehen. Diese Sichtweise gewinnt inzwischen an Unterstützung.

In jüngster Zeit ist nämlich etwas Bewegung in dieses Dossier gekommen – das heisst: Die Frage ist in der klassischen Politik angekommen, mit einem Versuchsprojekt der Genfer Justiz und mit einem vom Basler Grossen Rat deutlich überwiesenen Vorstoss.

Thomas de Courten sorgt sich mehr um die Einhaltung der Vorschriften als um die Auswirkungen auf Betroffene.

Politik ist aber nie eine Einbahnstrasse. Jetzt muss vom Umgang mit den Papierlosen wegen der erwähnten Motion die Rede sein, die ohne jede Not die Schraube anziehen will und damit einiges Unheil anrichten würde.

Dahinter steckt vor allem die SVP und konkret der basellandschaftliche Nationalrat Thomas de Courten, der die SGK präsidiert. Er macht sich mehr Sorgen um die Einhaltung der Vorschriften und weniger um die konkreten Auswirkungen der angesteuerten Massnahmen auf die direkt betroffenen Menschen.

«Operation Papyrus» – keine «Bleiberechte für alle»

Es trifft sich darum gut und ist wohl kaum zufällig, dass der Genfer Sicherheitsdirektor (und gescheiterte FDP-Bundesratskandidat) Pierre Maudet vor wenigen Tagen mit einer Zwischenbilanz zu der «Operation Papyrus» an die Öffentlichkeit getreten ist. Im Rahmen dieses Projekts haben im Verlaufe eines Jahres rund 1100 Papierlose, darunter 400 Kinder, eine Aufenthaltsbewilligung erhalten.

Genf bietet nicht «Bleiberechte für alle», wie das auf gewissen Plakaten gefordert wird, und die «Operation Papyrus» bedeutet auch keine Kollektivregularisierung ganzer Gruppen, sondern eine Beurteilung von Einzelfällen, die folgende Bedingungen erfüllen müssen: seit zehn Jahren im Kanton lebend, für die Lebenskosten selber aufkommend, die Ortssprache sprechend und nicht straffällig geworden.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, stellt Genf in Bundesbern einen Antrag auf Regularisierung und achtet anschliessend darauf, dass bei Stellenwechseln nach den Regularisierungen nicht neue Irreguläre nachrutschen.

Es ist offensichtlich möglich, menschliche und verwaltungstechnische Anliegen zu kombinieren.

Warum ist diese Sanierung (Gesundung!) angegangen worden? Die «Operation Papyrus» kombiniert, was offensichtlich möglich ist, menschliche und verwaltungstechnische Anliegen. Die menschlichen Anliegen lassen sich davon leiten, dass Menschen nach Möglichkeit in einem regularisierten Status leben und, damit verbunden, einen gewissen Schutz vor Ausbeutung und bessere Lebensperspektiven haben sollten.

Die verwaltungstechnische Verbesserung der ordentlichen Registrierung besteht darin, dass die vormaligen Sans-Papiers Steuern bezahlen, AHV entrichten und einer Krankenkasse beitreten können, was dem Staat Kosten spart, während die Verwirklichung der SGK-Motion, wie der Bundesrat betont, dem Fiskus zusätzliche Belastungen bringen würde.

Das Genfer Projekt steht erst in der Halbzeit, es scheint sich aber zu bewähren. In Genf mag eine Sanierung besonders dringend erscheinen, weil in der Diplomatenstadt die Schwarzarbeit von nicht angemeldeten Menschen besonders hoch ist. Regierungsrat Maudet wehrt sich aber dagegen, dass man die Sans-Papiers, wie dies der Kanton Zürich kürzlich getan hat, als «Genfer Problem» abtut.

Verständnisvoll im Rahmen des Möglichen

Die föderale Schweiz befindet sich wieder einmal vor einem Test, der zeigt, wie gross die wechselseitige Lernbereitschaft unter den Kantonen ist. Einzelne können mit ihrem Reformwillen vorangehen und Erfahrungen sammeln. Andere können hinschauen und allenfalls folgen.

Letzterer Weg wird wahrscheinlich nun in Basel beschritten. Einmal mehr bestätigt sich damit, was jemand (wahrscheinlich der Wahlgenfer Literaturhistoriker Alfred Berchtold) einmal freudig konstatiert hat: Die Basler sind die «Romands de la Suisse alémanique».

Im Juni 2017 überwies der Basler Grosse Rat mit 63:21 Stimmen den Anzug des Historikers Leonhard Burckhardt (SP), der die Regierung auffordert, das Genfer Modell zu prüfen. Beim Basler Entscheid stimmten die üblichen rechtsbürgerlichen Kräfte gegen eine Prüfung der Genfer Lösung, allen voran natürlich die SVP. Eine besondere Pressewürdigung erhielt der LDP-Fraktionschef Michael Koechlin, weil er von der Mehrheitsmeinung seiner eigenen Leute abwich und sich in einem engagierten Plädoyer für den SP-Anzug einsetzte.

Die Exekutive kann sich zwei Jahre Zeit lassen. Was geschieht in der Zwischenzeit? Sicherheitsdirektor Baschi Dürr (FDP) hat versichert, bei Härtefallgesuchen eine im Rahmen des Möglichen verständnisvolle Haltung einzunehmen und hat dabei auf bereits vorgenommene Umwandlungsempfehlungen verwiesen.

Die Sache mit dem «sachlogischen Widerspruch»

Allerdings: Als Basel-Stadt letztes Jahr einige Härtefallgesuche bewilligte, blieb den Betroffenen der Jubel im Hals stecken, da sie – nun aus der Anonymität getreten – vom Basler Migrationsamt sogleich wegen illegalem Aufenthalt und Arbeiten ohne Bewilligung verzeigt wurden.

Eine absurde Situation, in der auch Justizdirektor Baschi Dürr einen «sachlogischen Widerspruch» erkannt hat. Er schlägt darum eine Regelung vor, die, analog zur Steueramnestie, eine Strafbefreiung im Fall der Anerkennung als Härtefall vorsieht. Dürr will den Vorschlag beim Bund einreichen.

Diese Basler Episode zeigt: Wir brauchen neue Regelungen für Sans-Papiers – im Interesse der Betroffenen und auch im Interesse unseres Rechtsstaates.

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